Das einzige Kapitel
Der Froschkönig
Früh am morgen, leicht verstrahlter Zustand, den Blick eines halb geöffneten Auges auf das schnarchende Exemplar neben mir gerichtet, schoss er mir durch den Kopf, dieser vermessene Gedanke: „Kann sich ein Märchenprinz, der sich als Mogelpackung entpuppt hat, nicht einfach in einen süßen kleinen Frosch verwandeln?“
Erschöpft verdrehte sich das Auge und schloss sich erneut.
Dabei fing unsere Story eigentlich sehr romantisch an. Wie in einem Klischee-Frauenroman. Ein typischer Samstag
Vormittag in meiner kleinen Welt: Missmutig verstimmt, signalrot- leuchtender Menstruations-Pickel auf der Wange, Jogginghosen-Modus, leicht fettig Haar huschelte ich durch den Supermarkt meines Vertrauens, um die dort erhältlichen Lebensmittel meines Vertrauens käuflich zu erwerben.
Amor musste sich an der völlig überfüllten Kasse sehr gelangweilt haben, als er beschloss, seinen Pfeil abzuschießen. Und er traf. Eine 1,5 L Orangensaftpackung, die schmerzhaft auf meinem fettigen Haar landete. Offiziell war sie einem äußerst ansehnlichen männlichen Prachtexemplar aus der Hand gefallen. Zweierlei Aspekte sorgten für
Verwirrung meinerseits: Der Schmerz der wachsenden Beule an meinem Kopf und dieses unglaublich charmante Lächeln des Übeltäters. Der Samstag und die darauffolgenden Monate waren gerettet. Diese Begegnung transportierte mich von der leicht autistisch anmutenden Eintönigkeit meiner gut gezüchteten Single-Depression direkt in den rosa-wolkig wichen Ort der totalen Verblödung: Ich war verliebt.
Anfangs war es perfekt. Guter Sex, viel Spaß tiefsinnige Gespräche, Herz was willst du mehr.
Doch er kiffte. Er kiffte viel. So viel. Zu viel. Mehr als ich.
Und an diesem Punkt, ja genau hier
beginnt die kleine Geschichte, die eigentlich nur ein kleiner verkateter Gedanke zwischen Aufwachen und Delirium war.
Unbestritten hatte er nur eine große Liebe, mit der er all seine Geheimnisse teilte: Marihuana. Gras und all die damit verbundenen Rituale bestimmten seinen Tagesablauf.
Dass sein immer währendes Lächeln und dieser verträumte Blick überwiegend damit zu tun hatte, bemerkt ich an dem Tag, an dem meine Wohnung abgebrannt war. Schweigend und lächelnd und rauchend damit beschäftigt, die Asche seiner Kippe auf den rußverschmierten Boden zu schnicken, entdeckte ich mit
leichtem Widerwillen plötzlich ein Phänomen: Er hatte diesen Muskel nicht mehr unter Kontrolle, er konnte nicht mehr aufhören zu lächeln. War ich genervt!
Anfangs arbeitete er als Koch in einem französischen Gourmet-Restaurant. Den gab er alsbald auf. Zunächst war ich mir sicher, dass er das wegen der Kifferei nicht mehr auf die Reihe bekam, doch heute denke ich, dass er es einfach nicht mehr aushielt, seine Artgenossen in Form von kleinen Froschschenkelchen zu kredenzen und sich des Massenmordes schuldig zu fühlen. Denn – tatsächlich – er verwandelte sich. Immer mehr. Fragen konnte ich nicht, er hatte noch nie viel
gesprochen und ich stellte erst nach einigen Wochen fest, dass er stumm geworden war.
Beim Essen nämlich, beim Verzehr eines Salates, in welchem er eine Schnecke entdeckte, freute er sich so sehr, dass er seine Begeisterung mit einem lautstarken „Bööp“ kundtat und das Insekt zufrieden zermalmte. Meine Reaktion? Ganz ehrlich? Ich fand es sehr sehr süß und beließ es dabei.
Unter dem Deckmäntelchen des Rauchkonsums quollen seine Augen mehr und mehr hervor. Durch das sonnige Dauerlächeln war sein Mund einem langen Strich gewichen und als er tief und fest schlief, entdeckte ich kleine
Schwimmhäutchen zwischen seinen Zehen.
Ich war aufgeregt, fast erregt. Schon lange hatte er nicht mehr solch liebevolle Gefühle in mir geweckt.
An einem sonnigen Sonntagmorgen dann weckte mich ein vorwitziger Sonnenstrahl. Ich schlug die Augen auf und da sah ich ihn, am Fenster, in der Hocke, die Beine rechts und links vom Körper ausgestellt, rollte seine plötzlich sehr lange Zunge aus und verspeiste eine Fliege. Was soll ich sagen, mein Herz pochte, mein Bauch kribbelte wie verrückt beim Anblick dieses Prachtexemplares. Er war ein Frosch!
Behutsam packte ich ihn in eine kleine
Kiste und fuhr los zum See. Dort setzte ich ihn ab.
Seitdem fahre ich in regelmäßigen Abständen raus zum See, um ihn zu besuchen. Und manchmal, da rührt er mich so sehr, ich kann dann nicht anders, als ihn aufzuheben und ihm einen Kuss auf die kleine, klitschige Stirn zu geben.
Er kifft nicht mehr - und wir verstehen uns ohne Worte.
Mein Froschkönig und Ich.