Es war einmal vor vielen, vielen Jahren ein kleines Mädchen, das hieß Antonia. Antonia lebte zusammen mit vielen anderen Kindern in einem Waisenhaus, denn sie hatte keine Eltern mehr. Nach dem frühen Tod ihrer Mutter hat ihr Vater noch einige Zeit für sie und ihren größeren Bruder sorgen können, doch eines Tages starb auch der Vater und die beiden Geschwister blieben allein zurück. Den Buben nahm bald darauf ein Drechsler in die Lehre, doch um das kleine Mädchen wollte sich niemand so recht kümmern. Es kam von einer Pflegefamilie zur anderen, bis es schließlich im Waisenhaus landete.
Es war ein schönes, neues Haus, das von frommen Nonnen geführt wurde. Ein großes Gebäude mit mehreren Stockwerken und einer wunderschönen Kapelle. Rund um das Haus gab es einen großen Park mit hohen Tannenbäumen, in denen sich Eichhörnchen tummelten. An den Park schloss ein großer Gemüsegarten an, den die Kinder pflegen durften. Jedes Mädchen konnte sich ein kleines Beet aussuchen. Neben Beeten mit Karotten, Petersilie und Kohl, gab es noch viele andere Gemüsesorten. Das Gemüse wurde in der Küche verwendet und die Kinder wetteiferten untereinander, jedes Kind wollte der Köchin das beste Gemüse bringen. Die größeren Mädchen kümmerten sich um die Blumenbeete am Ende des
Gemüsegartens, Blumen brauchte man für die Kapelle. Dort standen immer Vasen mit frischen Schnittblumen neben dem Altar. Oft konnten die Mädchen das Ende des Nachmittagsunterrichtes kaum erwarten, denn dann ging es auf in den Garten. Dort wurde Unkraut gejätet, die Erde um die Pflänzchen gelockert und natürlich auch viel getratscht und gelacht. Antonia hatte sich zusammen mit ihrer Freundin Anna ein Beet mit Karotten ausgesucht. Antonia liebte Karotten – ihr gefiel die leuchtend rote Farbe. Die beiden Mädchen gossen die jungen Pflänzchen immer fleißig, darum zählten ihre Karotten zu den schönsten und größten - sie waren mächtig stolz darauf. Im Garten hatte Schwester Agnes die Aufsicht.
Sie war nicht besonders streng und lachte oft so herzlich, dass die weißen Zipfel ihrer Haube lustig auf und ab wippten. Ja, der Sommer im Garten mit Schwester Agnes war eine schöne Zeit für die Mädchen, nicht zuletzt weil es im Sommer auch keine Hausaufgaben zu schreiben galt.
Im Haus selbst gab es in jedem Stockwerk einen Speisesaal mit großen Tischen und Holzbänken, zwei Klassenzimmer und einen großen Schlafsaal. Dort hatte die strenge Schwester Lätitia die Aufsicht. Sie war eine große, starke Frau mit finster blickenden Augen. Keines der Mädchen hat sie je lachen gesehen. Die Betten mussten jeden Tag ordentlich gemacht sein, das Leintuch straff
gespannt und wehe, da gab es irgendwo eine kleine Falte. Nichts entging Lätititas scharfen Augen. Neben jedem Bett stand ein kleines Nachtkästchen, dort konnten die Kinder persönliche Sachen aufbewahren. Nur, was sollte Antonia dort hineingeben? Persönliche Sachen hatte sie ja keine. Auch ihrer Freundin Anna ging es nicht besser, doch die Mädchen waren bescheiden. Immerhin hatten sie jeden Tag zu essen und ein warmes Bett - was damals nicht für alle Kinder selbstverständlich war, wie Schwester Lätitia immer wieder betonte. Spätabends, wenn das Licht im Saal schon abgedreht und Schwester Lätitia längst zu Bett gegangen war, erzählten sie sich leise Geschichten von früher, von der Zeit als sie beide noch nicht im
Waisenhaus waren und träumten davon, wie schön es wäre, wenn sie noch Vater und Mutter hätten. Besonders in der Vorweihnachtszeit überkamen sie oft traurige Gedanken.
Ob das Christkind auch in ein Waisenhaus kommen würde?
Da das Christkind auf kein einziges Kind vergisst, kam es natürlich auch in das Waisenhaus und am Weihnachtsabend stand mitten im Speisesaal ein riesiger Christbaum. Er reichte bis zur Decke und war über und über mit Kerzen, Engelshaar und Lametta geschmückt. Glitzernde Ketten verbanden die einzelnen Zweige und oben auf der Spitze
prangte ein riesiger, goldener Stern. Für jedes Kind war ein eigenes Zweiglein – mit Namenskärtchen gekennzeichnet – auf dem Baum reserviert. Eine goldene Nuss, ein großer weißer Lebkuchenstern, ein Zuckerringerl, ein kleiner, roter Apfel und ein kleines Zwerglein aus Tannenzapfen hingen auf jedem Zweig. Das Zwerglein hatte ein rotes Mützchen auf und war allerliebst anzusehen. Antonia und Anna standen staunend vor dem Baum und konnten ihr Glück gar nicht fassen. Da war das Christkind doch tatsächlich auch zu ihnen in das Waisenhaus gekommen. Immer wieder liefen sie zu ihrem Zweiglein und lasen ihr Namenskärtchen. Glückselig schliefen sie in dieser Nacht ein.
