Strandfete
"Eh, Grewe! Was soll das?!" Olav sticht mir mit einem langen Ast in den Hintern. Ich nehme Silberrückenpose ein und feuere, dazu passende Grimassen schneidend, eine Serie erlesener Schimpfwörter ab.
"Du Sackgesicht!" ist gerade unsere beliebteste Pöbelei. Ich habe ein ausgesprochenes Vergnügen daran, zu beschimpfen und beschimpft zu werden. Es liegt eine gewisse Zärtlichkeit darin und es geht darum, wer noch eins draufsetzen kann. Besonders wenn Olav mich mit Flüchen eindeckt, ist das wie eine Liebeserklärung und ich kann gar nicht genug davon kriegen.
Olav findet das krank im Hirn und nennt mich eine perverse Ratte.
Freitagnachmittag, das letzte Wochenende vor den großen Ferien.
Seit gut einer Stunde rennen wir durch den Wald. Oav, Cremer, Iffe und ich. Einmal haben wir den Käfer schon be- und entladen. Kofferraum, Rückbank, wo auch immer sich Holz verstauen lässt – Frau Cremer wird sich freuen. Kleinzeug und kurze, grobe Stücke. Die langen Äste schieben wir durch das geöffnete Verdeck.
"Mensch, davon kann man 'n ganzen Winter heizen, da machen wir 'n Feuer, das sieht man noch drüben in der DDR", sagt Cremer. "Und den Brüdern und Schwestern in der Zone wird ganz warm ums Herz", setzt Olav hinzu. Brüder und Schwestern! Zone! Unter uns eigentlich ein verbotenes Wort, das nur die Antikommunisten, Altnazis und Enno benutzen. Aber das ist eben Olav. Mit seiner Ironie verdreht er die Dinge so, dass es einem plötzlich fremd, merkwürdig und lachhaft vorkommt.
Er geht ans Auto und stopft den Ast hinein, mit dem er mich gerade gepiesackt hat. Als er sich umdreht, grinst er mich an und ruft: "Hier, Brauer, nicht rumstehen und Maulaffen feilhalten! Sammeln!" Er weist mit einer weitläufigen Gebärde in den Wald. Ich gehe auf alle Viere und pflüge wie ein Irrer den Waldboden um. Mit beiden Armen voll Zeug renne ich auf ihn los. Er flüchtet ums Auto herum. Ich pralle gegen den Wagen, dass es kracht – Cremer flucht erbost –, und fixiere Olav mit bösen Augen. Er sieht mich an, setzt dieses ganz feine spöttische Grinsen auf, sagt: "Ganz ruhig, Charly, leg das jetzt mal ins Auto". Er zückt die Augenbrauen. Dirk schimpft: "Mann! Charly! Was soll’n der Scheiß! Reicht doch, dass wir die Kotflügel zerdeppert haben!“ Olav nickt – als ob er Aktien in dem Auto hätte – und bekräftigt: "Meine Rede: Pervers, blöde, dämlich!"
Ich lasse das Holz fallen, starre beide an, finster, äußerst finster: "Gut … Ihr … Mit euch ... Nee … Verschissen, Ende, aus!", wende mich ab und stampfe in den Wald hinein und – ward nicht mehr gesehen. Sie eimern und pöbeln mir hinterher.
Nach ein paar Metern kehre ich um, geselle mich, aufgeräumt und von einer Sekunde auf die andere zivilisiert, zu ihnen und sage: "So, das Auto ist voll! Was macht eigentlich Iffe?" "Brauer, du bist ‘n alter, sackgesichtiger Spinner", stellt Olav fest. „Iffe ist unten an der Feuerstelle“, antwortet Dirk, „Wollte das Holz schon mal sortieren und stapeln.“
Wir machen uns auf den Weg. Ich schnappe mir einen größeren Ast, Olav geht in Deckung, und ziehe ihn hinter mir her.
