Prolog
„Was soll das heißen, du ziehst weg?“ Ich starrte meine beste Freundin an. Sie schaute betreten auf die vor uns liegende Wiese. „Ich weiß, ich hätte dir schon viel früher davon erzählen sollen, aber ich musste erst selbst damit klar kommen.“ Mit traten die Tränen in die Augen. „Wie lange weißt du schon davon?“ In meinem Kopf drehte sich alles und mir wurde schwindelig. „Seit 3 Wochen“, flüsterte sie. Ich schaute sie an und sie sah meine Tränen. „Es tut mir Leid. Ich habe sie versucht zu überreden mich hierzulassen, es geht nicht.“ Ich konnte nicht klar denken. Meine beste Freundin seit... schon immer. Sie würde wegziehen. 500Km weit weg in eine verdammte Großstadt, über die wir uns ständig lustig machten. Ich wischte mir die Tränen aus den Augenwinkeln. „Wir sehen uns so oft wie es nur geht. Du kannst zu mir kommen, ich besuche dich. Wir telefonieren jeden Tag, okay? Es wird nicht auffallen, dass ich woanders wohne.“ Ihre Stimme brach weg. Ich riss mich zusammen und wir gingen weiter. „Wann werdet ihr abreisen?“, fragte ich mit belegter Stimme. Sie schaute sich um. „Weiß ich nicht so genau. Dad hat noch keinen genauen Termin bekommen, das wird alles ziemlich kurzfristig entschieden.“ Schweigend gingen wir nebeneinander her. Meine Tränen liefen unablässig die Wangen herunter. Für mich war es, als würde ein Welt zusammenbrechen. Sie war der wichtigste Mensch in meinem Leben, neben meiner Familie. Ich wollte sie nicht verlieren. Ich wusste, dass Telefonate, E-Mails und Besuche nicht das Gleiche waren. Alles würde sich verändern, mein ganzes Leben. „Was denkst du?“, fragte Sai. Ich überlegte. Es war eine Horrorvorstellung mein Leben ohne sie zu führen, für sie ist es sicher auch nicht einfach. „Ich denke daran, dass sich alles verändern wird. Nichts wird mehr das Gleiche sein ohne dich.“ Ich schluckte. „Ich weiß.“
Ich weiß nicht, wie lange wir dort saßen. Es wurde dunkel und wir gingen zurück in die Stadt. Wir kamen an Sais Haus vorbei und hielten an. Ich hatte immer noch einen Kloß´im Hals. Sai nahm mich in die Arme. „Bis morgen, Linnea.“ Ich nickte. „Bis Morgen.“
Ich wartete, bis sie die Tür geschlossen hatte, dann ging ich nach Hause. Ich nahm mir vor, es Sai nicht noch schwerer zu machen. Den ganzen Weg dachte ich immer nur „Reiß dich zusammen.“ Ich kam zu Hause an und ging direkt in mein Zimmer. Auf die Frage meiner Mutter, wie mein Tag gewesen sei antwortete ich nicht. Ich legte eine CD ein, drehte sie laut auf und legte mich auf mein Bett. Ich nahm mir vor nicht mehr zu weinen, doch schon traten wieder Tränen in meine Augen. Okay, ich beschränke mich darauf nicht mehr vor Sai zu weinen, ich wollte ihr einen schönen Abschied machen. ~
Kapitel 1: Selbstmitleid
Drei Wochen später war ich hoffnungslos in eine Lethargie gefallen. Ich sprach mit niemandem mehr, motze alles und jeden an. Nichts brachte mir Spaß, nicht mal mehr das Gitarre spielen. Ich versank in Selbstmitleid, das war mir vollkommen klar. Lediglich die Telefonate mit Sai munterten mich auf. Sie erzählte mir wie es in ihrem neuen zu Hause war. Wie die Leute waren, das sie sich schnell mit ein paar Mädels aus ihrem Jahrgang angefreundet hatte. Wenn sie nachfragte, wie es mir ging, versuchte ich so diplomatisch wie möglich zu sein. Hauptsächlich log ich, damit sie kein schlechtes Gewissen hatte. Ich erzählte ihr, dass sie alle vermissen und sie lachte. „Haha, du veralberst mich. Die sind sicher froh, dass Sai, die Quatschtante weg ist.“ Schon wieder traten mir die Tränen in die Augen. „Warte mal kurz“, würgte ich raus. Ich verdeckte die Sprechmuschel und tat, als ob ich husten müsste, wischte mir die Tränen weg und zog einmal kräftig hoch. „So, bin wieder da!“, tat ich fröhlich. „Na, das hört sich aber nicht gut an. Du wirst doch hoffentlich nicht krank?“
Ich schüttelte den Kopf, obwohl sie es nicht sehen konnte. „Nein,werde ich nicht, hatte nur was im Hals. Also, nun erzähl mir von diesem Typen. Wie hieß er noch gleich?“ Damit hatte ich sie. „Er heißt Jack und er ist echt nett, als er sah, dass ich neu war...“ Ehrlich gesagt hörte ich ihr nicht zu. Hin und wieder brummte ich oder sagte ein fragendes „Echt?“ Ich wollte einfach nur ihre Stimme hören und so tun, als würde sie nur 100 Meter weiter in ihrem Zimmer sitzen. So wie immer, als hätte sich nichts verändert. Natürlich war das Quatsch. Aber diese Tatsache blendete ich gekonnt aus.
