Vati hat noch in der Tschechei eine Lehre als Elektriker absolviert. Er ist noch mit Steigeisen auf Telefonmaste gestiegen, um Reparaturen auszuführen. Einmal, es war im Winter und der Mast war vereist, rutschte er mit Tempo herab, weil es so schön glatt war. Das sah seine Großmutter, der das Herz vor Schreck bald stehen blieb, aber Vati hat nur gelacht.
Der Zweite Weltkrieg brachte für alle eine jähe Änderung. Als 16-Jähriger wurde Vati, wie so viele andere, eingezogen. Er war in Brüx, als der Angriff auf Dresden stattfand. Er hat es sehen können und oft davon gesprochen, obwohl er eher ein schweigsamer Mensch ist. Es muß furchtbar gewesen sein. Asche und sogar verkohlte Geldscheine kamen bis zu ihnen geflogen. Oma schickte ihm einmal ein Päckchen. Darin war ein Napfkuchen. Den hat er mit allen Kameraden auf der Stube geteilt. Und jeder bekam ein Stück ab. In Kamenz war es Vati, der noch rechtzeitig eine Mine auf ihrem Weg entdeckte – alle blieben am Leben. Auch der junge russische Soldat in Lommatsch. Vati sagte nur: wir haben uns beide angesehen und keiner hat auf den anderen geschossen. Dann setzte sich Vati von der Truppe ab und schlug sich zu Fuß nach Hause durch. Das war nicht ungefährlich, denn der Krieg war noch nicht zu ende. In Teplic-Schönau, am Schloß, sah er eine Menschenmenge. Russen verteilten Wein. Auch Vati wollte eine Flasche mit heim nehmen. Eine Kostbarkeit. Als er sich nach vorn drängte, traf er zwei Frauen, mit deren Söhnen oder Männern er in einer Einheit war. Sie hatten ihm aufgetragen, ihre Familien zu grüßen und zu sagen, dass sie noch gesund und am Leben waren. Natürlich freuten sich die beiden Frauen sehr darüber. Und als Vati dann vorn bei den Russen war, erkannten sie in ihm einen deutschen Soldaten ohne Uniform und wollten auf ihn losgehen. Vati verschwand – ohne Weinflasche. Aber er kam gesund und wohlbehalten zu Hause an. Nicht lange darauf hieß es – verlaßt eure Häuser, nehmt nur das Nötigste mit. Oma lief, so berichtete es Vati, vor Aufregung im Unterrock im Haus herum. Sie war schon immer eine reinliche, nahezu penible Frau. Alles wurde abgedeckt, damit es nicht einstaubt – bis zur Wiederkehr. Dann ging es auf eine Reise mit unbekanntem Ziel. Vati ahnte, dass es für immer war, und er sollte Recht behalten – aber das wollte damals keiner wissen.
Opa kam nach Sibirien in russische Gefangenschaft. Bei dieser Gelegenheit hat er die Basilius-Kathedrale in Moskau gesehen – aus dem Transportfahrzeug heraus. Er sprach nie über die Zeit im Lager. Noch nicht einmal, wenn er ein wenig über den Durst getrunken hatte. Und das tat er gern, denn er war ein lebenslustiger Mann, der gern mit den Kollegen nach Feierabend noch ein Bier trinken ging. Am liebsten in die „Granate“, die Kegelbahn von Finsterwalde, oder zu Radigks – heute das Szenelokal am Platze. Jeder Finsterwalder kennt es. Er war übrigens ein vorzüglicher Tänzer, wußte Oma zu berichten. Und auf unserer Hochzeit hat er , trotz seines schweren Asthmas, mit mir Walzer getanzt.
Das hat mich richtig stolz gemacht, denn er war zu seiner Zeit der ungekrönte
Walzerkönig auf dem Tanzboden. Vielleicht habe ich meine Liebe gerade zu diesem Tanz sogar von ihm geerbt?
Das Einzige was mir Opa einmal über seine Zeit in Rußland verriet war, dass er Glück hatte, denn er arbeitete in der Küche und sie hielten sich über Wasser, indem sie die Kartoffelschalen dick schnitten, denn die durften sie selbst essen.
Jedenfalls hat Oma ihn über das „Rote Kreuz“ gesucht und er kam auch wirklich aus Gefangenschaft zurück, weil er Skorbut hatte.
