Der Fadenschlauch
Manche Menschen reden nicht nur einfach um den heißen Brei herum. Wären sie auf sich alleine gestellt, würden sie sogar neben der dampfenden Schüssel verhungern. Vor lauter dummen Geschwätz. Michael stellte sich vor, wie sie ausgemergelt neben dem köchelnden Brei auf dem Boden liegen und trotzdem noch weiter reden würde. Es wäre ihr zuzutrauen.
Aus ihrem Mund schoss ein Schnellfeuer leerer Hülsen. Bei dem Versuch ihr zuzuhören, kam er sich vor wie ein Idiot, der mit einem durchlöcherten Eimer Sonnenstrahlen einfangen will, deshalb hörte er auf es zu versuchen. Er hatte festgestellt, dass es ihr nicht einmal auffiel. Kurz flammte in seinem Geist ein Bild auf, wie er ihr mit den Händen den Kehlkopf zusammen drückte, nur um sie zum Schweigen zu bringen. Dafür schämte er sich. Allerdings nur ein kleines bisschen. Er erhob sich vom Sofa und ging in die Küche, um sich ein Bier zu holen. Irgendwie war sie auf Alkohol besser zu ertragen. Irgendwie kam ihm so alles leichter vor. Er hatte es erfolgreich geschafft, seinem engsten Bekanntenkreis vorzumachen, dass er nur ein besonders lustvoller Genusstrinker sei. Die Wahrheit kannte er selbst am besten: Ohne mindestens acht Flaschen Bier am Tag funktionierte er nicht. Schon gar nicht mit ihr zusammen. Bei vielen anderen Alkoholikern mag es genau andersrum sein, aber Michi wurde böse zu seiner Frau, wenn er nichts getrunken hatte. Dann schaffte er es nicht einmal, ihr 5 Minuten zuzuhören. Und manchmal regte ihn dann einfach alles an ihr auf. Er empfand eine gehässige Freude daran, bissige Kommentare über ihr Gewicht und ihr Alter zu machen. Die Befriedigung, die er dadurch bekam, besorgte ihn manchmal sehr. Immerhin liebte er diese Frau.
Als er zurück in die Küche kam, redete sie immer noch. Michi öffnete sein Bier, setzte sich und ließ sich körperlich und geistig auf die weiche Couch fallen. Jetzt wartete er darauf, dass ihr Redeschwall langsam im trockenen Boden seiner Aufmerksamkeit versiegen würde, doch es hörte einfach nicht auf. Michi legte die Hände in den Nacken um sich unauffällig mit den Oberarmen die Ohren zuzuhalten, da bemerkte er es. Ein Knubbel in seinem Nacken. Krebs?, schoss es ihm sofort durch den Kopf und anstatt schockiert zu sein, erfreute er sich an dem Gedanken daran. So würde er vielleicht auch etwas Aufmerksamkeit bekommen. Und selbst wenn nicht, die Panik, die er in diesem Moment empfand, war ein aufrüttelndes Gefühl und daran hielt er fest. Durch den Alkoholkonsum hatte er die meisten Gefühle, die wie der flüssige Erdkern in ihm brodelten, erstickt. Er tastete weiter, um Gewissheit zu haben. Da bemerkte er erstmals den feinen Schlauch, der aus dem Knoten in seinem Nacken herausragte. Dünner als ein Strohhalm und nur etwas dicker als ein Nähfaden. Es fühlte sich sehr merkwürdig an, aber das sonderbarste, das Michi in diesem Moment fühlte, war die Tatsache, dass ihm das Ding zuvor nie aufgefallen war. Er drehte seinen Kopf, um zu sehen, wohin dieser Schlauch führte. Er lief quer durch das Wohnzimmer in den Flur. Er folgte ihm. Vom Flur aus, ging es bis zur Wohnungstür und dort nach draußen. Ohne sich nach seiner Frau umzusehen, beschloss er, dem Schlauch nach draußen zu folgen. Im Treppenhaus roch es nicht nach Bohnerwachs und Spießigkeit, wie in dem Lied, sondern nach Katzenpisse und gammligen Schuhen. Wie ein dürrer, weißer Wurm, schlängelte sich das Kabel die vier Stockwerke nach unten. Irgendwie erschien es Michi elektrisch, zumindest von irgendeiner Kraft beseelt. Er fragte sich, woher das Ding seine Energie bezog. Aus ihm oder aus dem anderen Ende?