Als sie am nächsten Morgen erwachten, galt ihr erster Gedanke dem Weihnachtsbaum. Würde er noch immer im Speisesaal stehen? Voll froher Erwartung liefen sie in den Speisesaal – er war noch da, glitzernd und wunderschön. Weihnachten war also doch nicht nur ein schöner Traum gewesen. Schnell zogen sie ihre dunkelblauen Samtkleider mit den weißen Krägen an und gingen in die Kapelle zur Hl. Messe. Während die Kinder in der Kirche beteten, muss es dann passiert sein. Mittags fehlte Antonias weißer Lebkuchenstern. Nur das grüne Bändchen hing noch lose über dem Zweiglein. Antonia war untröstlich. Wo war ihr Stern hingekommen? Wer konnte den wohl genommen haben? Sie legte sich auf ihr Bett
und weinte bitterlich. Anna versuchte so gut es ging ihre Freundin zu trösten und bot ihr schließlich die Hälfte ihres eigenen Sterns an. Langsam beruhigte sich Antonia wieder. Schwester Lätitia von dem Vorfall zu erzählen, getraute sie sich nicht. Die würde vielleicht glauben, sie hätte den Lebkuchen selber gegessen. Nein, damit musste sie schon allein fertig werden.
Gerade als die Mädchen wieder in den Speisesaal gehen wollten, kam Schwester Lätitia auf sie zu und sagte: „Antonia, ich suche dich schon die ganze Zeit. Komm, du hast Besuch bekommen.“
„Besuch? Für mich?“
„Ja, komm schnell.“
Antonia lief so schnell sie konnte in den Speisesaal und sah dort einen verlegenen jungen Mann stehen. Auf dem Tisch vor ihm stand ein liebes, kleines Christbäumchen. Ratlos schaute sie auf das Christbäumchen und dann wieder zu dem jungen Mann. Wer war das? Das sollte Besuch für sie sein? Sie kannte den Mann doch gar nicht.
Doch der kam langsam auf sie zu und gab ihr die Hand. „Antonia, kennst du mich wirklich nicht mehr? Ich bin es doch, Hans, dein Bruder.“
Ihr Bruder? Sie hatte einen Bruder? Plötzlich
fiel es ihr wieder ein. Ihre letzte Pflegemutter hatte öfter von einem Bruder in einer fernen, großen Stadt erzählt, doch wirklich daran geglaubt hatte sie nie. Jetzt stand er tatsächlich vor ihr. Sie hatte einen großen Bruder!
Nach einigen Minuten des Schweigens und gegenseitigen Betrachtens fielen sich die Geschwister überglücklich um den Hals und nicht nur Antonia hatte Tränen in den Augen – diesmal allerdings Freudentränen. Die Geschwister hatten sich viel zu erzählen. Hans erzählte von den Eltern und dem kleinen Häuschen, in dem sie zusammen die ersten Jahre ihrer Kindheit verbracht hatten. Antonia erzählte vom Leben im Waisenhaus
und von ihrer Freundin Anna. Hans hatte lange Zeit vergeblich versucht, Antonia zu finden. Nach dem Tod ihrer letzten Pflegemutter konnte ihm niemand etwas über den Verbleib seiner kleinen Schwester sagen. Er gab aber seine Suche nicht auf und zusammen mit seinem Meister gelang es ihm eines Tages doch, über den Pfarrer seiner Gemeinde die Adresse des Waisenhauses zu bekommen. Sein Meister war es auch, der ihn mit dem Pferdefuhrwerk hergebracht hatte. Ihn und das kleine, liebevoll geschmückte Weihnachtsbäumchen.
„Das Bäumchen ist wirklich für mich? Für mich ganz allein?“ Antonia konnte es noch immer nicht fassen.
„Ja, das ist für dich, Jetzt, wo ich weiß, wo du bist, komme ich dich öfter besuchen, wenn ich darf“, versprach Hans, bevor er sich wieder verabschieden musste.
Antonia holte sofort ihre Freundin Anna. Gemeinsam stellten sie das kleine, über und über mit Kugeln, Naschereien und Ketten geschmückte Bäumchen auf Antonias Nachtkästchen. Jetzt hatte sie ein eigenes Christbäumchen und Anna durfte sich das schönste Stück, das sie darauf entdecken konnte, aussuchen.
„Ja, das Christkind vergisst wirklich auf kein Kind. Zu manchen kommt es sogar zweimal und wenn man Glück hat, bringt es auch noch
einen großen Bruder mit“, sagte Schwester Lätitia, diesmal ausnahmsweise einmal lächelnd.