Beschreibung
Charly und seinen Freunden geht es gut am Gymnsium. Der Unterricht bringt ihm Spaß, abgesehen vom Englischkurs bei Tamara.
Von Reflexionen begleitet, wird erzählt, warum das so ist.
Non scholae …
Räumlich und geographisch gesehen, geht es uns gut am Gymnasium Neustadt. Unter Grewes Schulleitung ist die Anstalt baulich erweitert worden, und zwar um den Studienstufentrakt, der sich zweistöckig in der Form eines Hufeisens an den alten Fachtrakt anschließt und mit ihm ein Atrium bildet. Parterre beherbergt der schicke Anbau den mit Büchern versehenen Aufenthaltsraum, der sich wegen der vielen Freistunden, die das Kurssystem mit sich bringt, reger Benutzung erfreut. Oft verziehen wir uns aber ins Stadtcafé‚ in Standardbesetzung: Nelly, Katharina, Mischie, Cremer, Olav natürlich, Yvonne, Hinni and somebody else and me. Aber das nur am Rande.
Im Erdgeschoss des neuen Traktes sind weitere Fachräume eingerichtet und oben befinden sich die Kursräume. Alles ist mit einem kräftig dunkelgrünen Teppichboden ausgelegt und die Stühle in den Zimmern stellen einen echten Fortschritt gegenüber den Vorkriegsfoltergeräten dar, auf denen wir uns durch Unter- und Mittelstufe hindurch abgequält haben.
Die Penne ist am Hafen gelegen. Zur Badeanstalt ist man fünf, zum Seglerhafen drei Minuten unterwegs. Nach hinten hinaus jenseits der Turnhalle schließt sich das Kaisergehölz, ein nettes, gar nicht so kleines Buchenwäldchen, an. Es ist eine geräuscharme Umgebung, und wenn Arbeiten geschrieben werden, ist es wirklich ziemlich ruhig in den Räumen.
Der Studienstufenbau hat außer dem Atrium einen eigenen Pausenhof, auf den zwischen altem und neuem Gebäude eine Treppe hinab führt. Auf dem Hof stehen Bänke und von engagierten Schülern, zu denen ich nicht gehöre, bunt bemalte Betonhocker herum. Ein Schachbrettmuster ist eingelassen und im Werkunterricht sollen Figuren dafür gefertigt werden. Wir haben schon versucht die Leute für eine vollständige Besetzung der vorgesehenen Felder zusammenzukriegen. Von irgendeiner Übersicht konnte da keine Rede mehr sein, aber das heillose Durcheinander war voll witzig.
Auf dem Pausenhof der Studienstufe, unserem Pausenhof, herrscht Raucherlaubnis. Zutritt hat zu diesem Hof außer uns, den Schülern der Studienstufe, nur der Lehrkörper. Wir sind also rundum ein privilegierter Verein. Wir wissen diese Vorzüge zu schätzen und benehmen uns arrogant gegen den Rest der Schülerschaft!
Es ist gerade lange Pause. Wir hängen auf der Treppe ‘rum und rauchen. Iffe, von irgendeinem Milchgesicht aus dem Vorsemester gefragt, ob er ihm eine Zigarette gibt, befingert die gutgefüllte Schachtel und verweigert die Herausgabe einer solchen wegen angeblichen Mangels daran. "Sag mal, Iffe, du spinnst wohl!", fahre ich ihn an und schüttle den Kopf. Olav stößt einen kurzen Lacher aus, Cremer wendet sich ab, Iffe grinst widerborstig. Ein echter Blödmann. Andererseits, was muss der Pimpf auch fragen! Olav gibt ihm schließlich eine.
Wir haben schon oft ein’ ausgeschnackt mit Iffe wegen seinem Geiz, aber irgendwie nützt das nichts. Hinni hat mal ‘ne Woche bei ihm gewohnt und den einen oder anderen Kracher deswegen erlebt. Aber das ist eine andere Geschichte.
Hier geht es weiter mit dem Englischunterricht, der gleich beginnt und meine Gedanken anzieht wie ein schwarzes Loch. Olav und ich haben den Englisch-Leistungskurs bei Staegemann belegt. Sie war die erste Disziplinierungsstation meiner gymnasialen Laufbahn: Ich hatte sie als Klassenlehrerin in der Sexta und in der Quinta. Am Anfang hab‘ ich sie sogar gemocht. Nee, nä?! Und jetzt in der Studienstufe, im Leistungskurs hat das Schicksal mich wieder eingeholt, fünf mal in der Woche und immer Doppelstunden bei Tamara, wie sie der Schülermund nennt.
