Alles war schief gegangen. Vater verstorben – hatte sich totgesoffen. Mutter in eine geschlossene Anstalt eingeliefert – war verrückt geworden, als ihr Mann sie des Alkohols wegen verlassen hatte.
Alles war schief gegangen und eigentlich hatte das eigene Leben auch nicht viel mehr Sinn gehabt. Der Job war es nicht wert gewesen, aufzustehen. Freunde, die gab es grundsätzlich nicht. Man hängte sich an Arbeitskollegen dran oder versuchte den Kontakt zu Mitschülern von früher zu halten, die einen dann doch mit banalen Ausreden vertrösteten.
Alles hatte seinen Glanz verloren. Die Sonne war nicht hell genug. Die Regenwolken hingen schwer. Und immer, wenn ein kleiner Funken entstand, wurde er im nächsten Augenblick ausgelöscht und hinterließ nichts als Leere.
Doch dann war da dieser eine Hoffnungsschimmer. Dieser Schimmer, der glühte und nicht sofort erlosch.
Er. Jan Rädler.
Er war vor einigen Wochen in die Wohnung gegenüber gezogen. Er hatte strahlend blaue Augen. Immer, wenn er durch den Flur lief, bepackt mit unzähligen Utensilien an Fastfood, Kino und – Politikmagazinen und leeren Pappkaffeebechern, schnellte ich hinaus aus meiner Wohnung, um einen Blick von ihm zu erhaschen. Oft tat ich dabei so, als hätte ich etwas in meinem Schuhschrank vergessen, staubte den Fußabtreter ab oder rückte das „Hier wohnt Laura Bergmann!“ – Schild zurecht. In der ersten Zeit hatte er mir bloß zugenickt und ein kleines Lächeln geschenkt. Irgendwann jedoch, als ich gedankenverloren seinen heruntergeplumsten Einkauf rettete, während er die Wohnungstür aufschloss, hatte er seine Zähne blitzen lassen – was für ein Lächeln! – und hatte mir ein ehrliches „Dank dir!“ entgegengehaucht, während er mir mit seiner starken und doch zarten Hand vorsichtig über den Arm strich.
In den kommenden Wochen hatte ich mir gemerkt, wann er für gewöhnlich aus dem Haus ging und wann er zurückkehrte. Diese Recherchen waren jedoch nicht all zu einfach und zufriedenstellend, da er nicht mit geregelten Zeiten Vorlieb nahm und sich anscheinend lieber flexibel durchs Leben bewegte. Aber jene festen Zeiten, wie z.B. seine Arbeitszeiten, waren mir nach wenigen Tagen bereits fest im Gedächtnis geblieben.
Je häufiger wir uns „zufällig“ im Flur trafen, so mehr hatte ich das Gefühl, er würde meine Anwesenheit schätzen und genießen. Er mochte mich. Ja, wirklich. Das konnte ich spüren. Er war nicht wie diese Nora auf der Arbeit, die damit protzte, dass sie jegliches Wissen über Medikamentenzusammenstellungen in sich aufgenommen hatte, und mir und den anderen Angestellten dies unter die Nase rieb. Er war anders. Freundlich, höflich und nicht auf seinen eigenen Vorteil aus. Er wollte niemandem gefallen, das war das Besondere an ihm. Er verstellte sich nicht mir gegenüber. Er war einfach wie er war. Und zeigte mir, wie er war.
Wenn die Hektik seiner Arbeit ihn dazu zwang, höflich und freundlich zu sein, war das etwas Anderes, als wenn er zu mir so war. Er wollte es. Er wollte einfach nett zu mir sein und das bestärkte mich darin, dass er vielleicht dieser eine Mensch war. Dieser eine Mensch, nach dem ich so lange gesucht hatte.
Ich hatte es daran gemerkt, dass ich jedes Mal Kribbeln im Bauch bekam, wenn ich seine schnellen Schritte schon im Treppenhaus vernahm. Ich kannte seine Bewegungen, seinen Geruch. Ich kannte ihn, wenn er schick ausging und ich kannte ihn, wenn er im Pyjama verschlafen die Zeitung einholte.