Auf der Straße angekommen, meinte er noch, die Stimme seiner Frau im 4. Stock hören zu können. Aber sie kam natürlich nur aus seinem Inneren. Eine Warnung, eine Geisteskrankheit? Er wusste es nicht. Seine Augen waren nur auf den weiteren Verlauf des Fadens gerichtet. Er zog sich über die ganze Straße. Erst über den Bürgersteig, unter einem parkenden Auto entlang auf die andere Seite und schließlich um den ganzen Häuserblock herum. In seinem Eifer hatte Michi völlig vergessen, sich Schuhe und eine richtige Hose anzuziehen. Es war Februar und Michi trug nur eine zur Boxershort umfunktionierte Badehose, ein T-Shirt und Socken. Ein Mann kehrte den Gehweg, der nach den kalten letzten Wochen noch immer eine dicke Salzkruste trug. Als er Michi erblickte, hielt er mit dem Besen inne und richtete sich auf. Die beiden kannten sich. Er nickte Michi zu, als der direkt an ihm vorbeilief und dann verfing sich sein Blick an Michis Unterhose, wo er Wurzeln schlug. Sein Mund öffnete sich, doch anstelle einer Stimme, strömte aus ihm nur ein diffuses Echo. Ohne Verwunderung nahm Michi zur Kenntnis, dass es das Echo der Worte seiner Frau war, das da im Mund seines Nachbarn nachhallte. Der Nachbar (sein Name war Bielawski und wenn er nicht gerade mit einem Besen die Straße fegte, pflegte er seine zwölf Jahre ältere Frau mit einer Reitgerte zu bearbeiten) rief ihm noch ein paar Worte hinterher, doch Michi hatte nur noch genug Verstand, um dem Faden weiter zu folgen. Sein Denken hatte sich auf einen flachen, reptilienhaften Rest zurückgefahren. Und so schlängelte er sich weiter dem Verlauf des Fadens entlang. Durch die Straßen seiner Heimat, die ihm immer mehr vorkamen, wie eine Perversion seines eigenen Verstandes.
Michi wickelte den Faden an seinem Handgelenk auf, wo das Knäuel schnell auf beachtliche Größe anwuchs. Bald hatte Michi seine Straße verlassen, den Supermarkt passiert und war auf die Hauptstraße eingebogen, die aus der Stadt hinaus und in den Wald hinein führte. Sein ganzer rechter Unterarm war bereits mit dem zusammengerollten Ding bedeckt, dass aus seinem Genick heraus ragte oder in es hinein. Trotzdem fühlte es sich nicht besonders schwer an. Ohne über die Natur der ganzen Sache nachzudenken (was ihn ohnehin nicht weit gebracht hätte), lief er weiter. Wie eine tote Ratte, die man einer Katze an den Schwanz gebunden hatte, folgte er dem Schlauch. Doch dabei hatte er nicht das Gefühl, dass er sich durch die Welt bewegte, sondern eher, dass er die ganze Welt an dem Faden zu sich und an sich vorbei ziehen würde. Als wäre er ein großer Stein, der in einem Flussbett den reißenden Fluten trotzt. Die Stunden vergingen und er lief durch sie, wie der verrückt gewordene Minutenzeiger einer Wanduhr.
Über einen Feldweg am Stadtrand folgte er der Spur in den nahen Wald. Er musste sich kaum anstrengen, sondern erspähte das Ding auch im tiefsten Bodenwuchs. Fast so, als würde es im Dunkeln leuchten. Alles Streben, dass ihn in seinem Leben je angetrieben hatte, schien in diesem Faden zu stecken. Er konnte fast spüren, wie er vor Kraft pulsierte. Immer weiter trieb es ihn in den Wald hinein. Da waren keine Fragen in seinem Kopf, nur ein schwacher Nachhall der Stimme seiner Frau.
Wann hatte er eigentlich begonnen, sie zu hassen? Und hasste er sie überhaupt? Eigentlich liebte er sie abgöttisch. Das hatte er früher jedenfalls getan, bevor sie verlernt hatte, mit dem Reden aufzuhören. Wann das gewesen war, vermochte er nicht zu sagen. Die guten Zeiten schienen ihm hinter einem Berg unnötiger Ereignisse fernab seines Horizontes zu liegen. Dabei konnten sie unmöglich länger als ein paar Monate her sein. Zu gut konnte sich Michi noch daran erinnern, wie sie ganze Nächte durch gequatscht und gevögelt hatten. War das bevor oder nachdem sie aufgehört hatte, zuzuhören? Vielleicht hatte Michi auch einfach das Reden eingestellt. In diesem Moment wusste er es nicht, er wusste nur, dass ihn etwas in den Wald geführt hatte und hoffentlich auch wieder hinaus führen würde.
Es war schon dunkel, als Michi das vermeidliche Ende des Schlauches entdeckte. Der Baumwuchs stoppte plötzlich und der Boden fiel steil ab. Der alte Steinbruch. Michi hatte hier als Kind oft gespielt und mit seinem Freund nach versteinerten Muscheln und Pflanzen gesucht. Ein anderer Kindheitsfreund war hier einmal abgestürzt und hatte monatelang im Koma gelegen. Wegen ihm hatte die Stadt hier damals einen Zaun aufstellen lassen, von dem heute jedoch nicht mehr übriggeblieben war, als ein paar verrostete Pfeiler. Wahrscheinlich spielte heutzutage kein Kind mehr im Wald. Schon gar nicht so weit von der Stadt entfernt.