Cremer steuert den Käfer ganz vorsichtig über den unebenen Waldboden, während Olav und ich seine Manöver kommentieren: „Weiter links, Mann! Nee, rechts! Wie fährst du denn! Führerschein im Lotto gewonnen, wa! Nun leg mal ‘n Zahn zu!“
Dann lassen wir ihn seinen Mist allein zusammenfahren und konzentrieren uns aufeinander, wie es meistens geschieht, wenn wir beisammen sind. Reden davon, wie schön es hier ist. Olav nennt es ein Privileg, dass wir an so einem Ort sein können. Er ist so scheißintelligent und kann so schöne Sätze sagen und sieht so verdammt gut aus, dass es einem (Mir!) schlecht wird vor Neid und Bewunderung. Ständig, besonders wenn noch andere dabei sind, streng‘ ich mich an ja nicht als der Dümmere zu erscheinen. Olav kriegt das natürlich mit, nicht nur er. Was soll ich machen! Ich kann ihm nicht sagen, dass ich in den Augen der anderen nicht weniger interessant, gutaussehend und wichtig erscheinen möchte als er, dass ich mir aber genau so vorkomme, dass ich mir eigentlich wünsche so zu sein wie er, dass ich mich permanent mit ihm vergleiche. Mir ist das ja alles selber nicht klar.
Immer herrscht eine gewisse Spannung zwischen uns, das beflügelt uns, meistens, geht aber auch schon mal nach hinten los, vor allem wenn ich schlecht drauf bin.
Wir sind an der Feuerstelle. Vier bis fünf Meter vom Steilufer entfernt liegen hier drei riesige Buchenstämme im Dreieck. An einem Winkel ist das Dreieck offen. In der Mitte ist der Boden schwarz von unzähligen Feuern.
Wir waren in diesem Frühjahr auch schon hier. Großkoppeln, so heißt dieser Wald, in dem wir das „Privileg“ haben uns aufhalten zu dürfen, steht bis an die Klippen heran und erstreckt sich ca. zwei Kilometer landeinwärts. Die meistens sehr müde und hier in der Neustädter Bucht besonders harmlose Ostsee hat sich ausgerechnet an dieser Stelle ein Steilufer geschnitzt, an dem sie Winter für Winter werkelt, und dabei einige der hohen Bäume zu Fall bringt, wenn sie dem Kliff, also der Abbruchkante, zu nahe kommen. Die Opfer, Buchen, aus denen dieser Wald zum großen Teil besteht, sind gerade, hochgewachsene Bäume mit glatten Stämmen. Lotrecht wachsen sie dem Licht entgegen und entfalten der Konkurrenz wegen erst auf den letzten paar Metern ihrer Länge eine Krone. Dieses unmittelbare Aufeinandertreffen von Wald und See an steilem Ufer macht natürlich den besonderen Reiz dieses Platzes aus.
Iffe hat die Axt in der Hand und drischt auf verschiedene dickere Dalben ein, er will sie wohl zerkleinern. "So kriegst du die nie durch", lasse ich mit skeptischer Miene verlauten. "Na Iffe, nu' hau dir ma‘ nich' den Fuß ab." Cremer. Iffe: "Könnt ihr das besser?"
"Gib mal her", sage ich und bemächtige mich des Beils. Mit kräftigen Hieben lege ich los, nachdem ich mir in die Hände gespuckt habe, wie ich das von den zünftigen Arbeitern im Dorf kenne. Von links und rechts oben abwechselnd, nicht zu flach und nicht zu steil.
Das Drecksding von Axt ist stumpf. Aber das hilft jetzt nichts. Ich verdopple meine Anstrengungen, und es dauert auch nicht lange, bis ich den Ast einigermaßen sauber gekappt habe. Für Kraftakte bin ich zuständig. Unter uns gelte ich als der Stärkste, und peinlicherweise bin ich, was ich nie zugeben würde, stolz darauf.
Iffe klopft mir in seiner linkischen Art auf die Schulter und ruft: "Gut gemacht, Herr Brauer!" "Ja, Charly, nich' schlecht.", meint auch Dirk. Ich tue das mit einer lässigen Handbewegung ab, nach dem Motto ‚eine meiner leichtesten Übungen‘. "Lass uns doch eine rauchen und schon mal 'n Bier trinken", schlägt er vor. Wir setzen uns zu Olav, der sich bereits auf einem der Stämme mit Blickrichtung See niedergelassen hat.
Iffe versetzt uns in Erstaunen, indem er uns Zigaretten anbietet. "Bist du irgendwie krank, oder was", kann ich mir das Sticheln nicht verkneifen. Olav lacht. "Tja-ha-ähem-ähem", hustet der Lange und feixt mich an. Gibt uns sogar Feuer.
"Hast du heute noch gesegelt, Olav?", fragt Dirk. "Hab's mir überlegt, aber die Zeit war zu knapp und im Stress segeln bringt's nich`."