Ich kannte ihn. Und er wollte auch, dass ich dies tat. Nach einer Weile des Nickens und Lächelns, wurde seichter Smalltalk unter Nachbarn mehr. Und das, ohne dass ich dies eingefordert hätte! Er erzählte mir von seiner Arbeit, seiner Kaffeesucht und seiner Liebe zu Jazzmusik. Jazz! Welcher Mann hörte heutzutage schon noch Jazz? Richtig guten, alten Jazz. Die Musik, die ich jahrelang gehört hatte, um mich von den ständigen Alpträumen vom Schlaf und von der Realität zu erholen.
Eines Tages hatte ich mir etwas Mut angetrunken und ihn zu mir eingeladen. Ich hatte die Wohnung tiptop aufgeräumt und dann wieder etwas mit Chaos versehen, weil er mir in einem kleinen Flurplausch erzählt hatte, dass er totale Ordnung verabscheute.
Er setzte sich auf meinen tiefroten Sessel, aß ein Stück Himbeertorte und erzählte, wie sehr er sich über die Einladung gefreut hatte. Dass mein freudiges Strahlen im Gesicht selbst auf der Arbeit noch anhielt, kann man sich wohl denken.
Als er nach einer Stunde und vierzig Minuten wieder los musste, verspürte ich ein tiefes Loch in meinem Innern. Jede Sekunde, jede Nanosekunde, die er in meiner Nähe war, hatte mir ein Hochgefühl gegeben, das bis zur Ekstase getrieben wurde, als er mich mit einem Küsschen auf die Wange verabschiedete. Ich lag geschlagene drei Stunden nach seinem Verschwinden in meinem Sessel und hielt beide Hände an meine von ihm geküsste Wange.
Als er einmal krank wurde, übernahm ich den Einkauf für ihn und brachte ihm weiße Schokolade mit, von der er mir einmal vorgeschwärmt hatte. Ich bereitete ihm eine Suppe zu und brachte sie ihm, als er mit triefender Nase und geschwollenen Augen und Lymphknoten die Tür öffnete. Er sah selbst im kranken Zustand einfach fantastisch aus.
Nach dieser erfolgreichen Geste, stand mir seine Tür fast wöchentlich offen. Er lud mich ein, um mit ihm Kaffee zu trinken. Obgleich ich Kaffee verabscheute, ich trank ihn, um in seiner Nähe bleiben zu können und um die Zeit zu verlängern, die ich in diesem Hochgefühl sein konnte.
Immer bevor ich einschlief, hörte ich den einen Song, den ich mir aus dem Internet geladen hatte, den er mir als seinen Lieblingssong präsentiert hatte. Ich beschloss, ihn zu unserem Song werden zu lassen.
Und ehe ich mich versah, stand er eines Tages vor meiner Tür und wedelte mit seinem Wohnungsschlüssel vor mir herum. Glücklicher war ich nie gewesen! Er gewährte mir freien Zutritt zu seinem privaten Reich, vertraute mir so sehr und gab mir das Gefühl, in seinem Leben einen wichtigen Platz gefunden zu haben. Jener Platz in seinem Leben und in seinem Herzen, welchen er sich schon längst in meinem ergattert hatte.
Einige Zeit lang dachte ich darüber nach, wie es wohl gewesen wäre, mit ihm zusammen zu ziehen. Aber über diese Gedanken wollte ich mit ihm noch nicht sofort sprechen.
