Ein Moment
Sie hat endlich Gelegenheit dazu ihr schwarzes, samtenes Cocktailkleid zu tragen. Dazu zwängt sie sich in ihre süßen, schwarzen Sandalen mit für sie gefährlich hohem Absatz. Aber zu welcher Gelegenheit konnte sie diese sonst anziehen?
Sie legt sich ihr silbern mit weißen Steinen verziertes Armband um und trägt am Ringfinger einen dazu passenden, schlichten und klassischen Ring mit einem weißen Stein. Verziert mit einem kleinen weißen Tropfen, der die Kette hinab hängt, sieht sie nochmals in den Spiegel, um zu entscheiden, ob sie ihre langen, rotbraunen Haare dazu zu einem Zopf zusammenbinden sollte oder ob sie die Haarpracht einfach offen lässt. Wie sie es am liebsten hat, entscheidet sie sich für Letzteres und streicht ihre Lippen mit einem tiefen Rotton nach.
Einen Blick auf die massive, dunkle Standuhr aus Mahagoni verrät ihr beim Hinausgehen des Badezimmers und Eintreten ins Wohnzimmer, dass es jeden Moment so weit sein konnte.
Ihre Großmutter wartet voller Stolz an einem Stuhl lehnend und schenkt ihr ein zufriedenes Lächeln. „Du siehst toll aus!“, sagt sie mit einer Ehrlichkeit, die Alice aus ihrer Unsicherheit wirft. „Danke.“, gibt sie zurück und zeigt die Andeutung eines Lächelns.
Wie aufs Stichwort ertönt eine Autohupe, die auf Antwort hofft und Alice schnappt sich ihre kleine, rote Handtasche, umarmt ihre Großmutter zum Abschied und saust dann zur Tür hinaus.
Die Autotür öffnet sich und ihr bester Freund Sebastian steigt aus, um sie hinten einsteigen zu lassen. Auf dem Beifahrersitz wartet bereits ihre beste Freundin Ray ungeduldig und mit einem gespielt genervtem Lächeln auf sie.
Alice saust los und nimmt auf dem hinteren Sitz des silbernen Hondas Platz.
Die ganze Autofahrt streiten sich Ray und Sebastian darum, wo sie die Eintrittskarten verstaut haben und wessen Verantwortung dies eigentlich genau gewesen war. Alice klinkt sich aus und hält ihren Blick starr aus dem Fenster und träumt vor sich hin. Die Wälder und Wiesen brausen an ihr vorbei und die Sonne verschwindet hinter dem Horizont und hinterlässt rötliche Wellen am Himmel, die ebenso die Landschaft unter sich in dessen Farbton taucht.
Nach nur wenigen Minuten Fahrt scheint die Sonne sich ganz verabschiedet zu haben, um den ersten Sternen und den jetzt schon deutlich erkennbaren Mond Freiraum zu schaffen.
Als Alice das Fenster öffnet, bläst ihr der Wind eine kühle und frische Sommerbrise entgegen. Doch schnell folgt Protest und sie schließt das Fenster wieder, um nicht die Frisur ihrer Freundin Ray auf dem Gewissen zu haben.
Als sie auf dem Parkplatz Halt machen, verstummt endlich die Diskussion über die Eintrittskarten, weil sie unachtsam zwischen etlichen CDs im Handschuhfach liegen und endlich durch Ray entdeckt werden.
Sebastian steigt aus und hilft Alice, die sich jetzt schon hinfallen sieht, aus dem Wagen. Durch das theatralische Türknallen der Beifahrerseite ist ihnen klar, dass Rays gute Laune sich in Grenzen hält. Aber das kann Alice heute Abend nichts anhaben. Unermüdlich und mit einem freudigen Strahlen stolziert sie auf ihren hohen Absätzen zum Eingang. Ray hakt sich bei ihrem geliebten Sebastian ein, trotz nicht allerbestem Gemüts, und tut es ihr nach.
Hastig kramt Sebastian am Eingang die Eintrittskarten hervor und lässt sie vom Kartenabreißer entwerten. Daraufhin treten sie ein und warten darauf, bekannte Gesichter zu erkennen.