"Wetter und Wind waren ja günstig die Woche", fährt Cremer fort. "Meine Jolle liegt bloß immer noch in Haffkrug, ob ich die nochmal flottkriege, weiß ich auch nich’."
„Ach, die liegt seit euerm Turn immer noch da?!" Mir kommen dunkle Erinnerungen. Scheiße! Ich und keine Ahnung vom Segeln, hat Cremer mich in seine Nussschale gequatscht, und es hätte nicht viel gefehlt, da wären wir drüben vor Travemünde beinahe gekentert und womöglich abgesoffen. "Wa, Charly", grinst Dirk mich an. "Das war 'ne Tour?!"
"Alter! Hör bloß auf!" Olav und Iffe grinsen.
Olav ist ein erfahrener und ziemlich guter Segler, soweit ich weiß, und sogar Mitglied im Neustädter Seglerverein, obwohl ihm das Auftreten der dort vereinten kleinstädtischen Großkopferten tierisch auf die Nerven geht. Übers Segeln redet er trotzdem gern. So quatschen er, Cremer und Iffe, der ein Ruderboot sein Eigen nennt, jetzt übers Segeln, den Wind im Allgemeinen und das Wasser im Besonderen. Lass sie reden. Ich mach‘ mir ‘n Bier auf.
Irgendwann schalte ich mich wieder ein und frage, wer denn außer uns schon am Nachmittag kommen wollte. „Katharina“, sagt Cremer. „Yvonne und Hans-Peter – Mischie und Nelly auf jeden Fall auch.“
Mit Mischie verbindet ihn ein gewisses Anbandeln, mal so, mal so. Katharina, Yvonne und Hans-Peter sind erst in der Studienstufe auf unsere Schule gekommen. Sie haben sich alle drei ganz gut in unser Semester eingelebt und neigen natürlich unserer Fraktion zu. Sie sind wirklich nett – also, na ja, nett eben.
Wir hören Stimmen im Wald. Wenn man vom Teufel spricht. Tatsächlich, da kommen Nelly, Mischie und Katharina, die ein Fahrrad schiebt, den Weg herunter. "Hallo!", rufen sie uns zu. Wir grunzen auch irgendwas. Iffe hustet.
Jetzt stehen sie da. Es herrscht ein allgemeines Gegrinse. Mischie stemmt die Hände in die Hüften und blafft uns an: "Das geht aber nicht, schon Bier trinken, und wo bleibt das Holz!" Wir wehren uns, zeigen auf das herangeschaffte und bereits sortierte Brennmaterial und verlangen von ihr, sie solle erst mal selber was sammeln gehen.
Haben wir denn schon genug? Es setzt sich die Auffassung durch, dass es keinesfalls schaden kann, wenn wir alle nochmal losziehen, um die Vorräte zu vergrößern.
Nach ca. zwei Stunden haben wir die schon vorhandene Menge verdoppelt, und jetzt zweifelt wirklich niemand mehr daran, dass wir damit die ganze Küste ausleuchten können, auf jeden Fall aber genug und mehr für die nächsten zwei Tage haben. Zufrieden setzen wir uns hin und greifen zu Tabak und Getränken.
Es wird über die Schule, den Sommer und die Ferien geredet. Wir überbieten uns gegenseitig in euphorischen Äußerungen über die vor der Tür stehende, schulfreie Zeit. Olav erzählt, dass er mit seinem Vater sehr wahrscheinlich für zwei oder drei Wochen nach Südfrankreich fahren wird. Im Stillen beneide ich ihn darum, zum einen weil er ein so gutes Verhältnis zu seinem Vater hat, dass sie eine gemeinsame Reise machen können, zum anderen, weil er überhaupt wegfahren kann. Außerdem finde ich es doof, dass er es tut, anstatt hier zu bleiben und mit guten Freunden (Mir!) den Sommer zu verbringen. Aber Olav macht ohnehin viele Dinge allein und beschränkt seine Kontakte nicht auf unseren Kreis. Das bewundere ich, und es befremdet mich. Jedenfalls kann man ihn nicht vereinnahmen, auch wenn ich das gerne hätte. Aber nach dem, was uns schon jetzt verbindet, ist ohnehin klar, dass wir etwas Besonderes füreinander bedeuten. Bilde ich mir ein.
