Romane & Erzählungen
Die bunte Feder

Einleitung

(Bildrechte gehören: BarryMillerPhotographics) Über Kindsein und görßer werden...

 

Einst erzählte mir ein depressiver Patient der Cunningham Psychiatrie, in der ich arbeitete, in einer Therapeutensitzung folgendes, das ich nie vergaß:

„… Damals hatte ich meine kindliche Naivität verloren, meinen Glauben an das Gute im Menschen. Man kann es sich so vorstellen: Als Kind besitzt man Flügel mit vielen verschiedenfarbigen Federn. Man wächst und wächst, man lernt und lernt, vergisst, vergisst und die Flügeln verstümmeln, weil sie unwichtig geworden sind. Je älter die Menschen werden, umso weniger gebrauchen sie Flügel. Eine farbige Feder nach der anderen fällt einem aus, nur die Eine nicht. Die Feder, die alle Farben in sich birgt. Die rosane Feder fällt ab und fliegt gen Himmel, die orangene Feder fällt ab und fliegt ebenso davon, die blaue Feder fällt ab, fliegt Kreise und verschwindet ebenso. Aber man selbst merkt es gar nicht. Man sieht nicht, was mit den Flügeln passiert. Woher soll man auch sehen, was sich hinter einem abspielt? Die Federn fallen einfach weiter ab und schweben davon, ohne dass man etwas bemerkt.

Und man wird immer größer und lässt schließlich die Kindheit hinter sich. Und im jugendlichen Alter merkt man plötzlich – Ahh, da gehen alle meine Federn weg! Da kommen sie einfach abhanden und ich habe es nicht gemerkt! – Und wenn man dann sieht, dass auch die letzte Feder, die bunte, locker wird und zu fliehen versucht, greift man sie mit aller Kraft und hält sie fest, doch sie entfläucht geschickt den Händen, schlängelt sich durch die Finger direkt in die Freiheit und fliegt davon.

Und dann steht man schließlich da, als junger Erwachsener, ist jeder Kindlichkeit beraubt, und soll sich einen Platz in diesem tristen Leben suchen. Dann stumpft man ab, so wie es einst die Flügel taten. Man wird einer von ihnen. Von den Flügellosen. Fügt sich ein in das System. Man macht dasselbe, wie alle anderen, Tag für Tag, Stunde für Stunde, Minute für Minute, Sekunde für Sekunde.  Und schließlich kommt der Tag, an dem man es nicht mehr aushält und sich die Kindheit zurücksehnt, doch die Flügel kehren nie zurück. Hat man sie erst einmal verloren, wachsen keine Neuen. Das hat das Leben nicht für sie vorgesehen.

 Doch manchmal, in ganz kurzen Augenblicken, zeigt sich die bunte Feder für ein Tänzchen. Sie wirbelt um einen herum, gibt einem das Gefühl des Kindseins zurück, aber man kann sie dennoch nie erhaschen.“