An einer Bar machen die Drei Halt und setzen sich auf schmale, rote Barhocker, drehen sich aber in Richtung Tanzfläche: dem Geschehen des Abends.
Es war nicht ihre eigene Abschlussfeier, aber Alice hat sich trotzdem heimlich schon lange auf diesen Abend gefreut, da sie an ihm die Gelegenheit hat, viele Schulfreunde von damals wieder zu sehen. Und einige lassen nicht lange auf sich warten, erkennen sie und ihre beiden Freunde, begrüßen sie herzlich und fragen sie, was sie nun so treibt.
Eric, der früher eine Brille getragen hatte und lange Zeit ein guter Freund von ihr gewesen war, setzt sich zuerst zu ihr und fragt sie aus. Alice hat Phasen, in denen sie gern lieber für sich ist, aber diese ist keine davon und so plappert sie freudig drauf los und erzählt, dass sie noch immer zur Schule geht, aber bald ihr Studium beginnt.
„Die 10. Klasse war eine witzige Zeit!“, lacht er ihr ins Gesicht und sie hat dem nichts entgegen zu setzen. „Die tollste Zeit überhaupt!“, sagt sie und lässt sich einen weiteren Kirschsaft mit Batida de Coco einschenken.
Sie weiß genau, dass Eric in der 10. auf sie stand und sie daher besser kennt als viele andere, die sie heute wiedersehen würde, daher war es ihr angenehm mit ihm zu lachen und herum zu albern. Ray und Sebastian entscheiden sich spontan dazu, zu tanzen, was Alice in ihren kühnsten Träumen nicht zu wagen gedacht hatte. Von ihnen nicht und erst Recht nicht von ihr selbst.
Daher ist sie froh, dass wenigstens Eric noch eine Weile bei ihr sitzt und sie unterhält. Aber nach einigen Minuten taucht seine Verlobte Jen auf und zwingt ihn auf die Tanzfläche. Alice ist darüber sichtlich amüsiert und schwenkt ihr volles Glas, um nicht ebenso zum Tanzen animiert zu werden. Eine Weile sitzt sie allein da und beobachtet Ray und Sebastian, die nun beide denselben, glücklichen Gesichtsausdruck angenommen haben, sich gefunden haben... und wendet sich schließlich ihrem Glas und der Bar zu.
Eine wundersam kalte Brise zieht hinter ihr vorbei, streift ihren mit den offenen Haaren bedeckten Rücken und hinterlässt eine Gänsehaut, die aber erst erfolgt, als sie ein sehr bekannter und betörender Geruch in die Nase steigt, nur für ein paar Sekunden und trotzdem ihr Herz lähmt und ihren Atem kurz aussetzt, damit er den Duft nicht wieder durch Nase oder Mund freigibt.
Ihr Blick weicht sachte nach links und nimmt in Augenschein, wen der Geruch schon angekündigt hat. Er ist da. Er ist also wirklich da.
Alice sieht an sich hinab, um zu kontrollieren, ob ihr umwerfendes Kleid auch noch so an ihrem Körper saß, wie es sollte. Dann tritt ihr der Duft ihr wieder in die Nase, intensiv und betäubend.
Eine kühle Hand legt sich auf ihre nackte Schulter und sie dreht sich reflexartig nach links, um sich zu überzeugen, dass es wahr ist.
„Hey, du bist ja auch hier!“, raunt er ihr entgegen und als ihr Blick seinen trifft, setzt ihr Herz für einen Moment aus. Er nimmt seine Hand wieder von ihrer Schulter und setzt sich zu ihr.
„Ja...!“, sagt sie schüchtern, aber deutlich und lächelt ihn an, obwohl sie das eigentlich nicht will.
Er bestellt sich etwas zu Trinken, das sie nicht versteht und sie nutzt den Augenblick, um seine kurzen, dunklen Haare, die er sich früher immer gegelt hatte, und sein Profil an sich, genauer zu betrachten. Dann wendet er sich ihr wieder zu und nippt an seinem Glas.
„Was machst du denn hier?“, fragt Alice und schiebt ihre Augenbrauen etwas zusammen und grinst beinahe. Sie kann sich nicht erklären, warum er wirklich hier ist.
