Biografien & Erinnerungen
Der Engel des Herrn

Wir schreiben das Jahr 1968. Ich sitze in der Schule. In meiner Klasse sind 26 Buben und 11 Mädchen. Aufgeteilt in drei Reihen, links die Mädchen, in der Mitte und rechts die Buben. Mein Platz ist vorne rechts in der zweiten Bank. Unsere Lehrerin – eine strenge Klosterfrau – hatte mich an diesen Platz versetzt. Früher saß ich ganz hinten in der mittleren Reihe, ich würde zuviel schwatzen war die Begründung. So sitze ich nun schon seit einigen Wochen neben Philipp, einem sehr ruhigen, braven Jungen. Zugegeben, neben Otto war es viel unterhaltsamer…

Die Zeit will nicht verstreichen, die Minuten sind so lange. Schönschreiben ist angesagt. Vor mir steht das Tintenfässchen, vorsichtig tauche ich die Feder ein und ziehe sie langsam wieder heraus – nur ja keinen Klecks aufs Papier bringen, und nicht zu fest drücken, damit der Federkopf nicht bricht, das sind meine größten Sorgen. Eigentlich liebe ich das Schreiben. Am liebsten vertiefe ich mich in Fantasieaufsätzen, dann läuft die Feder wie von selbst. Aber dieses Schönschreiben ist nicht so ganz mein Ding. Man kann damit auch nichts gewinnen, nur verlieren, wenn es schmiert…

So warte ich sehnsüchtig auf die willkommene kleine Pause, die uns jeden Tag um Punkt 11:00 Uhr gegönnt ist. „Jetzt muss doch endlich die Turmuhr schlagen!“ denke ich, während dem ich eine ganze Reihe mehr oder weniger schöner Buchstaben hinkritzle…

Bim, bam, bum…bim, bam, bum… bim, bam, bum… bim, bam, bum… die Kirchenuhr schlägt zur vollen Stunde. Welch eine Erlösung! Gleichzeitig zu den nun folgenden 11 dumpfen Schlägen der großen Glocke erheben sich alle Schüler. Nun  läutet es während 5 Minuten und wir beginnen zusammen mit Schwester Ehrenfieda zu beten:

"Der Engel des Herrn brachte Maria die Botschaft,
und sie empfing vom Heiligen Geiste.
Gegrüßet seist du, Maria...

Maria sprach: Siehe, ich bin eine Magd des Herrn,
mir geschehe nach Deinem Worte.
Gegrüßet seist du, Maria...

Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt.

(Das ist der Moment, den ich am meisten liebe, denn hier machen wir immer alle gemeinsam eine Kniebeuge und das macht echt Spaß, als Abwechslung zum trockenen Schulunterricht.)
Gegrüßet seist du, Maria...

Bitte für uns, o heilige Gottesgebärerin!
Auf das wir würdig werden der Verheißungen Christi.

Lasset uns beten! Wir bitten dich, o Herr, gieße deine Gnade ein in unsere Herzen, auf daß wir, die durch die Botschaft des Engels die Menschwerdung Christi, deines Sohnes, erkannt haben, durch sein Leiden und Kreuz zur Herrlichkeit der Auferstehung gelangen. Durch Christus, unseren Herrn. Amen.

Leider ist das Gebet schon zu Ende. Wir setzten uns wieder und schreiben gestärkt  weiter.
Bald aber wird schon das nächste Highlight folgen, denn um 11:30 Uhr ist die Schule aus!