Die Sonne geht unter, leuchtet rot durch die Bäume. Wir sind inzwischen mehr geworden. Hans-Peter und Yvonne sind eingetroffen und noch einige andere nicht nur aus unserem Semester. Es ist ein allgemeines Geschwätz im Gange, teilweise unter mehreren, teilweise zu zweien. Da sind z.B. Cremer und Mischie (Ha-ha), und Katharina hat sich Olav gekrallt. Das tut sie immer, wenn er auch nur von weitem zu sehen ist. Sie redet total gerne mit ihm – da ist sie nicht allein – und konfrontiert ihn mit Fragen, die meistens irgendwas mit der Schule zu tun haben und damit, wie die Leute miteinander umgehen und wie die Lehrer so sind. Manches, was er dann sagt, will sie gar nicht wahrhaben, lacht überrascht und verteidigt ihren Standpunkt. „ ... aber mir kommt sie wirklich gutmütig vor", sagt sie gerade. Ich glaube, es geht um Tamara. Olav senkt den Kopf und überlegt. Katharina schaut ihn erwartungsvoll an. "Ich möchte nicht einmal behaupten, dass sie das nicht ist, und darum geht es mir auch nicht. Ich meine, sie kann so gutmütig sein, wie sie will – ändert das irgendwas zum Beispiel an dem Klopper, den sie sich erst heute wieder mit Charly geleistet hat?“ Nee, denke ich, überhaupt nicht! Mich mit Grammatik in den Schwitzkasten zu nehmen war eine echte Sauerei! „Wird das dadurch“, fährt Olav fort, „in irgendeiner Weise besser, dass sie es gut meint?"
"Doch, find‘ ich schon.“
„Okay, Katharina, dann erklär mir mal, wie!“ Sie blickt ihn an und denkt nach, ich blicke auf die Ostsee und denke auch nach. Tja, wie? Ich finde es eigentlich schon beknackt, auf die Idee zu kommen, dass Tamara gutmütig wäre. Olav scheint das aber gar nicht mal auszuschließen. Ich lasse die Frage fallen und schau' mich um, was sonst noch los ist.
Noch 'n Bier. Ich gehe zu Hans-Peter und Yvonne. Er zwinkert mir aus seinen wässerig blauen Augen zu. "Prost!" Wir knallen die Flaschen zusammen. Yvonne will noch nichts trinken. Wir aber schlucken schon ordentlich. "Na, Hans-Peter – März", eröffne ich, er grinst mich wegen meiner – zugegeben – dämlichen Anspielung auf seinen Nachnamen „May“ an. „Das ist doch 'n geiler Platz zum Feten hier, nä?!", sage ich. Das finde er auch, antwortet er in seiner von irgendeinem süddeutschen Dialekt unterwanderten Redeweise. "Worum ging 's denn grade bei Euch?", will ich wissen. "Och", meint Hans-Peter, "wir haben uns gerade über das Semester unterhalten, über den Zusammenhalt und wie die Lehrer auf uns reagieren. Manche mögen uns wohl ganz gern." „Den Eindruck kann man schon haben", sagt Yvonne, "aber das ist wohl auch von Kurs zu Kurs verschieden. Unser Bio-Leistungskurs zum Beispiel bei Oma Beuthien ", fährt sie in ihrer zögerlichen und näselnden Sprechweise fort, "ist wirklich eine gute Gemeinschaft, manchmal fast familiär." Ja, der Bio-Leistungskurs hat den Ruf, ein allgemeines Kaffeekränzchen zu sein, bisweilen im Stadtcafé und bei schönem Wetter im Freien verbracht. Und sie sind da alle ganz furchtbar lieb zueinander. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.
Während Yvonne und Hans-Peter weiterreden, hänge ich meinen eigenen Gedanken zu diesem Thema nach: Grundsätzlich befinden wir uns auf der einen Seite des Pultes und der Lehrkörper auf der anderen. Früher oder später gibt es einen Punkt, an dem der Spaß aufhört. Und den bestimmen die Pauker. Im Grunde tust du, was dem Pauker passt. Wenn du es nicht tust, wirst du schon sehen, was du davon hast. Und was den Zusammenhalt in unserem Semester angeht … Für mich zählt eigentlich nur die Clique oder unsere „Fraktion“, also die Beziehung zu Cremer, Olav und Hinni, Iffe meinetwegen auch und zu noch ein paar anderen. Und die wiederum hat auch zu tun mit der Gegnerschaft zu bestimmten Paukern, der Wertschätzung gewisser anderer und natürlich dem Hass auf Enno und Konsorten.