„Ein Freund von mir feiert hier heute und ich sollte mit, nichts weiter... Und du?“, er wirkt lässig und gar nicht scheu, mit ihr zu reden. Sie ist sich sicher, er würde noch immer davon ausgehen, sie sei in ihn verliebt und würde sich, wie damals darüber lustig machen. Aber das tut er nicht.
„Ray und Sebastian.“, sagt sie, wirft einen Blick auf die Tanzfläche und zeigt mit ihrem Finger auf ein tanzendes Pärchen.
Er nickt zustimmend und nippt erneut an seinem Glas. Sein Lächeln ist tödlich, das weiß Alice.
Sie weiß auch, dass so ein zwangloses, ernst gemeintes und nettes Gespräch früher niemals zustande gekommen wäre und sie ihn trotzdem geliebt hatte. Weil sie etwas in ihm erkannt hatte, das für andere unsichtbar zu sein schien. Doch nun trägt er die unglaubliche Nettigkeit wie auf einem Silbertablett vor sich her.
Eric kommt plötzlich wieder und erkennt seinen alten Rivalen und trotzdem damals guten Bekannten und gesellt sich zu ihnen. Er stellt sich vor die beiden Barhocker und verzieht angeekelt sein Gesicht als er in sein Gesicht blickt. Alice muss sich unweigerlich ein Lachen verkneifen und wartet ab, was passiert.
Und plötzlich ist es wieder da. Sein altes, herablassendes Ich.
„Man, siehst du scheiße aus!“, sagt er so als wäre es ihm todernst trotz Lächelns, aber Eric lacht einfach zurück und weicht ihm aus, indem er sich zu Alice dreht und mit ihr ein Gespräch über einen belanglosen Film beginnt.
Da ist es auch schon geschehen und er verschwindet. Aber Alice versucht sich nichts anmerken zu lassen, nippt an ihrem Mischgetränk und trinkt es schließlich mit einem Male leer.
Der Rest des Abends vergeht schnell und amüsant. Sie albert viel mit Ray und Sebastian herum, als diese vom Tanzen zurückkehren und trifft den Einen oder Anderen von früher.
Als es bereits nach 2 Uhr nachts ist, geht sie ein letztes Mal auf die Damentoilette, um sich frisch zu machen, zieht ihren Mund mit dem roten Lippenstift nach und schleppt sich auf ihren nun stechenden Schuhen zurück in den Club.
Sie hält sich gähnend die Hand vorm Mund und sucht ihre Leidensgenossen, um mit ihnen endlich nach Hause zu fahren. Doch wo sie auch hingeht, sie findet sie nicht.
Der stechende Schmerz ihrer Füße wird stärker und sie beschließt eine letzte Runde zu machen und dann zum Auto zu gehen, um sie hoffentlich dort anzutreffen.
Als sie hinausgeht, weil sie die letzte Runde umsonst gelaufrn war, ist es noch kälter als zuvor und sie schlingt ihre Arme um ihren Körper und fängt an zu zittern. Sie geht langsam und vorsichtig über den Parkplatz und versucht sich zu erinnern, wo sie das Auto geparkt hatten, weiß es aber nicht mehr und setzt sich dann müde und genervt zur Eingangstür, um auf sie zu warten.
Sie rutscht die Mauer herunter, achtlos, ob es ihrem Kleid nicht schaden könnte, und zieht die Beine an ihren Oberkörper heran. Ihren Kopf lehnt sie auf ihre Knie und sieht starr geradeaus. Wäre es nicht so kalt, denkt sie, würde ich jetzt sofort einschlafen.
Sie wird erst aus ihren Träumereien gerissen, als, ohne Vorwarnung eines Geruchs, plötzlich der schönste Mensch aller Zeiten wieder vor ihr steht.
„Was machst du da?“, fragt er sie und Alice neigt ihren Kopf nach oben, um in seine bezaubernden, dunklen Augen zu schauen.
„Ach, ich sitze hier bloß so herum...!“, sagt sie betont sarkastisch und sein Blick verändert sich.
