Beschreibung
Eine kleine Geschichte über Musik und Sehnsucht.
Gebrochene Stille
Gwendolyn stand in ihrem leeren Zimmer, und sah sich um. Nichts war geblieben, fast nichts. Nur eine Matratze in der einen Ecke, und ihr Klavier. Es stand neben dem Fenster an der Wand und die letzten Sonnenstrahlen brachen sich auf dem schwarzen Lack. Eine eigenartige Stille lag in der Luft, und Gwendolyn wagte kaum sich zu bewegen, aus Angst, die Atmosphäre zu zerstören. Minutenlang rührte sie sich nicht von der Stelle und beobachtete einfach nur das Sonnenlicht auf dem Klavier. Es glänzte und schimmerte, und warf helle Lichtflecken an die kahlen Wände.
Ihr Zimmertür ging auf, und Gwendolyn zuckte zusammen.
Ihre Mutter kam herein.
''Gwen, willst du mit uns Essen? Oder lieber nicht?''
Sie schüttelte den Kopf.
''Nein, ich hab vorhin schon was gegessen...''
Ihre Stimme hallte unwirklich laut in dem leeren Raum.
''Na dann..''
Ihre Mutter ging wieder aus dem Zimmer und schloss die Tür.
Einen Moment lang verharrte Gwendolyn starr in ihrer Position, dann drehte sie sich um und ging zum Klavier. Sie rückte den Hocker zurecht, die Beine scharrten laut auf dem Boden. Sie setzte sich. Schlug den Deckel auf. Weiße Tasten, schwarze Tasten.
Sie liebte diesen Moment bevor der erste Ton erklang. Die ungespielten Melodien die vor ihr lagen, und darauf warteten zu erklingen. Die lockenden Tasten vor ihr, das magische Kribbeln in ihren Fingern. Sie versuchte den Moment so lange wie möglich zu halten, zögerte den ersten Ton immer wieder hinaus; bis sie es nicht mehr aushielt.
Ihr linker Zeigefinger sank als erster auf eine der Tasten, ein Ton füllte plötzlich die Luft, gefolgt von vielen anderen. Ein zarter Melodiebogen begann sich durch den Raum zu spannen, untermauert von zögerlichen Akkorden. Die Melodie wuchs an, wurde immer stärker und kräftiger, die Akkorde spalteten sich auf in eine hüpfende Kette von Tönen, die wie ein Bach dahinplätscherten. Nach einer Weile wurden sie unterbrochen von einer Pause, in der nur noch der Nachhall der Töne zu hören war. Doch die Melodie brach in die Stille, so schnell wie sie verstummt war, und auch die Unterstimme folgte ihr, dieses mal jedoch langsamer und ruhiger. Sie berührten sich und verloren sich wieder, sie tanzten miteinander und ließen von einander ab, sie redeten und sie schwiegen.
Gwendolyn saß da, ihr Gesicht war regungslos.
Nur ihre Hände flogen über die Tasten, hielten inne und wanderten weiter, blieben immer in Bewegung und erfüllten ihr altes Zimmer mit Klängen und Melodien. Mal traurig, mal hoffnungsvoll, mal melancholisch, mal glücklich. Erinnerungen schienen darin gefangen, wurden freigelassen und schwebten um Gwendolyn herum. Sie schloss die Augen und sah sich selbst, wie sie die ersten Töne auf ihrem neuen Klavier spielte. Wie sie abends im Bett lag und nicht schlafen konnte, weil ihr eine Melodie im Kopf herum spukte. Wie sie am Fenster saß und in Gedanken versunken hinaus sah. Und immer wieder, sie am Klavier. Mal traurig, mal wütend, mal glücklich.
Sie wollte nicht gehen.
Sie wollte bleiben. Dort, wo sie aufgewachsen war, wo sie sie sich zuhause fühlte.
Doch sie hatte keine Wahl. Die Entscheidung lag nicht in ihrer Hand.
Die Melodie wurde wütend, die Unterstimme fand sich zu hämmernden Akkorden zusammen. Dissonanzen fügten sich ein, die Stimmen stritten und kämpften.
Dann, ganz plötzlich, stoppten Gwendolyns Hände. Sie hielten einfach inne, mitten in der Luft und fanden nicht zurück auf ihre Tasten. Der Zauber war gebrochen, es war vorbei.
Vielleicht, dachte Gwendolyn, war das das letzte mal, dass ich hier gespielt habe.
Ihre Hände strichen ein letztes mal über die vertrauten Tasten, berührten jede einzelne von ihnen liebevoll und lösten sich schließlich.
Ein letzter Blick streifte über Schwarz und Weiß. Ein Abschiedsblick.
Dann schloss sie den Deckel, und stand auf .