Michi bewegte sich auf den Abgrund zu und plötzlich war ihm klar, was er unterbewusst die ganze Zeit geahnt hatte. Der Faden führte in die Tiefe. Er würde ihm folgen müssen. An diesem Ort seiner Kindheit würde sein Leben ein Ende finden. Dabei war die Welt, als er an diesem Morgen erwacht war, doch noch halbwegs in Ordnung gewesen. Der Morgen hatte wie jeder Morgen aus Kaffee, Brötchen und einem leichten Kater bestanden. Nichts hatte den weiteren Verlauf des Tages ahnen lassen.
Michi blickte auf seinen rechten Arm, an dem der helle Faden so fest aufgerollt war, dass er ihn kaum noch bewegen konnte, und wusste in diesem Moment, dass es kein Zurück mehr gab. Er machte ein paar zögerliche Schritte auf den Abgrund zu, um zu sehen, ob ihn seine Kindheitserinnerungen bezüglich der Tiefe vielleicht täuschten. Da bemerkte er ein Schimmern in der Luft und blickte zum Mond, der hoch über ihm leuchtete. Doch in der Luft leuchtet noch etwas. Der Faden. Die Stimme seiner Frau, die nie ganz aus seinem Kopf verschwunden war, schwoll nun zu einem Chor an. Michi bekam eine Gänsehaut, obwohl er Vegetarier war. Das andere Ende des Fadens lag nicht auf dem felsigen Abgrund des Steinbruches, sondern in zirka 400.000 Kilometern Entfernung. Ehrfürchtig blickte er zum Mond. Seit seinen Tagen als Hobbyastronom (die kurz nach seinen Tagen als Hobbyarchäologe gekommen waren) faszinierte ihn der Erdtrabant. Er zog den Faden straff, so als ob er damit den Mond näher an sich ziehen könnte. Für einen Moment fühlte er sich wie ein Angler, der einen Walhai an seiner Angel hat. Dann gab es plötzlich einen Schlag und Michi knallte mit dem Arsch auf den mit Steinen übersäten Waldboden. Die Schnur hielt er noch immer in der Hand. Was er sah, als er nach oben blickte, trat seinen Verstand mit schweren Stahlkappen-Stiefeln. Im Mond hatte sich eine gigantische Tür geöffnet. Eine Strickleiter war dort heraus gefallen und baumelte nun nur wenige Zentimeter von Michis Kopf entfernt.
Als er die unterste Sprosste ergriff, tat er es unbewusst und mechanisch. Kein einziger Gedanke füllte seinen Kopf auf dem Weg nach oben. Nur der Chor aus tausend Stimmen, die alle seiner Frau gehörten, begleitete ihn. Ihre Stimme hatte nun alles nervige und bedrohliche verloren. Es war wieder die Stimme der Frau, die er liebte. Ungelenk, da er zum Klettern nur seinen linken Arm benutzen konnte, erklomm er Sprosse um Sprosse. Bald war die Welt unter ihm nur noch ein Spielzeugland, das im Halbdunkel auf den nächsten Tag wartete. Auf einmal war, für Michi völlig überraschend, die Leiter zu Ende. Aus der Nähe betrachtet, wirkte der Mond wie eine gleißend helle, zweidimensionale Scheibe. Da war nichts, kein Eingang, kein Loch, nur Licht. Auch wenn er nicht glaubte, etwas ertasten zu können, streckte Michi seinen linken Arm aus. Und griff ins Leere. Dann wurde die ganze Scheibe noch ein wenig heller. Geblendet schloss Michi die Augen und fühlte sich trotzdem noch, als würde er aus nächster Nähe in einen Scheinwerfer starren. Plötzlich ein Gefühl der Schwerelosigkeit. Blindes Fallen. Ein letztes Echo. Und dann Ruhe.
Einige Zeit war vergangen, wie viel, konnte Michi nicht mal schätzen. Alles war immer noch grell erleuchtet. Er sah nichts, obwohl er die Augen offen hatte. Eine Stimme schwoll an, wurde leiser und wieder lauter. Zuerst ging sie im Hall unter, dann wurde sie klarer. Es war die Stimme seiner Frau. Das grelle Licht nahm Konturen an. Er hatte den Kopf zur rechten Seite gedreht und konnte auf einmal seine eigene Schulter sehen. Dann seinen rechten Arm, um den noch immer dick der Faden gerollt war. Es wurde etwas dunkler, die Kontraste stärker. Plötzlich erkannte er, dass es nicht der Faden war, der seinen Arm umhüllte, sondern Gips. In diesem Moment stoppte die Stimme seiner Frau mitten im Fluss. Sie flüsterte seinen Namen. Mit aller Kraft schaffte es Michi, den Kopf zur linken Seite zu drehen. Und da saß sie, seine geliebte Prinzessin. Sie saß auf einem Stuhl neben seinem Bett, lächelte ihn an und sagte kein Wort.