Ihre Augenbrauen schieben sich nach oben und Alice schmollt für einen kurzen Moment und erklärt schließlich: „Nein, tut mir Leid, ich bin total müde. Ich warte hier auf Ray und Sebastian. Ich will nach Hause!“
Er beginnt endlich wieder zu lächeln und hockt sich zu ihr, während Alice' Blick seine Augen nicht verlässt und der Bewegung folgt.
„Also ich hab gehört die sind schon los. Bist du mit denen hergekommen?“, fragt er seltsam besorgt und Alice kann es kaum fassen.
„Die sind schon weg?“
„Ja, ich meine schon.“
„Die sind weg?“, fragt sie ungläubig und hoffnungslos.
„Ja!“, lacht er wieder.
„Die sind weg!?“, diesmal klingt es mehr wie eine Aussage, die Alice nicht glauben kann und steht gemeinsam mit ihm auf.
Sie stemmt einen Arm in die Hüfte und wirbelt mit der anderen Hand ihre Handtasche hin und her.
„Ich kann dich mitnehmen, wenn du willst. Ich bin auch mit Auto hier.“, sagt er und bringt sie damit aus dem Gleichgewicht und sie ist beinahe hingefallen und überspielt es schnell mit einem weiteren Herumdrehen ihrer Handtasche.
„Würde das gehen?“, sie ist sich unsicherer denn je. Warum sollte er das tun? Er kann sie doch eigentlich gar nicht leiden!
Er nickt und legt ihr einen Arm um die Schulter und ihr Herz bleibt stehen, doch ihre Füße gehen zum Glück weiter voran. Schnell inhaliert sie wieder seinen Duft als er in ihre Nase steigt.
„Hätte nicht gedacht, dass du auch so normal sein kannst.“, kommt es plötzlich von ihm und sie ist so verwirrt, weil ihre Gedanken genau dieselben Worte formen wollten.
Sie möchte sich gern ohrfeigen, weil sie ihm einfach so verfällt und nichts dagegen tun kann. Wieder. Sie kennt sein wahres Ich. Dieses nette Ich. In seltenen Situationen hatte sie es damals kennen und lieben gelernt.
Eigentlich will sie sagen „Ich bin immer so, nur du kennst mich einfach nicht!“, aber sie bringt die Worte nicht heraus, stattdessen sagt sie etwas Nettes und zudem so Ehrliches, dass sie sich beinahe deswegen ihre Zunge abbeißt: „Ja, ich kann auch nett zu dir sein.“
Er scheint zu schmunzeln und antwortet nichts mehr darauf. Am großen Geländewagen angekommen, öffnet die Zentralregelung alle Türen, sein Arm gleitet von ihrer Schulter und sie steigt zur Beifahrerseite ein.
Sie unterdrückt ein lautes Gähnen und befreit endlich ihre Füße von den gefährlichen Schuhen. Dann sinkt sie tiefer in den Sitz und hört, wie er den Motor startet.
Ein letztes Mal betrachtet sie sein markantes Gesicht und lässt ihren Kopf danach auf ihre rechte Schulter fallen und blickt in die herrliche Nacht hinaus.
Die Sterne sind so klar am Himmel, dass sie denkt, sie würden zugleich auf die Erde hinab fallen. Und der kreisrunde Vollmond scheint so stark, dass jegliche Laternen, an denen sie vorbeifahren, dagegen aussehen, wie ein paar jämmerliche Glühwürmchen.
Sie lauscht dem ruhigen, melodischen Song aus dem CD-Player und nickt schnell ein.
Als sie wieder aufwacht, steht er neben ihr, der Motor des Autos ist bereits aus und sie stehen auf einem fremden Hof.
„Tut mir Leid, ich musste dich jetzt wecken. Wir sind da.“, sagte er ruhig und zärtlich.
Alice rieb sich ihre Augen, gähnte einmal stark, schnappte sich dann ihre Sandalen und ihre Handtasche und stieg hinaus.
Ihre nackten Füße landeten auf glatten Steinen, die unter ihrem Gewicht knirschende Geräusche von sich gaben.
