Von der Dunkelheit ins Licht
Allein.
Herumirrend in der Dunkelheit, auf der Suche nach dem ausbleibenden Schein Hoffnung.
Kann mich jemand hören?
Kann mir jemand helfen?
Verzweiflung, die nicht auszudrücken ist, eine Not, die nicht mitteilbar ist.
Ich werde von Innen zerfressen. Ein schwarzes, klaffendes Loch, an dem Platz, an dem man ein Herz erwartet hätte.
Hört mich denn niemand?
Die Schulglocke läutet. Ein schrilles, unangenehmes, aber zugleich auch befreiendes Geräusch. Die Schüler stehen von ihren Tischen auf, fangen zu reden an und packen ihre Bücher in ihre Taschen. Die Professorin verabschiedet sich und verlässt den Raum. Ich kann hören, wie alle anfangen, über das Wochenende zu reden. Sie werden ins Kino gehen, Freunde und Verwandte besuchen, oder daheim am Computer das neugekaufte Spiel ausprobieren. Das wird spaßig.
Mein Mathebuch fällt aus meinen zitternden Händen. Erschrocken fahre ich zusammen, als es klatschend am Boden aufkommt. Ein paar meiner Klassenkameraden drehen sich nach mir um, wenden sich dann aber desinteressiert wieder ihren eigenen Angelegenheiten zu.
Langsam bücke ich mich und greife nach meinem Buch. Ich hebe es auf, streiche ein paar Mal darüber um den Staub zu entfernen und schiebe es sorgfältig zwischen meine anderen Bücher in die Schultasche.
Keiner verabschiedet sich von mir, als ich die Klasse, und schließlich das Schulgebäude verlasse. Niemand ruft mir ein fröhliches „Bis morgen!“ entgegen.
Niemand wartet vor der Schule auf mich. Keine Freunde, die mit mir nach Hause gehen. Keine Eltern, die mich mit einem glücklichen „Hallo mein Junge!“ empfangen und mir die Autotür öffnen.
Niemand.
Ich bin allein.
Stumm gehe ich die grauen Straßen entlang, in Richtung „Zuhause“. Ich lausche meinem Atem und meinen Schritten. Es ist kalt, ich kann Dampf aus meinem Mund emporsteigen sehen. Ob der Winter wohl bald kommt?
Ein Auto fährt vorbei. Ich erkenne zwei lachende Gesichter. Mutter und Tochter. Sie sehen glücklich aus.
Mein Blick fällt wieder zurück auf den Asphalt und mein Magen zieht sich zusammen.
Ein stechender Schmerz.
So viele Fragen schießen mir durch den Kopf. Warum kann ich nicht so glücklich sein? Warum kann ich nicht so glücklich sein wie alle anderen? Warum kann ich kein normales Leben führen? Ein normaler Schüler, der von den anderen akzeptiert wird? Wie gerne würde ich doch ein stinknormales Leben führen, mich über die stinklangweilige Chemiestunde aufregen und nach der Schule von meinem Vater abgeholt werden?
Meine Augen fangen an zu brennen, ich schlucke immer und immer wieder.
Nicht weinen. Das habe ich mir in den letzten Jahren doch abgewöhnt!
Mit meinen zitternden Händen fahre ich mir über die Wange und wische die Tränen weg. Ich bin viel zu alt fürs Weinen. So etwas ist unnötig und Kräfte raubend.
Also schlucke ich den Schmerz, wie schon so viele Male. Ich verschwinde wieder hinter meiner stummen und gleichgültigen Fassade, setze meine Maske wieder auf. In dem Glauben, so meine Trauer und meine Probleme von mir abzustoßen, sie zu ignorieren, wie immer.
Aber in Wirklichkeit wird das Loch in meiner Brust nur größer und größer …
Absichtlich langsam steige ich die Treppen zu dem kleinen Haus empor. Es ist alt, die Fenster sind verschmutzt und der Schornstein gehört repariert. Doch für so etwas haben wir kein Geld.
Ich ziehe den Schlüssel aus meiner Tasche, stecke das Metall in das verrostete Schloss, drehe, und öffne die Tür.
Ein scheußlicher Geruch strömt mir entgegen. Es stinkt nach Bier, Zigarettenrauch und vergammeltem Fleisch.
„Wo bist du gewesen?!“, höre ich jemanden schreien. Ralf.
Er ist der Freund meiner Mutter. Meine Eltern haben sich schon sehr früh scheiden lassen. Ich war sechs oder so. Obwohl mein Vater der netteste Mensch war, den ich je gekannt habe, haben sie sich jeden Tag gestritten, über Dinge, die nicht einmal erwähnenswert sind. Schließlich ist mein Vater ausgezogen. Dann hat meine Mutter Ralf kennengelernt. Er war angeblich Geschäftsmann, reich und konnte uns helfen. Er ist mir auch sympathisch gewesen, die ersten drei Wochen. Aber dann ist er eingezogen, hat angeblich nie eine Arbeit gehabt, und war Säufer und Raucher. Er fing an, meine Mutter zu schlagen, ihr zu drohen und unsere Wohnung zu verwüsten. Dann bemerkte er mich, und fing an, seine dreckigen Spielchen auch mit mir zu treiben. Als ich noch kleiner war, habe ich jeden Tag in meinem Zimmer geweint, wollte zu meiner Mutter, doch die saß ebenfalls entweder in der Küche oder im Schlafzimmer, weinte und versteckte sich vor Ralf. Doch mit der Zeit habe ich damit aufgehört. Ich begann, alles in mich hineinzufressen, mich in der Schule abzugrenzen und gute Miene zum Bösen spiel zu machen.
Was heißt gute Miene … gleichgültige Miene zum Bösen Spiel.
