Der Schutzengel
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Obgleich ich noch keine vier Jahre war, kann ich mich noch gut daran erinnern, als mein Vater mit meiner Mutter, meiner 3 Jahre älteren Schwester und mir aus Kassel in sein Heimatdorf Ecklingerode bei Duderstadt fuhr. Die Kriegsereignisse wurden immer schlimmer, und er wollte uns an einen Ort bringen, der sicherer war als Kassel, das mit seiner Schwerindustrie ein potentielles Angriffsziel feindlicher Bomber war. Auch das Elternhaus meiner Mutter stand in Ecklingerode und wurde für meine Mutter und mich für etwa 2 Jahre das neue Zuhause. Meine Schwester wurde für diese Zeit im Elternhaus meines Vaters einquartiert. Die Häuser waren zwar nicht mehr als 500m voneinander entfernt, aber im Sprachgebrauch der Ortsansässigen lebten meine Mutter und ich nunmehr im Oberdorf, meine Schwester im Hinterdorf. Wenn ich die Augen zu mache, sehe ich noch alles genau vor mir. Mein neues Heim war ein altes zweistöckiges Haus, in dem eine knarrende Holztreppe in die oben befindlichen Schlafräume führte. Im Erdgeschoß befand sich das Wohnzimmer, daß man allerdings nicht betreten durfte. Es war, wie Großmutter es nannte, ein Zimmer für ganz besondere Anlässe. Das Leben spielte sich daher fast ausschließlich in der Küche ab. Hier stand ein großer Herd, der an kalten Tagen die Küche beheizte, auf dem aber auch die Mahlzeiten hergerichtet wurden, wenn es was Warmes zu Essen gab. Von dem heutigen Luxus, der uns in allen Bereichen umgibt, war man meilenweit entfernt. Selbst das elektrische Licht war relativ neu und meine Großeltern waren stolz, wenn sie mit einer Drehbewegung des Schalters für Helligkeit sorgen konnten. Es war nämlich noch nicht lange her, daß Öllampen und etwas später Petroleumlampen der Beleuchtung der Räume dienten. An Waschmaschine, Spülmaschine und die vielen anderen elektrischen und elektronischen Geräte, die unser heutiges Leben so erleichtern, war damals nicht im Traum zu denken. Ein Telefon gab es nur beim Bürgermeisteramt, und das konnte nur in seltenen Notfällen benutzt werden. Auch für uns Kinder war das Leben ein ganz anderes als heute. Das Spielzeug war, wenn es welches gab, überwiegend selbstgebastelt. Beim Spielen mußte man noch die Phantasie walten lassen, um nicht lustlos und beschäftigungslos in der Ecke zu sitzen. Aus meiner Erinnerung kann ich sagen, daß es mir als Kind in dieser Zeit nie langweilig war, wenngleich meine Freizeitbeschäftigungen öfters nicht die Zustimmung meiner Mutter fanden. Wenn ich mit sauberer Kleidung in die Jauchengrube gefallen war oder wenn ich in der Tasche meiner frisch gewaschenen Schürze Würmer sammelte, konnte ich nicht mit dem Wohlwollen meiner Mutter rechnen. Ich weiß auch noch, wie ich mich freute, wenn der schon 10-jährige Nachbarsjunge Gisbert auf unseren Hof kam. Er brachte dann stets einen Zweig frisch geschnittener Weide mit und bastelte mir daraus eine Pfeife, der man verschiedene Töne entlocken konnte. Die Jahre der Evakuierung auf dem Dorf waren für mich eigentlich eine schöne Zeit, in der man nicht ständig merkte, daß man sich in einem furchtbaren und blutigen Krieg befand. Ich kann mich lediglich erinnern, wie meine Mutter, Großeltern und Nachbarn von dem roten Himmel in der Nacht vom 22. zum 23. Oktober sprachen, als Kassel bombardiert wurde und über 10.000 Menschen ihr Leben lassen mußten. Das Grauen dieser Bombennacht konnte man selbst in dem 100km von Kassel entfernten Ecklingerode anhand eines blutroten Streifens, der sich am Horizont abzeichnete, erahnen. Abgesehen davon lebten wir eigentlich ein normales Leben, ohne von dem Krieg allzuviel mitzukriegen. Zwar lief jeden Tag der Dorfschulze mit einer großen Bimmel durch die Straßen des Ortes, hielt etwa alle 200m inne, ließ seine Glocke erklingen, und wartete, bis die Einwohner auf der Straße oder vor ihren Haustüren standen. Dann verkündete er mit gewaltiger Stimme die neuesten Ereignisse, um somit die Ortseinwohner auf dem Laufenden zu halten. Dies betraf aber weniger den Krieg, als normale interne Angelegenheiten des Ortes. Daß sich Deutschland im Krieg befand bekam man hier in Ecklingerode erst so richtig etwa 2 Jahre später mit, als zunächst die Amerikaner und dann die Russen in das Dorf einmarschierten.