So eine Doppelstunde steht jetzt bevor. Das gesamte Unwohlsein von allen je nicht gemachten Hausaufgaben, Strafarbeiten, Rügen und Tadeln und alles, worin ich schulisch je versagt habe, rumoren in mir. Dabei bin ich so schlecht nicht, außer es geht um Grammatik – es geht immer um Grammatik. Scheiße!
Ich sehe mich nach Olav um, der ist nicht mehr da, vielleicht schon in Richtung Kursraum 6 verschwunden, ein kleiner Raum, der maximal 15 Leuten Platz bietet. Der Englisch-Leistungskurs hat neun Teilnehmer. Neun! Nun könnt‘ man sich ja freuen, weil dann das Arbeitsklima viel intensiver ist als bei einer großen Gruppe. Theoretisch ja. Praktisch bedeutet es nur, dass ich noch häufiger drankomme und alt aussehe. Und Tamara hat es drauf, einem auf den Zahn zu fühlen, da kann sie sich so richtig festbeißen. Aber seht selbst:
Ein wenig geduckt und voller Trotz, Olavs in sich gekehrte Haltung kopierend, betrete ich den Raum. Olav ist merkwürdigerweise noch gar nicht da. Kurz nach mir schlägt Tamara auf. Die Frau ist ein echter Panzerkreuzer und bewegt sich nur im Marschtempo vorwärts.
Sie nimmt Platz, grußlos und breitet ihre Sachen aus. Die Verweigerung des Grußes ist ein beständiger stummer Protest gegen unsere Weigerung, ihr gemeinsam stehend(!) den Gruß zu entbieten, das war ihre Bedingung, als unser Kurs begann. Aber nicht mit uns.
Nun sitzt sie da und schaut sich prüfend um. In diesem Moment kommt Olav rein, murmelt einen Gruß und setzt sich neben mich. Tamara schaut ihn voll brüskierter Erwartung an. Olav packt seine Sachen aus. "Olav!“, flötete sie energisch in so einem duldsamen von unverdienter Nachsicht und Beherrschung triefenden Ton. Kennt ihr das?
„Glauben Sie, dass könnten Sie sich später im Beruf Ihrem Chef gegenüber leisten?"
Olav blickt verständnislos und schon mit leichtem Spott im Gesicht auf.
"Sie haben es versäumt zu klopfen und ferner, sich für ihre Verspätung zu entschuldigen." Nun sieht er mich an, ein Notwehr-Grinsen in den Augen. Ich schneide eine alle Verachtung der Welt gegen Tamara schleudernde Grimasse. Er blickt wieder zu ihr, während sie angelegentlich und mit erhobenen Brauen in einem der blöden Bücher blättert, die vor ihr auf dem Pult liegen.
Olav richtet sich in seinem Stuhl etwas auf, breitet die Arme aus, hebt die Schultern und will soeben etwas sagen, als Tamara, den Anflug eines leidenden Lächelns produzierend, kund gibt, dass sie den Vorfall zu vergessen geneigt sei, dass sie sich zu unserem Nutzen bisweilen erlaube auf die Anforderungen des Berufslebens hinzuweisen, und dazu, wie dieser Vorfall wieder zeige, auch gezwungen sei. Scheinheiliges Biest!
Von diesem beleidigten Genöle total genervt, sitzen wir da und Olav bringt ein Mischgeräusch aus Stöhnen, Hohnlachen und Seufzen hervor.
Tamara beginnt mit dem Unterricht. Sie redet Englisch und blättert in dem Büchlein, das zurzeit Thema ist. Jemand wird aufgefordert zu lesen, Britta oder Marga oder lieber noch Birgit, weil sie auf der wegen deren amerikanischem Akzent immer gut herumhacken kann. Bei uns gilt die Oxford-Norm! Birgit, die wie Olav und ich Tamara hasst wie die Pest, hat ihm durch rege Geräuschkommentare ihre Solidarität bekundet.