„Ich war in der Schule.“
„Schule ist verdammter Schwachsinn! Geh Geld verdienen oder mir lieber ne Stange Zigaretten besorgen!“, brüllt der bierbäuchige Mann, der den Gang entlang gepoltert kommt.
Batsch.
Meine Wange glüht.
„Ja Ralf …“, murmle ich, doch dieser zieht mich an meinem Kragen zurück und versetzt mir einen Schlag auf den Hinterkopf.
Und so beginnt es wieder.
Die tagtägliche Prozedur. Ralf schlägt mich, er stößt mich durch den Raum, zieht den Gürtel aus den Schnallen, um schließlich auch mit diesem auf mich einzuschlagen und lässt mich dann blutend und wimmernd auf unserem Sofa zurück.
Von meiner Mutter war keine Spur zu sehen. Wahrscheinlich machte Ralf sich gerade zu ihr auf.
Schnell stehe ich auf, wische mir das Blut von den Mundwinkeln und laufe aus dem Haus. Ich sollte diesen Moment ausnützen und die Zigaretten besorgen gehen. Also mache ich mich auf den Weg zur nächsten Trafik.
Auf den Straßen ist nicht viel los. Die meisten Familien werden wahrscheinlich gerade beim Mittagessen sitzen, sich Geschichten erzählen und vom heutigen Tag berichten.
Wie gerne ich doch bei ihnen sitzen würde.
Und schon wieder fängt es an. Das unkontrollierbare Zittern meines Körpers, der stechende Schmerz in meiner Brust und das Drücken in meiner Kehle. Nun laufen mir literweise Tränen über die aufgeschürften Wangen und das Salz brennt auf meiner Haut.
Ich fange an, laut zu schluchzen, fast zu schreien. Laut weinend lasse ich mich auf den Gehsteig fallen, wo ich dann kraftlos sitzen bleibe. Ich will nicht mehr weitergehen. Ich will dieses Spiel nicht mehr mitspielen! Wie kann mich Gott nur so bestrafen? Wie kann man jemandem nur so ein Leben zumuten?
Warum kann mir denn niemand helfen?!
„Weil du niemanden um Hilfe bittest.“
Erschrocken blicke ich auf. Vor mir steht ein kleines Mädchen. Ihr langes, kastanienbraunes Haar fällt ihr über den Rücken und sie ist mit Mantel, Handschuhen und Wollmütze bekleidet. Ihre gestreifte Strumpfhose erstrahlt in allen möglichen Farben.
„Wer bist du?“, frage ich mit kratziger Stimme.
„Ich heiße Lina. Und wer bist du?“, fragt das kleine Mädchen lieb.
„Mein Name ist Alexandro. Was machst du hier ganz alleine auf der Straße?“, frage ich besorgt, doch das kleine Mädchen lächelt.
„Das sollte ich dich eher fragen. Du blutest ja!“
„Ist nicht so schlimm …“, winke ich ab, doch Lina lässt sich neben mich fallen und nimmt meine Hand.
„Du bist allein. Ich werde dich begleiten!“
„Was?“
„Ich will dir helfen. Wenn man allein ist, braucht man Freunde. Lass und Freunde sein!“
Ihre sonnige Stimme berührt mein Herz dermaßen, dass mir gleich wieder die Tränen kommen. Sie findet mich einfach hier auf der Straße und will mein Freund sein.
„Gut. Lass uns Freunde sein“, sage ich zu dem kleinen Mädchen, dass schon die ganze Zeit meine Hand hält. Eigentlich sage ich das nur, weil man das zu kleinen Kindern sagt. Aber etwas sagt mir, dass Lina kein normales Kind ist. Sie blickt mich an, und ich fühle mich schon stärker.
„Was wolltest du eigentlich gerade tun?“, fragt sie dann.
„Ich muss Zigaretten kaufen.“
„Aber rauchen schadet der Gesundheit!“, meint Lina entsetzt und ich muss lächeln.
„Ja, du hast Recht. Ich werde es Ralf sagen.“
Lina sieht mich an. „Wer ist dieser Ralf? Ist er ein böser Mensch?“
„Ja, eigentlich schon …“, antworte ich zaghaft.
„Ist er sehr böse? Hat er dich so verletzt?“, fragt sie weiter.
„Ja, das war er“, meine ich bedrückt.
„Böse Menschen gehören ins Gefängnis!“, sagt Lina fest entschlossen.
„Ja, das tun sie.“
„Warum gehst du nicht zur Polizei?“, fragt sie.
„Weil Ralf sonst … was Schlimmes tun wird.“ Ich sage nicht, dass er schon damit gedroht hat, meine Mutter umzubringen. Das sagt man nicht zu kleinen Kindern.
„Ich hab eine Idee! Wir gehen zu meinem Papa. Der ist Polizist!“, ruft Lina auf einmal.
„Nein, lieber nicht!“
„Doch, komm mit!“
Und da zieht mich das kleine Mädchen mit, und ich wehre mich nicht und fühle mich irgendwie besser.
Nun ist es schon drei Jahre her, dass ich der Polizei verraten habe, dass Ralf meine Mutter und mich so gequält hat. Er ist ins Gefängnis gekommen, und ich zu meinem Vater. Ich lebe ein glückliches Leben, ich habe Freunde und eine Familie. Mein Vater hat eine nette Freundin, sie hilft mir beim Lernen und kocht für uns alle. In der Schule schreibe ich die Besten Noten und die Schulkollegen beachten mich jetzt.
Aber Lina habe ich nie wieder gesehen. Langsam glaube ich, dass sie so etwas wie ein Engel war. Ein Engel, der mich aus der Not befreit hat.
Ein Engel, der mich erhört hat.