Doch nun zurück zu meinen Erinnerungen im Elternhaus meiner Mutter. Hier fand ich es äußerst unangenehm, wenn man als kleiner Junge die Örtlichkeit aufsuchen mußte, denn diese befand sich außerhalb des Wohnhauses in einer angrenzenden Scheune. Von der Scheune abgeteilt gab es ein kleines Kabüffchen. Von außen konnte die Tür über einen Sperrriegel geöffnet und einmal drinnen mit einem Hakenverschluß wieder versperrt werden. Nun sah man ein Bauwerk, das wie eine schwere überdimensionale Holzkiste aussah, deren Oberseite mit einem Loch versehen war. Schaute man in das Loch, konnte es einem wegen der Tiefe schwindlig werden und die Vorstellung, was sich alles auf dem Grund abgesetzt hatte, konnte einem auch keine Freude bereiten. Ich weiß noch, wie ungern ich insbesondere des Nachts diese Örtlichkeit aufsuchte. Für das kleine Geschäft brauchte man zwar das Schlafzimmer nicht zu verlassen, denn dafür gab es die Bettvase, doch für das große Geschäft gab es kein Pardon und man mußte den Weg zur Scheune in Angriff nehmen. Es steckt noch tief in meiner Erinnerung, wie ich bei der Ausübung des Geschäftes auf dem Loch saß und mich mit beiden Händen krampfhaft am Rand festhielt. Das Loch war so groß, daß mein kleiner Körper spielend hindurch passte und der Gedanke daran, daß ich durchrutschen könnte, ließ sich nicht aus meinem Sinn vertreiben. Vor meinem geistigen Auge sah ich mich bei jeder Sitzung durch das Loch rutschen und in den Fäkalien versinken wie im Moor. Nach Beendigung der Sitzung mußte ich zur Endreinigung den Sitz verlassen und mich hinstellen, denn nur so bekam ich die Hände frei, die mich bislang vor dem Absturz bewahrt haben. Nun erst konnte ich von einem Haken ein Stück Zeitungspapier lösen, das nach dem Lesen nunmehr in kleine handliche Stücke geschnitten dem Zweck der Körperhygiene zugeführt wurde. Allerdings mußte man das Papier zunächst vom Zustand der Starre befreien, indem man es zusammenknüllte und alsdann durch Zwirbeln zwischen den Händen in einen Zustand versetzte, der es zuließ, die Reinigung zu vollziehen, ohne sich dabei zu verletzen. Diese Prozedur des Stuhlgangs war so gräßlig, das ich abends, wenn wir alle gemeinsam zum Essen am Tisch saßen, meinen Appetit zügelte, um die Darmtätigkeit nicht noch mehr zu aktivieren. Ich weiß noch, daß ich beim Essen immer auf dem selben Stuhl saß. Mitten über dem Tisch hing eine Lampe, an der immer ein mit Fliegenleim beschichteter Papierstreifen hing. Dieser war meistens übervoll mit festklebenden Fliegen, die zum Teil schon bewegungslos und tot waren, aber auch zum Teil noch lebhaft um ihr Leben kämpften. Ich emfand diese Art der Fliegentötung immer als grausam, hatte aber Verständnis dafür, daß man etwas gegen die Fliegenplage tun mußte. Ganz fest und unauslöschlich ist in meinem Gedächtnis geblieben, daß ich von meinem Sitzplatz aus direkt auf ein wunderschönes Bild blicken konnte, das an der Wand hing. Meine Mutter hatte es als 17-jähriges Mädchen gemalt. Es stellte einen tosendenWildbach dar, über den ein schmaler Steg führte. Mitten auf dem Steg stand ein kleiner Junge und hinter ihm ein Engel, der ihm die Hände auf die Schulter legte. Mich faszinierte das Bild, und ich wurde so sehr von Engel und Kind in Bann gezogen, daß ich mich an meinen Großvater wandte. „Sag mal Großvater,“ hörte ich mich sagen, „warum steht der Engel hinter dem kleinen Jungen?“ Großvater schaute mich ernst an und erklärte:“Das ist ein Schutzengel, der auf den kleinen Jungen aufpaßt und dafür sorgt, daß er nicht auf dem schmalen Steg ausrutscht und in den schäumenden Wildbach stürzt. Jeder Mensch hat einen Schutzengel, der einen durch das Leben begleitet, auch Du mein Kind.