Nachdem ich in meinem Kalender den bunt bemalten und mit Herzchen verzierten Zeitplan heraus gezückt hatte, in welchem stand, wann Jan diesen Freitag von der Arbeit zurückkehrte (welche Zeit ich natürlich schon längst verinnerlicht hatte), fiel mir sein Wohnungsschlüssel aus diesem in die Hand und ich beschloss, meiner unheimlichen Neugierde und der gewaltigen Sehnsucht nachzugeben. Ich schlich mich auf den Flur hinüber zu seiner Wohnung. Es war vier Monate her, dass er mir dieses Heiligtum anvertraut hatte. Vielleicht konnte ich ihm sagen, ich hätte mich um seine Blumen kümmern wollen, wenn er doch plötzlich früher auftauchte. Vielleicht würde er dann die Tür hinter sich schließen, mir um den Hals fallen und sagen, dass er genauso sehr von diesem Moment geträumt hatte, wie ich und, dass er froh war, diesen vorgeschobenen Grund von mir ignorieren zu können, um mit mir endlich und für immer zusammen sein zu können. Dann hätte er mich leidenschaftlich geküsst, wir hätten uns gegenseitig ausgezogen und uns nie wieder los gelassen.
Doch alles kam anders als gedacht. Ich kannte Jan jetzt schon über ein Jahr und ich kannte ihn wirklich gut. Ich kannte seinen Musikgeschmack in und auswendig, wusste, welche Filme ihm gefielen und von welchen Ständen er Kaffee am liebsten trank. Ich meinte ihn bereits besser zu kennen, als er sich selbst.
Es machte ein erregendes Geräusch, als ich den Schlüssel in das Schlüsselloch steckte und umdrehte. Langsam öffnete ich die Tür und trat ein. Nahm den Wohnungsflur wahr, ließ Wärme und Geruch auf mich wirken. Alles war wie er. Alles passte so zu ihm… und auch zu mir. Ich streifte sorgfältig meine Hausschuhe ab und schloss die Tür hinter mir. Ich tanzte durch die Wohnung, berührte seine Kleidung im Kleiderschrank, machte mir Kaffee, durchforstete seinen Laptop und tat zum Abschluss des Rituals, wovon ich schon seit langem geträumt hatte: Ich schlich unter seine Bettdecke seines Betts und schlief mit einem glücklichen Seufzer und dem breitesten Lächeln der Welt ein.
Als das Licht anging und ein lautes „Oh Gott!“ mich grausam aus meinem lieblichen Traum riss, schob ich hektisch die Bettdecke beiseite und sah Jan direkt vor mir stehen, er hatte sein hellblaues Hemd an, das so gut zu seinen Augen passte.
„Was zur Hölle tust du denn hier?!“, fragte er panisch und ließ seine Jacke auf dem Boden fallen, während ich eilig aus dem Bett hastete.
„Ich, ich…“, stotterte ich. Er sah mir misstrauisch entgegen und ich verstand nicht, warum er noch immer da stand und sich wunderte, anstatt einfach zu mir ins Bett zu krabbeln.
„Ich… bin wohl eingeschlafen. Tut mir Leid! Ich hab‘ mich um deine Blumen gekümmert und hab‘ dir Kaffee gemacht…!“, sagte ich und lächelte hemmungslos, weil seine Haare so zerzaust waren, dass sie halb in seinem Gesicht hingen und ihn noch umwerfender aussehen ließen.
Dieses Lächeln vermittelte ihm anscheinend, dass alles okay war, denn er seufzte kurz auf und auf seinem Gesicht zierte nun auch ein kurzes Lächeln auf, aber seine Augenbrauen zitterten seltsam dabei.
„Okay, schon gut, aber nicht, dass du mir nochmal bei mir einschläfst.“, sagte er und sein Lächeln wirkte einen Moment noch nach, danach kehrte er mir den Rücken zu und ging in Richtung Küche.
Ich lächelte benommen weiter und bemerkte erst nach einigen Sekunden, dass ich noch immer auf seinem Bett saß, schnellte davon schließlich hoch, verabschiedete mich – natürlich mit einem Küsschen – und ging eilends zur Tür hinaus.
Er ist also ein Schüchterner, sagte ich mir.
Tagelang nach diesem Erlebnis hatte ich ihn nicht mehr gesehen, seine Arbeitszeiten und anderen festen Termine hatten sich wie durch Zauberhand verändert. Veränderung, das war doch etwas Gutes. Wahrscheinlich dachte er darüber nach, wie er es mir sagen wollte. Wie er mir einen Antrag machen wollte. Ob er eher ein romantischer Typ war? Natürlich war er das. Ich wusste das. Aber es machte Spaß, sich auszumalen, wie er mir das nächste Mal begegnen würde.