Um Alice Frage zuvor zu kommen, erklärt er rasch: „Du bist eingeschlafen und ich wollte dich nicht wecken. Aber ich weiß ja nicht, wo du wohnst, also hab ich mir gedacht, dann schläfst du eben heute bei mir.“
Urplötzlich ist Alice wach und sieht sich in der herrschenden Dunkelheit um. Sie stehen vor einem großem Haus, das beinahe schon als Anwesen gelten könnte. Eine Laterne in der Einfahrt und ein Licht an der Hauseingangstür sind die einzigen Lichter, die Einblick auf seine Heimat geben.
„Ist das okay? Oder ich fahr dich eben jetzt nach Hause.“, sagt er, doch Alice schüttelt rasch den Kopf. Sie weiß, die übermannende Müdigkeit kann sie jederzeit wieder einholen.
Er lächelt ein wenig zu zufrieden und öffnet die Eingangstür.
Als Alice eintritt, ist sie überrascht vom alten, klassischen Stil der Einrichtung. Sie betrachtet die majestätische Treppe und begutachtet die weißen Säulen neben sich. Nie hat sie geahnt, dass er in so einem Palast wohnen würde. Vielleicht galt er deshalb als so verzogen und gemein.
Er bittet sie die Treppe hinauf und zeigt ihr ein leerstehendes Zimmer, das heute Nacht nur für sie bestimmt ist. Sie schmeißt sich aufs Bett und stöhnt begeistert auf, dann wendet sie ihren Blick wieder ihm zu.
„Jetzt bin ich irgendwie nicht mehr müde.“, sagt sie als eine Weile Schweigen herrscht.
„Komm mit, ich zeig dir was.“, er macht eine einladende Bewegung mit der Hand und ist aus der Tür verschwunden. Alice steigt vom Bett und geht ihm nach.
Sie gehen die Treppe wieder herunter und Alice wird durch die übergroße, vielleicht auch etwas übertriebene Küche ins charmante Wohnzimmer geführt, das ihr sofort heimisch vorkommt.
Und als sie sich nach links wendet, sieht sie in dem nicht zu grellen Licht, das er angemacht hat, einen wunderschönen, schwarzen Flügel.
„Spielst du?“, fragt er, als er bemerkt, dass Alice ihren Blick nicht mehr davon wenden kann.
„Nein, leider nicht.“, sagt sie enttäuscht und begutachtet trotzdem die immense Schönheit des Klaviers, das ihm dabei war Konkurrenz zu machen.
„Komm mit.“, sagt er und setzt sich auf den länglichen Hocker, der am Flügel bereitsteht. Alice ist kaum in der Lage die Worte zu verstehen, weil sie noch so gebannt ist von dieser ganzen Situation. Eilig huscht sie sich neben ihn und zwingt sich dazu, ihm nicht wieder in die Augen zu sehen.
Doch plötzlich ergibt sich in ihrem Kopf eine so wundervolle Melodie, dass ihr Herz erneut einen Aussetzer hat, bis sie merkt, dass die Melodie nicht in ihrem Kopf ist, sondern von ihm auf dem Flügel gespielt wird.
Ihre Augen folgen seinen flinken Fingern und sie lässt sich ganz auf die tiefe Grundmelodie, der helle, dramatische Töne eilig folgen, ein.
Nun kann Alice nicht anders und sieht in sein Gesicht, das so anders aussieht als sonst: so erwachsen, so ernst, so ernst-nett irgendwie, so gütig und warm. Ihr entwischt ein glückliches, sehnsüchtiges Lächeln und er sieht sie genau in dem Moment an und – ihr Atem setzt aus – erwidert ihr Lächeln.
Er hört nicht auf, sie anzusehen, die Melodie findet langsam und tragisch in seiner Eleganz ein Ende und er beugt sich ganz langsam und vorsichtig zu Alice herüber.
Ihr Lächeln verschwindet, als sie sieht, dass sein Mund leicht geöffnet ist und seine Augen die ihre verschlingen.