“ „Und warum kann ich meinen Schutzengel nicht sehen,“ bohrte ich nach. „Was würde das geben,wenn jeder seinen Schutzengel sehen könnte, nein mein Junge, der Engel ist dafür da, Dich zu beschützen, aber er ist unsichtbar,“ entgegnete Großvater. Ich gab mich mit dieser Antwort aber noch nicht zufrieden. „Woher wußte aber Mutti, als sie dieses Bild gemalt hat, wie ein Engel aussieht?“ Zunächst schien es, als wenn Großvater auf diese Frage nicht antworten wollte, doch dann sprach er leise:“Es gibt nur ganz wenige Menschen, denen es vergönnt ist ihren Schutzengel zu sehen. Nur wer anderen Gutes tut und wessen Lebenswandel aufrichtig und fromm ist, kann zu dieser Gnade kommen.“ Da es für mich nichts Wichtigeres gab, als meinen Schutzengel zu sehen, änderte ich fortan mein gesamtes Verhalten. Meine wenigen Groschen, die ich aus meiner Sparbüchse herauspuhlte, warf ich am nächsten Sonntag beim Kirchenbesuch in den Klingelbeutel. Dem Gottesdienst versuchte ich fromm und konzentriert zu folgen und auch die Kirchenlieder sang ich lauter als sonst üblich mit. Zuhause holte ich jeden Morgen in kleinen Eimern und mehreren Wegen das Pumpenwasser und schüttelte es in ein in der Küche dafür bereitstehendes Gefäß. Ich achtete darauf, daß meine Kleidung beim Spielen nicht beschmutzt wurde, und wenn meine Mutter oder meine Großeltern etwas von mir wollten, gehorchte ich aufs Wort. Ab und zu drehte ich heimlich den Kopf und schaute hinter mich, in der Erwartung, meinen Schutzengel zu erblicken. Doch mein neues Verhalten den anderen gegenüber schien noch nicht gefruchtet zu haben. Mit der Zeit wird es schon klappen, dachte ich, und fuhr fort, ein gutes und anständiges Kind zu sein. Abens im Bett legte ich mich fortan auf die Seite, weil ich Angst hatte, einen in Entstehung befindlichen Engel zu zerdrücken oder in seinem Wachstum zu stören. Morgens wenn ich aufstand, guckte ich verstohlen in den großen Wandspiegel und hoffte auf eine Begegnung mit dem Engel. Aber alles Hoffen war vergeblich. Schließlich erkannte ich die Aussichtslosigkeit meiner Bemühungen und ließ fortan die strengen Regeln, die ich an mein Verhalten gestellt hatte, wieder etwas schleifen. So wurde ich älter und reifte heran, ohne jemals meinen Schutzengel gesehen zu haben.
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Doch auch heute noch, wo ich erwachsen bin, glaube ich an meinen Schutzengel. Er macht sich bemerkbar in der Form der „Inneren Stimme“ und ist bei kritischen Situationen des Lebens zugegen. So vergesse ich beispielsweise nicht, als meine Frau und ich ein neu gekauftes Auto auf der Autobahn einfuhren. Vor mir fuhr ein schwerer Lastkraftwagen mit Anhänger. Ich wollte gerade zur Ãœberholung ansetzen, als eine innere Stimme mir sagte,:“Laß das sein, Du hast doch Zeit.“ Ich unterließ meine Absicht und bremste ab. In diesem Augenblick platzte bei dem LKW ein Reifen, er kippte zur Seite und fiel in voller Länge auf die Seitenplanke. Es war gewiß, hätte ich den Ãœberholvorgang durchgeführt, wären wir von dem schweren Fahrzeug zerdrückt worden. Es muß also eine Warnung meines Schutzengels gewesen sein, die uns das Leben rettete. So gibt es viele Beispiele im Leben, wo man heikle Situationen übersteht, indem man auf seine innere Stimme hört. Der Schutzengel ist allgegenwärtig, und ich sehe ihn nach einer gut überstandenen Notsituation vor meinem geistigen Auge in der Gestalt des Bildes, was meine Mutter als 17-jähriges Mädchen gemalt hatte, nämlich als Engel, der den kleinen Knaben sicher über den schmalen Steg führt.
Hiob2punkt0 Ich bin davon überzeugt, das jeder einen Schutzengel hat und wir bestimmt schon mal einen begegnet sind ohne es in diesen Moment zu wissen. Super Geschichte. |
Ryu1 Sehr schön - geschrieben. Deine Beschreibung des Bildes von dem Schutzengel - meine Silvi kann sich an ein ähnliches erinnern, welches ihre Mutter in ihrem Zimmer hängen hatte. Wirklich eine sehr schöne Geschichte und ich glaube ebenfalls daran, das es Schutzengel gibt! Frohes neues Jahr! Ryu |