Nachdem wir das Gespräch beendet hatten und uns für den nächsten Abend wieder verabredet hatten, setzte ich mich an meinen Schreibtisch. Ich lag mit meinen Hausaufgaben und Schulsachen im Rückstand. Ich hatte bereits 2 'ungenügend' bekommen. Die Lehrer nahmen das nicht besonders ernst. Ich war eine sehr gute Schülerin. Meine momentane Unzurechnungsfähigkeit erklärten sie sich durch den Wegzug meiner besten Freunde. Das stimmte ja auch. Mein Lebensrythmus bestand momentan aus zur Schule gehen, Essen, heulen, nachdenken und wieder heulen, schlafen. Und dann fing der Kram wieder von vorn an.
Mum versuchte mich aufzuheitern. Das funktionierte zwar nicht, aber ich dankte ihr. „Mum, das ist wirklich unnötig. Ich möchte nicht in die Stadt.“ Sie sah mich zweifelnd an. Und winkte mit ein paar Geldscheinen. „Bist du sicher? Es wäre mal was anderes, als nur in deinem Zimmer zu hocken und Trübsal zu blasen.“ Ich starrte in die Ferne. Ja, ich blase Trübsal. War das nicht mein gutes Recht, dachte ich? Meine beste Freundin war weg, meine Seelenverwandte, mein Kummerkasten. Zwei Wochen Trübsal blasen ist gar nichts.
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Vier Tage nachdem Sai mir erzählt hatte, dass sie umziehen würden, kam sie in die Schule und sah anders aus. Rote Augen und ganz käsig im Gesicht. „Du siehst aus wie vom Laster überfahren“, begrüßte ich sie lachend. „In 2 Tagen werden wir abreisen“, flüsterte sie. Ich erstarrte schlagartig. Vorbei war es mit meiner Fröhlichkeit. Ich glaube, ich hatte es versucht zu verdrängen. Nachts kamen natürlich die Träume, aber wenn ich mit Sai zusammen war, versuchte ich nicht daran zu denken. Wieder begann sich etwas in meinem Kopf zu drehen und mir wurde übel. Ich rannte auf die Toilette und beugte mich über eine der Kloschüsseln. Ich versuchte zu würgen, aber es wollte einfach nicht klappen. Ich fing an zu weinen. Nicht still und heimlich, wie in meinen Träumen. Ich saß auf dem dreckigen Toilettenboden und weinte. Ich hörte, wie jemand die Tür öffnete und merkte, dass mich jemand in den Arm nahm. Dann saßen wir da und weinten. Wir weinten, bis wir keine Tränen mehr hatten. Wir sahen uns an. „Du siehst aus, wie vom Laster überfahren,“ meinte Sai traurig. „Haha, sehr witzig.“
Wir standen auf verließen die Schule. Wir nahmen den nächsten Bus nach Hause und gingen dann direkt zu unserer Lieblingstelle im Wald. Wir setzen uns auf die Bank und saßen da.
Die nächsten 2 Tage verbrachten wir jede Minute zusammen. Wir taten alles, was nochmal gemacht werden musste, bevor sie los musste. Wir gingen bei Jamie's ein Eis essen, wir schauten uns einen schmalzigen Liebesfilm im viel zu heißen Kino an, bestellten Pizza nach Hause und redeten.
Bis der Abschied gekommen war. Meine Eltern waren auch da. Sai und ich lagen uns in den Armen – weinend, wie sollte es anders sein. Wir versprachen uns jede Stunde zu melden. Ich gab ihr mein Abschiedsgeschenk. „Mach es erst im Auto auf“, sagte ich zu ihr. Sie nickte und flüsterte „Wir sehen uns bald wieder, okay?“ „Na klar“, sagte ich, „ich komme, sobald Ferien sind.“ Wir umarmten uns nochmal und sie stieg ins Auto.
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Ja, das war vor 2 Wochen. Sai schien sich gut an ihr neues Leben zu gewöhnen. Aber ich konnte es nicht, beziehungsweise ich wollte es nicht. In der Schule versuchte keiner mehr mich aufzuheitern. Ich schwieg alles und jeden an. Ich konnte es ihnen wirklich nicht verübeln. Ich würde auch verärgert sein. In den Stunden starrte ich teilnahmslos aus dem Fenster, gab keine Antworten auf Fragen und in der Pause blieb ich sitzen, steckte mir meine Kopfhörer ins Ohr und stellte auf Laut. Mein Leben war scheiße, davon war ich überzeugt. Niemand mochte mich, keiner wollte etwas mit mir zu tun haben. Allen tat es Leid, dass Sai weg war, aber am meisten, tat ich mir selbst Leid. ~
Kapitel 2: Verabredung
Ich saß in der Schule und hörte mehr oder weniger dem Vortrag der Lehrerin zu. Meine Mutter hatte mir am Tag vorher ein Ultimatum gestellt, nachdem ich meine vierte schlechte Zensur nach Hause gebracht hatte. Entweder ich würde mich langsam zusammenreißen oder sie würde den telefonischen Kontakt zu Sai für eine Weile unterbinden.
