Beschreibung
Ein Motiv der Geschichte ist die Gestaltung lyrischer Texte.
Hinkefuß. Ein modernes Märchen.
Es war einmal ein junger Mann, mit dem es die Natur nicht gut gemeint hatte. Schon seit seiner Kindheit hinkte er. Und als er in das Alter kam, wo die anderen jungen Männer den Mädchen nachschauten und auch diese sie unter gesenkten Wimpern musterten, da wurde er zum Außenseiter.
Am grausamsten waren die kleinen Kinder, die „Hinkefuß“ hinter ihm herriefen. Aber wenn er am Samstag wie die anderen zur Disco ging, nur um dem munteren Treiben ein wenig zuzuschauen, dann spürte er, wie hinter seinem Rücken getuschelt wurde.
Aber wo Schatten ist, da ist auch Sonne. Zum Ausgleich hatte die Natur ihm nämlich ein mitreißendes Lächeln geschenkt. Und wenn er über die Straße ging und die Kinder Hinkefuß riefen, dann lächelte er sie einfach an, so dass sie am Ende alle miteinander herzlich lachten und sich in diesem Lachen die bösen Gedanken auflösten.
So war es auch in der Disco. Wenn die Mädchen hinter seinem Rücken tuschelten, drehte er sich um und strahlte sie mit einem entwaffnenden  Lächeln an. Es dauerte nicht lange, bis sie merkten, dass er schöne Augen hatte und liebe Worte finden konnte. Hinkefuß wurde ein gern gesehener Unterhalter in ihrer Mitte und die Angst und Schüchternheit, die er anfangs gehabt hatte, verlor sich.
So war es auch in der Schule, die er mit leidlich gutem Erfolg abschloss, und er musste sich für einen Beruf entscheiden. Berufen fühlte er sich eigentlich für gar nichts, und er entschied sich wegen seiner Behinderung für eine sitzende Tätigkeit. Er wollte Programmierer werden und surfte in den Mittagspausen im Internet umher, wo er auch Foren für Literatur entdeckte. Bald machte er seine ersten Gehversuche in der Poesie und schrieb Gedichte. Dabei bemerkte er, dass er auf eine andere Weise zu hinken begann, wenn er nämlich die Metren in eine gefällige Form zu bringen versuchte. Das war ein Zustand, der trotz seines großen Bemühens lange andauerte. Aber eines Tages fasste er sich ein Herz und stellte sein erstes Gedicht ins Internet ein. Die Kommentare ließen nicht lange auf sich warten und waren vernichtend, ja grausam.
Zuerst war er so betroffen, dass er darauf gar nicht antwortete. Aber das Verseschreiben war zu seiner Leidenschaft geworden und wie unter einem Zwang stellte er immer wieder neue Versuche ein. Wenn sich dann die belustigten Kommentare über sein metrisches Hinken mokierten, konnte er sie nicht wie in der Disco einfach weglachen und seinen Kritikern schöne Augen machen. Endlich überwand er sich und beschloss auf die Häme zu antworten. Er versuchte seine Schwächen aber nicht wegzureden, sondern gab sie unumwunden zu. Bald hatten seine Kritiker keinen Spaß mehr an ihrem Spott. Es war allzu einfach, einen vorzuführen, der aus seinen Unzulänglichkeiten keinen Hehl machte. Sie fingen an, sich für den jungen Mann zu interessieren; denn einen solchen Freimut waren sie nicht gewöhnt. Einer schickte ihm Mails mit Verbesserungsvorschlägen und Hinkefuß baute sie sogleich in seine Versuche ein. Außerdem schaute er jetzt öfter mal in eine kleine Verschule, wozu ihm ein Wohlmeinender geraten hatte. Und eines Tages schaffte er den Durchbruch: Was ihm in der Disco nicht vergönnt war, das gelang ihm in dem Forum. Seine Verse begannen zu tanzen, sein Lerneifer und der Schwung seiner schönen Seele hatten Metren und Rhythmen zur Harmonie geführt.
Heute schreibt er selber Kommentare. Sie sind nicht gerecht, in dem Sinne jedenfalls nicht, dass er alle gleich behandelt. Er hat ein feines Gefühl dafür, wenn ihm ein Hinkefuß begegnet und baut ihn auf. Er verschickt seine Kommentare mit einem feinen Lächeln, manchmal auch mit einem befreienden Lachen. Er hat schon manchem geholfen, Freude an der Poesie zu gewinnen.
Ob es so etwas im wirklichen Leben gibt, fragt ihr. Nein in der Regel nicht. Es ist ja nur ein Märchen und Märchen erzählen immer von den Ausnahmen. Aber diese können wahr werden, wenn ihr daran glauben wollt.