Birgit hat gelesen. Tamara knöpft sich wieder ihre Aussprache vor, hat aber doch auch etwas Anerkennendes zu sagen. Dann wirft sie ein grammatisches Problem auf. Spezialist für grammatische Probleme bin, wie bereits angedeutet, ich. Und ohne eine Meldung wenigstens abzuwarten, hat sie mich beim Wickel und legt mir ihre verschiedenen Fragen nach SPO, Gerundium und ACI vor. Wie immer, wenn Tamara mich mit Grammatikfragen auf die Streckbank legt, verwirre ich mich völlig und veranstalte, bevor ich dann gänzlich verstumme, oder sie jemand anders heranzieht, eine hoffnungslose Raterei.
Diesmal lässt Tamara überhaupt nicht locker. Natürlich weiß sie um Olavs und meine Freundschaft und ergreift die Gelegenheit, ihm dadurch auch gleich noch eins überzubraten. Olav sieht mich nicht gerne leiden, und außerdem ist es wie immer peinlich hoch zehn. Bald ist der Raum erfüllt von Stille und Verstrickung. Hätte ich doch nur einmal den Mut besessen zu sagen: „Scheiße! Ich weiß es nicht!“
Sie schöpft den Moment aus und setzt dem noch eine Krone auf, indem sie Olav um Antwort "bittet". Der hat nun die Wahl, an meiner Bloßstellung mitzuwirken und durch fachgerecht vorgetragenes Wissen mein Versagen noch drastischer hervorzukehren – denn so ist die Sache ja immer wieder aufgebaut – oder sich durch ein weiteres Mal Schweigen, wie er es schon oft getan hat, ihren nichtswürdigen Versuchen zu entziehen und eine "schlechte Beurteilung" zu kassieren. Auch nicht schön. Olav ist ein guter Schüler. Und trotzdem kein Streber.
Dieser systematischen Erpressung kannst du dich nicht beugen und du kannst dich ihr nicht nicht beugen: Die Schule ist ja dazu da, den Einzelnen leistungs- und versagensmäßig herauszupräparieren und gegen die anderen als besser oder schlechter abzugrenzen. Und sich dagegen aufzulehnen wird ebenfalls mit Vereinzelung bestraft: Sie stempeln dich ab als Querulanten, leistungsunwillig, wenn nicht -unfähig, halten Konferenzen ab und greifen auch schon mal zu ihrer Superwaffe, dem schulpsychologischen Dienst, wenn sie dich nicht sowieso rausschmeißen. Und die andern halten dich eh für bekloppt.
Was will man auf der Schule auch schon reißen, außer sie hinter sich bringen. Und wenn Du auch noch gute Noten willst, der Numerus Clausus war damals in aller Munde, nimmst du den Laden sowieso in Kauf. Außerdem musst du den perfiden Schweinkram, den sie mit dir anstellen, erst mal begreifen. Dazu war ich damals nicht im Stande, nicht so richtig. Olav schon! Wir haben auch viel über den Scheiß diskutiert. Egal. Aber, klar: Die Exfiltration von individuell zuordnungsfähigen Leistungen ist eine ziemlich gewaltige Disziplinierungs- und Indoktrinationsmaßnahme, die der Schulapparat da im gesellschaftlichen Auftrag am Nachwuchs vollbringt. Und wir haben uns mehr weniger bereitwillig und ohne Alternativen hineingestürzt, unterschiedliche Grade und Formen der Anpassung an die Zwangsjacke individueller Leistung entwickelt und immer mitgemacht. Ich natürlich auch. Das bisschen Revoluzzer-Gehabe, das ich damals an den Tag gelegt habe, war bloß Makulatur. Es war in, dagegen zu sein. Das hatten uns unsere großen Schwestern und Brüder gerade vorgemacht.
Wie dem auch sei. Nachdem Olav sie gründlich angeschwiegen hat, hört Tamara endlich auf mit der Quälerei. Sie findet irgendeinen anderen servilen Geist, Helge vielleicht oder Marga, die ihr Wissen gerne unter Beweis stellen. Oder sie hatten auch nur irgendeine Leistungsdelle auszubügeln. Wie nun nämlich ich. Im Zusammenhang mit inhaltlichen Fragen erhalte ich Gelegenheit zu leistungstechnischer Rehabilitierung und ergreife sie dankbar und nichtswürdig. Ich bin ja nicht doof.