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Ich saß mal wieder heulend auf meiner Fensterbank, als ich das Telefon hörte. Ich lauschte gespannt und wartete auf das Rufen meiner Mutter. Es kam jedoch nichts. Enttäuscht starrte ich wieder in die dunkle Landschaft vor meinem Fenster. Die CD, die ich vor einer Weile eingelegt hatte, war längst zu Ende. Das störte mich nicht sonderlich. Dann ging die Tür auf und meine Mutter kam hereingesstürmt. „Das kann doch nicht dein ernst sein, oder?!“, fing sie an, „Das ist mittlerweile die vierte 6, die du mit nach Hause bringst. Dein Vater und ich werden das nicht länger dulden. Es tut uns Leid, dass Sai weg gezogen ist, aber deswegen kannst du nicht deine Zukunft aufs Spiel setzen, in dem du in eine Depression verfällst. Wir haben dir von Anfang an gesagt, dass es okay ist, wenn deine Leistungen in der Schule ein wenig absinken, aber das geht eindeutig zu weit. Außerdem hat mir deine Lehrerin erzählt, dass du häufig nicht zum Unterricht erscheinst. Was soll das Linnea? Ich verstehe dich nicht!“ Ich sah sie gar nicht an, als sie mit mir sprach. Sie hatte Recht, so viel wusste ich auch. Dann sagte sie: „Es reicht mit. Wenn die nächste Arbeit nicht mindestens eine 2 wird, werde ich das Kabel zum Telefon ziehen und Sai mitteilen, dass ihr in der nächsten Zeit keinen Kontakt haben könnt, weil du dich nicht zusammenreißen kannst. Hast du das verstanden?!“ Ich starrte sie mit aufgerissenen Augen an. „Mom, das kann nicht dein ernst sein. In 4 Tagen ist die nächste Hausarbeit fällig. Wie soll ich da denn eine 2 schaffen? Es tut mir Leid, Mom, aber bitte, können wir nicht die Zensur danach nehmen?“ Ich schaute sie bittend an, doch sie schüttelte nur den Kopf. „Nein, das ist unsere Bedingung. Gute Nacht, Linnea. Schlaf gut.“ Sie kam auf mich zu und gab mir einen Kuss auf die Stirn. „Wir wollen doch nur dein bestes“, flüsterte sie. Ich nickte. „Nacht, Mom.“
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Ich hatte also noch 3 Tage Zeit um mit meiner Partnerin eine Hausarbeit zu schreiben und dafür mindestens eine 2 zu bekommen. Ich stöhnte und stand auf. Sam schreib noch was in ihr Notizbuch und ich ging auf sie zu. Ich räusperte mich und versuchte zu lächeln. Wahrscheinlich sah es aus wie eine Grimasse. „Hey Sam“, begann ich, „Du hast nicht zufällig schon was für unsere Hausarbeit getan?“ Sie sah mich an und fing an zu lachen. „Ach Miss Oberschlau meldet sich auch mal.Ich habe meinen Teil fertig“, antwortete sie und betonte 'meinen Teil' ganz besonders. Ich begann zu zweifeln. Vielleicht sollte ich mich einfach verkriechen. Sie hielt mir ein paar Papiere hin. „Was ist das?“, fragte ich. Sie verdrehte die Augen. „Mein Teil. Damit du schauen kannst, was ich habe und was du noch abhandeln musst. Gib es mir morgen bitte wieder.“ Sagte es, drehte sich um und ging. Ich nahm meinen Mut zusammen und lief ihr nach. „Sam, sorry. Du weißt ich komm nicht so gut damit klar, dass Sai weg ist und...“ Ohne mich eines Blickes zu würdigen ging sie weiter. „Würdest du mir bitte helfen?“, brachte ich leise raus. Sie blieb stehen und sah mich wieder an. „Wie bitte?“, fragte sie. Ich seufzte. „Bitte hilf mir. Ich muss ne zwei bekommen und ohne Hilfe wird das nichts. Ich wäre dir sehr dankbar.“ Ich schloss die Augen und betete. „Meinetwegen. Komm heute Nachmittag zu mir und wir können mal schauen, was sich so machen lässt.“ Ruckartig sah ich sie an. „Danke Sam, das ist echt lieb von dir.“ Sie lachte. „Sag das nicht zu früh. Erst mal schauen, was wir so zu Papier bringen!“ Ich lächelte sie an. „Trotzdem danke. Das habe ich eigentlich nicht verdient und das weiß ich.“ Sie verscheuchte eine unsichtbare Fliege mit der Hand. „Wir sehen uns heute Nachmittag!“ Ich winkte ihr zu und sah wieder ein Licht am Himmel. Mit etwas Glück konnte ich das Ultimatum erfüllen.