Und schließlich war es soweit. Wir trafen uns nachts auf dem Flur. Ich putzte meine Schuhe und sah, wie er sich müde schleppend die Treppen hinauf begab. Freudig trat ich ihm entgegen und küsste ihn auf die Wange, als seine Arme mich sanft zurückschoben.
„Dir ist doch klar, dass wir bloß Freunde sind!?“
Alles zerschmetterte in diesem Moment. Mir fiel mein Lächeln aus dem Gesicht, als ich seinen kühlen Blick sah.
Freunde? Wir waren doch keine Freunde! Was redete er bloß?
„W-was?“, stotterte ich hilflos.
„Naja, du weißt schon. Wenn ich dich zum Kaffee einlade, dann meine ich das freundschaftlich.“, sagte er und meine Beine fühlten sich dabei taub an. So, als würden sie jeden Moment nachlassen.
Was redete er da? Er wusste doch ganz genau, dass wir mehr als Freunde waren. Wieso wollte er das nicht zugeben?
„Laura?“, fragte er sanft und Tränen sammelten sich in meinen Augen. Nie hatte ich größeren Schmerz verspürt. Nicht als Mutter von Männern in weißen Kitteln mit einer Spritze ruhig gestellt wurden. Nicht als Vater die letzte Flasche Wodka kippte.
Alles zerbrach in mir und ich war nicht mehr im Stande dies in mir zu halten.
„Was redest du da?“, fragte ich erschüttert.
„Laura, wir sind Freunde. Nichts weiter. Wollte nur sichergehen, dass du da nichts falsch verstehst.“, sagte er in gewohnt ruhigem Tempo.
„Aber…, aber ich liebe dich!“, platzte es aus mir heraus und die Tränen rannen über mein Gesicht.
„Aber ich dich nicht, Laura, bitte verstehe das…“, flüsterte er und trat ein Stück von mir zurück. Meine Beine gaben nach und ich weinte unersättlich zu seinen Füßen.
„Ich bin müde, ich gehe jetzt schlafen. Mach dir nichts draus, bitte. Ist doch alles gut zwischen uns so.“, sagte er und kramte seinen Schlüssel heraus.
Verstand er nicht, was hier geschah? Er zerschmetterte all unsere Zukunftspläne. All unsere Ziele und Träume. Er zerschmetterte alles. Mich.
„Beruhige dich, Laura. Und jetzt gehe schlafen… ich muss jetzt auch.“, sagte er, schloss die Tür auf und verschwand darin.
Wochenlang hatte ich die Arbeit versäumt, um auf ihn zu warten, um ihn umzustimmen. Aber immer, wenn ich vor oder hinter meiner Wohnungstür auf ihn lauernd, wartete, kam er genau dann, wenn ich bereits schlief oder war so leise, dass ich ihn anscheinend nicht hörte.
Drei, vier Male, wenn wir uns doch über den Weg liefen, sagte er mir wieder, was er bereits gesagt hatte: Dass er mich nicht lieben würde und, dass er es auch nie tun würde.
Als ich einen weiteren Morgen unter Tränen aufgewacht war, weil nichts mehr einen Sinn ergeben wollte, hatte ich einen Entschluss gefasst.
Um ihm klar zu machen, wie ernst es mir war und vor allem, um ihm zu zeigen, dass ich wusste, dass ihm mehr an mir lag, als er sich eingestehen wollte, nahm ich mir vor, mich zu erhängen. Direkt vor seinen eigenen Augen. Sodass ihm nichts übrig blieb, als mich zu retten und mich in die Arme zu nehmen, um mir zu sagen, wie Leid es ihm tut, diese Dinge gesagt zu haben, weil er mich doch einfach zu sehr liebte und nur scheute, mir weh zu tun oder mich zu verlieren.