Ja, und dann, dann sind da noch die Frauen! Ja, Mann! Also nicht die, die der Clique nahestehen, sicher, die auch, aber vor allem meine ich die, auf die ich ein Auge geworfen habe, mit all den dazugehörigen er- und entmutigenden Begebenheiten. Seit Nani, die vor einem Jahr mit mir Schluss gemacht hat, ist das sowieso ein Rund-um-die-Uhr-Thema (nicht nur) für mich und ich liege jedem, der es hören will oder nicht rechtzeitig die Kurve kriegt, damit in den Ohren, noch immer. Es war aber auch die Hölle!
Na jedenfalls ist es für mich gerade in puncto Frauen eine interessante Frage, wie sich die Fete so entwickelt. Dass Nani kommt, muss ich nicht befürchten oder perverserweise immer noch hoffen. Ich hab Nelly gefragt. Die hat durchblicken lassen, dass sie was mit dem Widerling unternimmt, der sie mir ausgespannt hat. (Blödes, piep, piep, Piep-Piep!)
Heute ist erst Freitag, da wird noch nicht so viel los sein. Aber morgen, wenn mehr oder weniger die ganze Oberstufe und Teile der Neustädter Szene hier aufmarschieren …
Ganz gegen meine Gewohnheit still, sitze ich bei Yvonne und Hans-Peter und höre ihnen nicht zu, obwohl sie mich immer mal wieder ansehen, als wäre ich noch an dem Gespräch beteiligt, vielleicht wollen sie es auch einfach nur für mich offenhalten. Bin selbst ganz überrascht, dass ich ausnahmsweise mal die Klappe halte, finde aber auch keinen rechten Anlass, das zu ändern. Vorsichtig trinke mich müde, hocke mich schließlich ans Kliff und lasse die Beine über den Abbruch baumeln. Vielleicht kommt ja noch jemand und setzt sich zu mir, Nelly? … Bloß nicht Iffe! Dann leg‘ ich mich lieber schlafen. Obwohl, man kann schon ganz gut reden mit ihm … Scheiß drauf. Ich packe mich ins Zelt, das Cremer mitgebracht hat und in dem er mir einen Platz zugesteht.
Aus Erfahrung klug geworden, habe ich mir von zu Hause viel zum Polstern mitgenommen. Bei der letzten Fete im Mai hatten wir auch hier genächtigt, also die andern hatten, ich nicht; denn der bloß durch Wolldecke und Schlafsack abgefangene, keineswegs komfortable Waldboden hat mich die ganze Nacht wach gehalten. Gut, diesem Umstand ist vorgebeugt.
In der Tat liegt es sich herrlich auf dem unter Grinsen und spöttischen Kommentaren hergerichteten Lager (ca. zwanzig Kissen, drei bis vier Decken, eine Schaumstoffauflage und, und, und). Die hereindringenden Gesprächsfetzen und Gitarrenklänge ...
*
Ich habe hervorragend geschlafen, treibe mich schon draußen herum und will wissen, wen hier in der Nacht der Suff umgehauen hat. Um das niedergebrannte Feuer herum kuscheln sich tatsächlich welche. Iffe, Cremer und Olav müssen wohl noch pennen. So allein da ‘rumzustehen nervt. Ich fange an Lärm zu machen, und dringe schließlich in die übrigen Zelte ein. Man verjagt mich mit zügellosen Beschimpfungen. Hm! Cremer und Mischie im selben Zelt? Kuck an! Ich soll mich endlich verpissen und mein dämliches Maul halten. Aber ich lasse nicht locker. Endlich kriechen sie aus ihren Schlafsäcken.
Olav macht unten am Wasser Morgentoilette nach einem nicht ungefährlichen Gekraxel die Steilküste hinunter. Ich säusele ihm von halber Höhe Unflätigkeiten zu.
Frühstück. Wir reden über den gestrigen Abend. "Warum hast du dich eigentlich schon so früh verdrückt, Charly?", will Dirk wissen. "Weiß nich’ so recht. Meine Stimmung war später nicht mehr die beste und ziemlich müde war ich auch."
„War aber noch ganz witzig."
Ich zucke die Achseln. "Heut Abend geht's tierisch los", sage ich und angle mir eine Scheibe Brot. Wir haben das Feuer wieder in Gang gebracht, um ein bisschen Kaffee zu kochen. Dann die erste Zigarette. Geil!