Eines Abends stand in Massen, einem Dorf bei Finsterwalde, wo Vati und Oma Quartier erhalten hatten, eine bedauernswerte Gestalt auf dem Hof. Sie hatte einen langen Mantel an, war völlig ausgemergelt und schwach, und Vati erkannte mit Schrecken meinen Opa. Es tat ihm im Herzen weh. Aber nun waren sie wieder zusammen und Oma, mit ihrer sehr bestimmenden Art, hat ihn buchstäblich aufgepäpelt. Aus heutiger Sicht weiß ich, dass er Zeit seines Lebens krank war. Aber darüber gesprochen hat er nie. Er ging auch nie zum Arzt und bekam geradezu Panik, wenn einer das Wort Zahnarzt erwähnte.
Bei Muttis Familie ist es ganz anders. Mutti hatte noch eine Schwester und einen Bruder – beide älter als sie. Auch Mutti kommt aus Tschechien. Ihren Vater kannte sie nicht. Die Mutter gab die Kinder in fremde Hände. Mutti kam in ein katholisches Heim für Waisen und behinderte Kinder. Aus ihren Erzählungen weiß ich, dass sie sich dort sehr wohl gefühlt hat und sie hat gern von dieser Zeit erzählt. Die Schwestern im Heim hatten noch Flügelhauben auf, wie zu Zeiten von Dr. Semmelweis. Sie nannten Mutti „Diddi“ und beauftragten sie damit, die etwas kleineren und z.T. behinderten Kinder zur Schule zu bringen. Das machte Mutti gern. Hier konnte sie bestimmen – und die Kinder folgten ihr. Sie wußten auch, dass Mutti sich für sie einsetzte, falls es mal zu Streitigkeiten kam. Besonders geschwärmt hat Mutti von der Weihnachtszeit im Heim. Und auch davon, dass sie heimlich Hostien naschte, wenn sie in der Kirche helfen durften. Als es dann möglich war, dies alles wieder zu besuchen, was war Mutti enttäuscht – sie hatte das Heim viel größer in Erinnerung – aber wiedererkannt hat sie Vieles.
Eines Tages wurde sie von einer Frau, die genau wie sie, Scholz hieß, aus dem Heim geholt. Tante Mariechen ist wirklich Muttis Tante. Zumindest soll sie den Bruder von Muttis Vater geheiratet haben. Mutti wurde bei ihr aufgenommen. Tante Mariechen hat selbst eine Tochter. Fortan paßte Mutti auf sie auf. Diese Zeit war für Mutti nicht so schön. Sie hat Vati oft von Repressalien besonders Der Mutter von Tante Mariechen erzählt. Sie mochte Mutti nicht, und hat dies das junge Mädchen immer wieder spüren lassen. Hunger – jedenfalls wußte Mutti damals schon genau, was das ist.
Sie hatte einen Großvater – er wurde im Ort „Pächter-Scholz“ genannt. Dieser Großvater fuhr mit dem Pferdefuhrwerk und einem Pferd, der Liese, Schrott.
Er rauchte immer Kamillenblüten, die er selbst sammelte und trocknete. Und zu Weihnachten hatte er immer blühende Kirschzweige in der Stube. Mutti schien sich gern an ihn zu erinnern. Jedenfalls war Mutti mit Leib und Seele BDN-Mädchen. Im Landdienst arbeitete sie als Dienstmagd bei einem tschechischen Bauern. Sie half den Kriegsgefangenen, die ebenfalls auf dem Hof waren, auf die ihr mögliche Weise und gab ihnen ab und zu Essen. Dies rettete ihr das Leben. Denn als der Hof befreit wurde, war sie die einzige Deutsche, der nichts passierte. Dafür sorgten die Gefangenen. Sie ging zurück zu Tante Mariechen und wurde mit ihr und deren Angehörigen, alles Frauen, deren Männer im Krieg geblieben waren, umgesiedelt. Auch sie kamen nach Finsterwalde.
Und hier nun lernten sich Mutti und Vati kennen. Opa hat einmal zu Vati gesagt : Wenn eine Frau von dir ein Kind bekommt, laß sie nicht sitzen. Und so heirateten die beiden 1950 und 1951 wurde ich geboren.
Eigentlich hätte ich ja noch zwei Brüder. Einen jüngeren und einen älteren. Doch das Schicksal wollte es anders. Ich bin zwar ein Sieben-Monats-Kind
und wog nur drei Pfund bei der Geburt, aber es gibt mich noch heute. Auch, wenn mein „Brutkasten“ ein Wäschekorb auf einem Kachelofen war, rundum mit Watte ausgestopft. Mehr Technik, um „Frühchen“ am Leben zu halten, gab es noch nicht. Der Arzt sagte damals zu Mutti: Frau Porsche, rechnen sie nicht damit, dass das Kind durchkommt, es ist zu schwach. Von wegen !