Aus einem Baumarkt hatte ich mir am Mittag ein dickes Seil gekauft. Mit diesem ging ich schnurstracks nach Hause, zückte seinen Wohnungsschlüssel heraus, den er mir nicht wieder abgenommen hatte (ein weiteres Zeichen dafür, dass seine Worte ganz sicher nicht ernst gemeint waren) und trat in seine Wohnung.
Mit Absicht ließ ich seine Tür weit offen stehen, sodass er sofort hereinlaufen würde, um nachzuschauen, was passiert war.
Mit dem Seil bewaffnet stapfte ich durch die Wohnung, um mir einen geeigneten Platz auszusuchen, an dem es passieren würde. Am liebsten hätte ich das Seil am Deckenventilator in seinem Schlafzimmer platziert, aber der Ventilator war alt und würde mein Gewicht nicht halten können, sodass das Szenario ziemlich schnell ein abruptes Ende nehmen würde mit nicht gewünschtem Beigeschmack dessen, dass mein Plan, ihn von seiner und meiner Liebe zu überzeugen, gescheitert wäre.
Die Deckenbeleuchtung in der Küche sah da stabiler aus. Ich wirbelte das Seil herum, verknotete es hier und da und stellte sicher, dass es stramm war. Während ich auf dem Stuhl stand und mir eine Schlaufe für meinen Hals zurechtlegte, rannen einige Tränen über mein Gesicht. Wieso wollte er mich nicht lieben? Das konnte doch nicht stimmen… Wenn es nun wahr war und er mich wirklich nicht liebte? Auch dann würde dieses Vorhaben mehr als gelingen. Denn, so war ich jetzt fest entschlossen, würde er mich nicht lieben, so würde ich meinem Leben hier und jetzt ein Ende setzen.
Ich hatte bereits die Schlinge um meinen Hals gelegt, als ich von draußen Schritte hörte. Er war da. Jetzt würde es zu Ende gehen. Ich musste es nur richtig anstellen. Entweder hatte mein unendliches Leid nun ein Ende durch seine Rettung oder ich würde mein Lebenslicht auslöschen und somit ebenfalls kein Leid mehr verspüren müssen.
Er trat herein und ging in zügigen Schritten in die Küche.
„Wenn du springst, bist du tot. Die Lampe hält bombenfest. Als ich sie angebaut hab, bin ich fast von der Leiter gefallen und hab mich an dem Ding wieder hochgezogen“, sagte er kalt und ging einfach an mir vorbei.
Erneute Tränen bildeten sich in meinen brennenden, roten Augen.
„Wofür soll ich denn noch leben, wenn du mich nicht willst? Ich bin doch nur für dich da! Kapierst du das nicht? Bist du wirklich so blind? Ich stehe morgens nur für dich auf, verdammte Scheiße!“, rief ich, während er seine Sachen ablegte und sich nicht traute, mich anzusehen. Er konnte es nicht. Es würde ihn umbringen, mich so zu sehen! Mich so leiden zu sehen!
„Ich bin nicht blind, Laura. Selbst ein Blinder würde erkennen können, was du fühlst. Aber was soll ich denn jetzt bitte tun? Soll ich dir was vormachen, ja? Scheiße, ich hab’s dir doch oft genug gesagt. Komm da runter und verschwinde aus meiner Wohnung! Es reicht!“, rief er und öffnete den Kühlschrank, kramte etwas heraus und machte keinen Mucks.
Noch währte er die Fassade wirklich gut. Er würde das aber nicht lange mitmachen können. Er könnte niemals zulassen, dass ich mir wirklich etwas antue.
„Ich springe!“, rief ich ihm hinterher, „Ich mach Schluss, wenn du mich nicht liebst!“ und das war mein verdammter Ernst!
„Halt jetzt dein Maul!“, brüllte er, „Ich habe es dir tausend Mal gesagt. Ich liebe dich nicht! Habe es nie getan!“ Alles nur Lügen… und wenn er es doch ernst meinte und das erschütterte mein Inneres ein weiteres Mal, dann würde ich keinen Sinn mehr im Leben finden.