Den Tag über hängen wir rum, gehen durch den Wald, liegen am Strand, spielen Gitarre, reden dummes Zeug, rauchen, trinken. Am späten Nachmittag treffen die ersten Besucher der großen Samstagsorgie ein, deren Stattfinden der ganzen Studienstufe bekanntgegeben worden ist. Scholz und Kleinwort, zwei Kotten-Schläger, hat es auch herbei geschwemmt nebst ein paar Grazien aus derselben Spelunke. Es sollen auch Lehrer kommen, Johnny Weber auf jeden Fall. Tamara auf gar keinen Fall. Ha-ha! Scholz ist ein unausstehliches Großmaul. Die Frauen, die er angeblich alle schon flach gelegt hat, werden seinem Kumpel Kleinwort nachgesagt. Ich könnte kotzen, wenn ich die nur sehe.
Interessantes Mädchenvolk besonders aus den jüngeren Jahrgängen trifft ein. Und, halt mich fest, da ist auch die eine, auf die ich seit ein paar Wochen sämtliche verfügbaren Augen werfe. Nicht etwa, dass ich sie schon angesprochen hätte, nein, nein, so etwas tut Charly nicht. (Hm! Wie hab‘ ich’s eigentlich geschafft, mit Nani zusammenzukommen?) Charly gafft immer nur: Rotblond, satt-braun, matt-blaue Augen und ein Hintern! Leute, ein Hintern, und die Jeans, die ihn einhüllen dürfen … Mann! Aber mit Freund!
Olav, der natürlich von meiner jüngsten Leidenschaft weiß, kommt freudestrahlend auf mich zu und sagt: "Mensch, Charly, da ist die Frau ja. Besser kann`s doch gar nicht laufen." Was auch immer es ist, das mich reitet, als ich antworte: „Willst du mich verarschen?!" Ihm fällt das Gesicht runter. Kopfschüttelnd geht er weg, und ich bereue meine bescheuerte Reaktion. Ich weiß nicht, ob ihr das kennt, es ist so ein Mischgefühl aus unbedingter Geheimhaltung, um Fortuna nicht zu zwingen, aus vorweggenommener Enttäuschung, aus vorgetäuschter Gleichgültigkeit und in diesem Fall der Überraschung, dass Olav sich einfach für mich gefreut hat und überhaupt keinen Spruch machen wollte. Keine Entschuldigung.
Es dämmert. „Twilight time", um mit den Moody Blues zu sprechen, von dieser Musik („Days of Future Past“) weiß ich zu dem Zeitpunkt nichts, noch kann ich ahnen, dass sie einen Monat später der Auftakt einer Lovestory sein wird.
Da ist noch ein bisschen Helligkeit im Wald, aber es ist schon deutlich mehr Nacht als Abend. Über der binnengewässerplatten Ostsee geht jetzt - rot - der Mond auf und baut eine schimmernde Straße über das Wasser. Ich stehe am Rand des Steilufers und zähle die ersten Sterne, die zwischen östlichem Horizont und Blätterdach heraufkeimen. Das ist so die richtige Stimmung zwischen Wehmut, Sehnsucht, Hoffnung und … Ein paar Gitarrenklänge dazu – Hans-Peter spielt. Die Stimmung ist perfekt. Inzwischen habe ich schon wieder ein paar Bier getrunken, so dass mir, gepaart mit diesem Anblick, ganz sonderbar zumute ist.
Aufregung am Feuer. Was ist los? Birgit, unsere Leidensgefährtin im Englischleistungskurs, ist eingetroffen. Olav, Cremer, Hinni, Iffe und noch ein paar andere haben sich um sie und ihren Begleiter versammelt. Sie gestikuliert aufgeregt und redet wie ein Schnellfeuergewehr. Ich kriege mit, dass es darum geht, ob der Typ, eine Touristen-Sommer-Liaison, seinen Ford-Capri zwischen den Findlingen am Waldrand, wo er den Wagen einstweilen habe stehen lassen, hindurchbugsieren und ebenfalls bis hinunter ans Feuer fahren könne. Die anderen Autos hier müssten ja auch irgendwie durchgekommen sein.
Wir geben an, dass das allein eine Frage der Geschicklichkeit sei (Seitenblick auf den Typ), Cremer vorneweg. Von den großen Tönen angespornt, verpfeift sich der Mensch ins Dickicht, fest entschlossen seinen Ford Capri (Birgit! Was für eine Geschmacksverirrung!) nun ebenfalls hierherzuschaffen.