Ihre Zunge streicht reflexartig über ihre Unterlippe und ihre Finger beginnen zu zittern, als sie seinen Blick sie verschlingen lässt und ihren Kopf ein Stück weit mehr in seine Richtung neigt. Plötzlich, sie hat es nicht kommen sehen, weil ihr Blick in den unendlichen Tiefen seiner Augen verharrt war, streichen die Innenfläche und die Finger seiner rechten Hand ihre linke Wange und lösen ein nie da gewesenes Gefühl in ihr aus. So intensiv und mächtig, dass kein Wort es beschreiben könnte.
Sie legt ihr Gesicht in seine Hand und beobachtet, dass sein Blick einen kleinen Moment auf ihren Lippen haften bleibt, als wolle er fragen, ob er darf. Und dann ist es um sie geschehen. Er darf.
Er küsst sie sanft und zärtlich auf den Mund, nicht kurz und nicht lange, sondern genau richtig. Ihr Herz scheint für die Dauer des Moments still zu stehen. Sie weiß erst, dass auch er seine Augen geschlossen hatte, als sie ihre vor seinen öffnet und sich ihre sehnsüchtigen Blicke wieder treffen. Diesmal küsst er sie länger und leidenschaftlicher. Sie drückt sich näher an seinen Körper und er beginnt ihre Haut zu streicheln, doch hört er abrupt auf, beendet den viel zu schönen Kuss viel zu früh und steht ruckartig auf.
Mit den Händen in der Luft, an dessen Stelle eben noch sein Oberkörper war, sitzt Alice dort und sieht ihn an mit einer Mischung aus Verwirrung, Beschämtheit und dem Gefühl der Ablehnung.
Er sieht zur Seite und atmet hektisch ein und aus, ihm scheint die Luft zu fehlen, um seine Worte zu verfassen.
„Es tut mir Leid... Gute Nacht!“, sagt er hektisch und nervös und dreht sich einfach um, geht aus dem Wohnzimmer hinein zur Küche, von dort aus zur Treppe und verschwindet irgendwo oben.
Alice' Herz beginnt langsam wieder zu schlagen und sie beschließt, ihn jetzt nicht zu bedrängen, sondern es dabei zu belassen, dass dieser unglaubliche Moment von eben nur ein unglaublicher Moment bleiben würde.
Sachte streicht sie mit ihren noch immer leicht zitternden Fingern über die Tasten des Flügels und versucht in ihrem Kopf die schöne Melodie zu behalten. Sie summt sie vor sich hin und ihre Finger streichen immer noch unaufhörlich lautlos über die Tasten.
Sie ist so tief in die Melodie versunken und summt sie vor sich hin und hofft, dass es nicht zu laut ist, dass sie nicht merkt, dass er wieder im Zimmer steht.
Ihre Lippen bilden ganz einfach die Worte und sie fängt an zu seiner wunderschönen Melodie das, was ihr einfällt, zu singen. Die englischen Zeilen aus ihrem Inneren vermischen sich mit der Tragik der hohen Töne aus ihrer Erinnerung.
Er schleicht langsam ins Zimmer und sie ist so dabei das Lied zu verwirklichen, dass sie es erst merkt, als er beinahe direkt neben ihr steht.
Ängstlich und wie ein scheues Reh, das seinem Ende naht, blickt sie ihn an, der so ruhig und intensiv ihren Blick erwidert, sich schweigend neben sie setzt und die Finger einfach wieder über die Tasten fliegen lässt.
Alice, die nicht gern vor anderen Menschen singt, saugt die Melodie erneut in sich auf, doch diesmal summt sie sie mit und beginnt schließlich wieder zu singen.
So sitzen sie eine ganze Weile da. Ihr kommt es schon so vor, als hätte er das Lied um einiges verlängert, nur um sie noch eine Weile singen zu hören und sie ist sogar irgendwie froh darüber, denn auch sie will, dass es mehr als nur ein Moment ist.
Dann endet das Lied, anders als zuvor, mit hellen, nicht-dramatischen Tönen. Sanft und irgendwie fröhlich. Er legt die Finger von den Tasten und ihre Blicke treffen sich erneut.
Es ist mehr als nur ein Moment.
Inspiriert durch: http://www.youtube.com/watch?v=rn6c1u_T_HI