Doch alle riefen Mörder – Projekt die Waffe - 2009
Sie nannten ihn Don Juan: Einen kleinen zierlichen Knaben im Alter von ca. sechs Jahren. Don Juan liebte es, mit seinen älteren Bruder Artischocke, so nannte er ihn, die Westernabenteuer nachzuspielen, die er im Fernsehen sah.
Ich lag einsam und verlassen in einer Sandkiste. Mir war kalt und ich wollte wieder in mich wärmenden Händen gehalten werden. Als ich hier so da lag und über die Kälte und mein Leben nach dachte, begann ich über die Menschheit zu philosophieren. Waren alle Menschen gewillt zu töten? Ist es einer Waffe bestimmt Schmerz und Leid zu verbreiten? Bin ich Werkzeug des Teufels oder nur ein unglückliches Etwas in bisher unglücklichen Händen?
„Naja, wer weiß, wer mich nun finden wird“, dies dachte ich mir in diesem kalten grauen Moment.
Und wer fand mich? Don Juan. Ich lag hier im rauen Sand und überlegte mir welche Person mich nun finden würde. Vielen unterschiedlichen Persönlichkeiten fiel ich bereits in die Hände, doch an ein Kind hätte ich nicht gedacht.
Seine Hände waren weich und sanft. Er legte mich von der einen in die andere Hand. Ich hörte ihn stammeln: „He cool, eine Spielzeugpistole! So eine wollt ich schon immer einmal haben. Artischocke wird staunen, ich werde das nächste Duell gewinnen!“ Er freute sich, wie ein kleines Kind sich eben freute: leuchtende Augen und strahlendes Gesicht.
Seine Hände umschlossen meinen Griff sacht und graziös. Er wendete mich noch ein paar Male, steckte mich schließlich in die Bauchtasche seines Pullovers und marschierte mit mir los.
Endlich hielt Don Juan an. Wo wir waren, war mir noch nicht bestimmt zu entdecken.
Lange Zeit lag ich im Dunklen umhüllt von weichem wärmenden Fließ. Jegliches Zeitgefühl hatte ich verloren und träumte von den Menschen, die ich ermordete ohne, dass ich über ihre Schicksale entscheiden konnte. Ich besiegelte es nur. Mich fragte niemand. Ich war nur Werkzeug der Menschen - ein Instrument des Grauens.
Ich fragte mich, was der kleine Junge mit mir vorhatte. Ich war nicht bestimmt für seine Hände.
Vergnügt, so nahm ich an seinem Gehopse an, trug er mich fort. Ich sah nichts von der mir abgeschirmten Welt.
Plötzlich vernahm ich Stimmen. Laute Stimmen. Kinderstimmen. „Don Juan, bist du bereit für ein Duell?“ „Da fragst du noch, Artischocke?“, rief Don Juan lachend und fordernd. Ich hörte einen Bogen zücken. „Doniboy, deine Niederlage ist gewiss.“ Die Stimmen, die ich hörte klangen nicht böse, nicht grausam. Es schien ein Spiel zu sein.
Ruckartig wurde ich aus meinen Gedanken gerissen. Ein Pfeil hatte uns getroffen. „Pass doch auf Karl!“, rief Don Juan. „Du tust mir weh!“ „Ach David, du tust wie ein Mädchen. Tu doch endlich weiter, du bist am Zug!“ Artischocke wirkte ungeduldig.
„Mensch David, du bist an der Reihe!“ Ein zweiter Pfeil traf uns. „Karl, du bist nicht dran!“, schrie Don Juan aufgebracht. Er umklammerte mich und plötzlich sah ich Artischocke. „He David, Pistolen sind nicht erlaubt!“ „Warum? Du bist Indianer, und ich spiele den Cowboy. Cowboys schießen nicht mit Pfeilen. Also bring dich in Sicherheit, ich zähle bis drei!“ Artischocke zuckte die Schultern.
„Eins!“ Artischocke machte einen Satz in Richtung Springbrunnen. Don Juan umklammerte mich fester. „Zwei!“ Artischocke rutschte aus und blieb auf der Wiese liegen. Don Juan ging auf ihn zu. „Drei!“ Don Juans rechter Zeigefinger befand sich zwei Millimeter vor meinem Züngel. Der Finger berührte ihn. Meine Kugel löste sich. Ein lauter Knall entstand. Don Juan sah rot. Ich war nicht gesichert.
Don Juan ließ mich vor Schreck fallen, er war leichenblass. Seine Lippen bibberten, seine Hände waren schwitzig und er nässte sich in seine Jean.
Ich lag im Gras und erblickte den reglosen Körper von Karl. Es war nicht mehr Artischocke, denn das Spiel war zu Ende, ehe es begonnen hatte.
Karl lag mit offenem Mund einfach nur da. Vielleicht stöhnte er, oder röchelte, ich nahm es jedoch nicht wahr. Der Anblick war grausam. Der Schuss war ein glatter Durchschuss seiner Bauchhöhle gewesen.
Don Juan riss mich vom Boden und wickelte mich in seinen Pullover ein. Er begann los zu rennen. Wohin? Diese Frage stellte ich mir nicht.
Ich hörte ihn bibbern. Aus dem Bibbern wurde Schluchzen, aus dem Schluchzen wurden Schreie. Schreie, in der Welt, die niemand hörte; Schreie, die keinen Laut machten; Schrei, denen er nicht Zunge gab.
In umliegender Nähe hörte ich Hilferufe von Männern und Schreie einer Frau. Es schien so, als würden bereits Menschen auf das Geschehen aufmerksam geworden sein. Ich fragte mich, wozu ich geschmiedet worden war. Wohl kaum um ein Kind zu richten. Wohl kaum um in zarte Kinderhände zu gelangen. Wozu war ich bestimmt? „Was habe ich bloß gemacht? Ich habe ihn erschossen. Ich wusste nicht, dass die Waffe geladen war. Ich wusste nicht, dass die Waffe echt ist.“, sprach Don Juan mit zitternder Stimme. Er sprach mit sich selbst. Er sprach nicht, er wimmerte.
Ich überlegte mir, was nun mit Don Juan geschehen würde. Was passiert mit einem sechs jährigen Knaben, der im Spiel seinen Bruder erschossen hatte? Don Juan redete mit sich selbst. Laut und leise. Scheint er verrückt zu werden oder entflieht er aus seiner grausamen Welt?
Die Stimmen in Don Juans Kopf bebten. Sehnsüchtigste suchte er das gute Gewissen, doch alle Stimmen riefen Mörder.
Es machte einen Ruck und ich flog durch die Luft. Der Pullover, in dem ich eingewickelt war, machte sich von mir los. Ich sah, wie ich von einer Brücke flog. Es krachte. Ich landete auf einem Autodeck. Schon wieder lag ich da und konnte mich nicht rühren. Mir war kalt und langweilig.
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