Richtig! Da stehen Cremers bei dem gleichen Versuch lädierter Käfer, Yvonnes Ente, Mischies R5 und Hinnis R4. Schmalbrüstige Autos, wie man auf den ersten Blick sieht. Wir feixen. Olav meint, dass wir da mal hin müssten, um ihn vom Schlimmsten abzuhalten. Er und Cremer machen sich auf den Weg. Ich bin Arsch genug zu denken, dass es dem Blödmann recht geschieht.
Eine ordentliche Weile später kommen sie einschließlich des nicht wenig erzürnten Ford-Capri-Fahrers zurück. „Das hat mit Geschicklichkeit überhaupt nichts zu tun“, weiß er, „sondern mit der Breite des Autos!“ Wir bestreiten das nicht. Zwei deformierte Kotflügel habe er jetzt. Das sei, das wäre … Unser aufrichtig empfundenes Bedauern kann ihn kaum trösten, schon eher das Bier, zu dem wir ihn einladen, und die weiteren, die er sich, von Birgit gehätschelt, genehmigt.
Blödmann!
Ich wende mich dem Feuer zu, nehme die neu eingetroffenen Gestalten zur Kenntnis und entdecke – Björn, Nanis Cousin!
Das bringt mich augenblicklich drauf. Nicht, dass ich jemals viel mit Björn, der ein ziemlich stiller Zeitgenosse ist, zu tun hatte. Ab und zu quatschen wir mal, meistens über Fußball. Er ist zwar eine lahme Ente, hat aber ‘nen Wahnsinnshammer und voll den Überblick auf dem Platz. Armer Björn! Er kann nichts dafür, dass Nani seine Cousine ist, aber ich brauch‘ ihn nur zu sehen und …
Ich wanze mich an ihn ran, bringe ihm ein Bier, nötige ihn sich mit mir nahe am Ufer auf einen der Baumstümpfe zu hocken, umgarne ihn mit Fußball, und peng, hab‘ ich Nani auf dem Tablett. Es quillt nur so aus mir heraus, mal wieder, als würde ich es das erste Mal erzählen, während der ruhige Kerl an meiner Seite kaum eine andere Wahl hat, als sich das anzuhören:
„Schmetterlinge im Bauch, weißt du, was das ist, Björn? Ich wusste das nicht, bis ich mit Nani zusammen war. Mann!“ Ich sehe ihn an, er schaut ernst zurück, so brauch‘ ich das, und weiter geht’s. Die Rotblonde ist vergessen.
„Das Bittere, weißt du, das war der Tag, an dem sie Schluss gemacht hat. Das war so ein scheiß Tag, an dem eigentlich alles in Ordnung sein sollte, weißt du, blauer Himmel, Erster Mai, Vogelgezwitscher, mild und gute Luft, ein Tag zum Verlieben eben.“ Ich stoße einen verächtlichen Lacher aus. „Und dann bin ich bei ihr, die ganzen zehn Kilometer zu Fuß gelaufen, und irgendwie ist sie anders. Ich meine, ich hatte keine Ahnung. Und sie sagt, sie muss mir was sagen, und kuckt, wie eben nur Nani kucken kann. Und ich denke noch, Scheiße, irgendwas stimmt nicht. Dann sagt sie irgendwas, ich kann dir nicht mal mehr sagen, was. Ich hab' einfach immer nur in ihre Augen gesehen, und da hab ich‘s gesehen. In ihren Augen hab ich’s gesehen, weißt du, und ich hab sie gefragt: ‚Liebst du mich noch?‘ Und sie hat geschluckt und weggekuckt und ist rot geworden, und da hab ich Bescheid gewusst. Scheiße, Mann! Björn, ich sag‘ dir: Ich hab überhaupt kein Wort mehr herausgebracht. Dass ich nicht auf der Stelle tot umgefallen bin, war noch alles. Irgendwie bin ich dann raus aus ihrem Zimmer, und sie hat irgendwas gesagt. Aber meinst du, ich hätte mitgekriegt, was?! Und ich, ich wollte auch irgendwas sagen, aber mir fiel nichts ein, und was mir einfiel, war nur daneben. Wie ein Zombie bin ich raus aus dem Zimmer. Getorkelt, weißt du, und Tschüss gesagt, ganz mechanisch. Sie hatte nämlich Tschüss gesagt, und ich dachte noch: Tschüss? Wie kann man da Tschüss sagen! Das ist doch total pervers!“ Ich stöhne, fahre mir über die Stirn.