Aber warum war er sonst so nett zu mir gewesen? Warum, wenn nicht, weil er mich genauso liebte, wie ich ihn?
„Warum dann all die Aufmerksamkeit? Was sollte das damals mit dem Schlüssel? Deine Einladungen zum Kaffee? Unsere kleinen Gespräche? Du kannst mir doch nicht erzählen, dass das alles nichts zu bedeuten hatte!“, rief ich und die Tränen flossen in Strömen über meine Wangen.
„Doch, Laura. Das kann ich!“, ein weiteres kleines Erdbeben in mir selbst, „All das hatte überhaupt nichts zu bedeuten. Ich mochte- Ich mag dich wirklich. Du bist eine tolle Frau, und du hast einen tollen Mann verdient. Aber Himmel, doch nicht mich! Ich habe seit einer Ewigkeit keine Frau vor dir geliebt, und das wird sich auch nicht mehr ändern. Nicht mit dir und mit keiner sonst!“
Was sollte das jetzt bedeuten? Dass er nicht lieben konnte?? Was sollte denn das jetzt??
„Auch du hast ein Herz!“, antwortete ich also, doch die Worte klangen weniger kraftvoll als ich sie in meinen Gedanken hörte.
„Ja, ich habe ein Herz.“, raunte er mir entgegen. Endlich… Würde er mich nun endlich herunterholen?
„Komm jetzt da runter, sonst muss ich die Polizei rufen.“, rief er und etwas zitterte in seiner Stimme. Entweder war es Wut oder etwas anderes… Angst womöglich. Angst um mich! Doch er sagte und tat nichts mehr. Stille umhüllte mich. In der Dunkelheit schien auch der letzte Hoffnungsschimmer zu verglühen.
„Wenn du ein Herz hast, warum schlägt es dann für niemanden? Warum nicht für mich?“, ich schluchzte ein paar Mal. Diese Trauer war echt und verzweifelt. Er liebte mich nicht? ER LIEBTE MICH NICHT!?
„Es schlägt für MICH“, sagte er bestimmt, doch ich schüttelte vehement den Kopf. Was für einen Unsinn redete er da??
„Wenn ich doch aber weiß, dass es richtig ist? Dass du mich brauchst? Wie kann das dann so falsch sein? Warum kannst du mich nicht lieben?“
„Das geht dich nichts an“, sagte er trocken. In Mir verstummte es. Die Tränen hörten auf zu rollen.
„Ich springe jetzt. Ohne dich ist mein Leben einen Scheißdreck wert“, sagte ich leise, aber deutlich. Ich hatte diesmal gar nicht vernommen, dass meine innere Stimme diese Worte geformt hatte. Gedanken ließen Kopf und Herz nicht mehr zu. Nichts war mehr in mir. Absolute Leere formte sich. Ein hohles Loch, das er mit seinen nächsten Worten entstehen und mir damit keine Wahl mehr ließ.
Jan verschwand und ließ mich einsam zurück.
Er liebte mich nicht, dabei liebte ich ihn so sehr.
Meine Beine taten, als wäre es ihnen aufgetragen, stießen den Stuhl an der Lehne um und ließen die Schlaufe sich zuziehen.
Man möge meinen, das Letzte, dass in meinem Kopf widerhallte, wären seine letzten Worte gewesen: „Spring!“, aber dem war nicht so. Etwas, das sonst ausgeschaltet gewesen war, während alles andere am Leben war, schien sich nun wieder einzuschalten, während alles Restliche verschwand.
Ich hatte verstanden, dass er mich nie lieben würde. Also gab es nur diesen einen Weg. Aber da in mir bereits alles tot war, hatte ich nicht damit gerechnet, dass mein Urinstinkt – jener Instinkt, der einen im letzten Moment einholt und doch noch retten will – mich übermannte und nach dem Seil griff, um doch noch Luft durch die zugezogene Schlaufe zu ergattern.
Vergeblich.
Schlug mein Herz vielleicht auch meinetwegen?