„Und dann war ich zu Hause. Frag‘ mich nicht, wie ich nach Hause gekommen bin. Das weiß ich nämlich nicht mehr. Zu Fuß. Ha-ha. Und plötzlich war Abend und …“ Kunstpause. Nee! Ich bin nur wieder voll drauf und fange an zu flennen. Das kann doch nicht wahr sein! Björn stößt mit seiner Bierflasche vorsichtig gegen meine und wir trinken eine Weile vor uns hin.
„Ich hab‘ die ganze Zeit so dermaßen geheult, ich kann dir gar nicht beschreiben, wie ich geheult hab‘. Das hat so weh getan. Ich wusste überhaupt nicht, was ich machen sollte. Und am nächsten Tag würd‘ ich sie wiedersehen in der Schule und dann? Ich konnte mir das überhaupt nicht vorstellen. Ich dachte, ich müsste auswandern. Ich dachte, ich müsste sie umbringen, ich meine, es war so schlimm. Und es sollte verdammt noch mal aufhören.
„Ich hab mir die Flasche Whisky aus‘m Keller geholt, die nur alle Jubeljahre mal auf den Tisch kommt. War noch fast voll. Ich hab die in einem Zug leergetrunken, fast, ungelogen. Und Scheiße! Was soll ich dir sagen, ich hab‘ nichts gemerkt. Nichts! Nicht zehn Minuten danach, nicht ‘ne halbe Stunde. Nichts. Immer nur dieser Schmerz. Der war einfach da, hat sich in meinem Bauch ausgetobt, mir das Herz zusammengequetscht. Dann bin ich raus auf den Rasen, hab mich hingeworfen und gebrüllt wie ein Irrer. Das halbe Dorf muss mich gehört haben. Ich wusste wirklich nicht, wie das weitergehen sollte. Ich dachte, ich bleib‘ einfach liegen und verrecke.
„Krankfeiern kam nicht in die Tüte, da waren meine Eltern vor. Am nächsten Tag in der Schule war ich nur Panne im Hirn. Ich kann dir nicht mal mehr sagen, ob ich sie da überhaupt gesehen habe.
„Aber dann – ich war wütend, so wütend war ich auf sie. Nur noch wütend! Ich meine, wie konnte sie das denn machen! Was hab ich ihr denn getan? Ich war doch wie immer, was ist da bloß passiert? Sie hätte ja mal irgendwann was sagen können, oder?“
Björn nickt. Dafür bin ich ihm sehr dankbar, immerhin ist er ihr Cousin.
„Was soll’s“, sage ich. „Ist ja nun auch vorbei, eigentlich. … Prost, Mann! Dass du dir den Scheiß angehört hast?“
„Schon okay“, sagt er. „Aber wenn du glaubst, ich könnte irgendwas dazu sagen, weil sie meine Cousine ist, muss ich dich enttäuschen. Sie hat nie mit mir darüber geredet.“ Ich schüttle den Kopf, zucke mit den Schultern, sage noch einmal: „Prost!“ Wir leeren die Flaschen.
Er zündet zwei Zigaretten an, gibt mir eine und macht uns ein neues Bier auf.
Während wir schweigend dasitzen, legt mir jemand eine Hand auf die Schulter und zupft mir am Ohrläppchen. „Schwule Sau!“, sage ich reflexartig. Olav. „Kommt rüber Kinnings (Wo hat er den alten Spruch wieder her!) Cremer und uns Hinni spielen Gitarre. Dazu wird zünftig gesungen. Wenn ich bitten darf?“
Also wird gesungen. Und getrunken. Letzteres, was mich anbelangt, unkontrolliert, bis ich diesen Punkt erreiche, an dem gar nichts mehr geht, wo sich alles dreht und der einzige Ausweg im Kotzen liegt. Aber da ich nichts mehr hasse, als mich übergeben zu müssen, entferne ich mich schwankend vom Lagerfeuer und suche in der Fortbewegung, die mir noch möglich ist, mein Heil.
Ich umrunde Großkoppeln in dieser Nacht drei- oder viermal. Das sind schätzungsweise 20 Kilometer. Und der Morgen ist schon rot, als ich denke, dass ich jetzt endlich schlafen kann.