Psychroalgia
Marc drückte das Gaspedal des Mercedes Sprinter bis zum Anschlag durch, denn er wollte auf gar keinen Fall später als nötig nach Hause kommen. Nicht an diesem besonderen Tag. Die lang erwartete Aussprache mit seiner Frau stand heute Abend auf dem Programm. Heute würde er Nägel mit Köpfen machen, sagte er sich. Er hatte ihr Desinteresse ihm gegenüber mehr als satt und das ewige Genörgel über seinen, wie sie es auslegte, dauernden Alkoholgenuss ebenfalls. Sollte sie doch gehen. Andere Mütter haben auch schöne Töchter, dachte er spöttisch. Ihre dreizehn jährige Ehe, die eigentlich nur noch einer Wohngemeinschaft glich, sank auf den absoluten Nullpunkt. Eine Lösung musste gefunden werden, bevor die Situation völlig aus dem Ruder lief. Das tatsächlich er der treibende Keil war, der die Tür ihrer Beziehung versperrte, kam ihm nicht in den Sinn. Aber das würde sich an diesem Abend klären, schwor er.
Marc arbeitete seit zwanzig Jahren in einem Betrieb, welcher Steuerungen für Kälteanlagen herstellte. Das Geschäft lief hervorragend und die Bezahlung war gut. Selbst in Zeiten der Finanzkrise, war die Nachfrage an Steuerungen nicht gesunken und so lief die Flaute, die andere Betriebe hart traf, fast spurlos an dem Unternehmen vorbei. Aber das Personal wurde erheblich reduziert und so lief die Firma unterbesetzt, was nun auf den Schultern der noch Beschäftigten lastete.
Eine Stunde vor Schichtende sollte noch ein Ersatzteil für die Steuerung eines Kühlhauses abgeliefert werden. Der Chef bestand darauf, dass Marc diesen Job übernahm. Mürrisch verstaute er das Paket mit dem Steuerteil auf die Rückbank des Transporters und machte sich auf den Weg. In Zeiten des Navigationssystems war es kein Problem den Standort des Kühlhauses zu bestimmen. Es lag gute zwanzig Kilometer entfernt außerhalb der Stadt. Laut der Aussage seines Chefs, würde er vor Ort aber Niemanden mehr antreffen. Seine Aufgabe bestand lediglich darin, das Paket in das Kühlhaus, welches momentan außer Betreib war, zu legen. Die Monteure würden das Ersatzteil am nächsten Morgen auswechseln und das Kühlhaus wieder in Betreib nehmen. Der Verkehr zu dieser Tageszeit, ließ den Sprinter jedoch nur schleppend vorwärts kommen. Marc schien es, als hätten sich sämtliche Ampelanlagen gegen ihn verschworen und wurde sichtlich nervöser. Endlich passierte er das Ortsschild und die Fahrt ging zügig weiter. Nach einer halben Stunde ertönte schließlich das erlösende „Sie haben ihr Ziel erreicht“ aus dem Navi und er steuerte den Transporter auf den Parkplatz einer kleinen Schlachterei. Marc stieg aus, klemmte sich das zu liefernde Paket unter den Arm, und machte sich auf die Suche nach dem Kühlhaus. Tatsächlich war das Eingangstor des kleinen Betriebes nicht verschlossen und so fand er problemlos auch den Kühlraum der Fleischerei. Auch diese Tür war nicht verriegelt und er trat hinein, um die bestellte Ware an seinen Platz zu legen. Es war Stockfinster in diesem Raum, doch ein kleines, orangefarbenes Licht verriet ihm, wo der Lichtschalter installiert war. Der Geruch von Silikon und Fliesenkleber ließ auf die Neuheit dieses Lagers schließen und so auch der Rest des Inventars. Diese Fleischerhaken hatten noch keine Rinder oder Schweinehälften getragen. Marc legte gerade seine Ware ab, als sich die Tür des Kühlhauses mit einem dumpfen Schlag hinter ihm schloss.
Die plötzliche Stille um ihn herum und das stumpfe Geräusch der schweren, isolierten Tür lösten schlagartig ein beklemmendes Gefühl in ihm aus, dem eine gewisse Ahnung folgte.
Seine Befürchtung bestätigte sich, als er sich zu der versperrten Tür herumdrehte. Sie ließ sich aus dem Inneren des Lagers nicht öffnen. Kein Öffnungsmechanismus war zu entdecken. Wo eben noch ein Eingang zu sehen war, zeigte sich nun eine glatte, gut isolierte Fläche. Verzweifelt drückte Marc gegen die Dämmung, doch nichts bewegte sich. Er war gefangen! Er durchquerte den kompletten Lagerraum auf der Suche nach einem zweiten Zugang, aber auch das blieb erfolglos. Zu allem Überfluss stellte er nun fest, dass er sein Handy im Transporter gelassen hatte. Es klemmte in der Halterung der Freisprechanlage. Natürlich, wo sollte es denn sonst sein. Wofür war ein Handy gut wenn man es nicht bei sich trägt, dachte er verärgert über sich selbst. Doch Selbstvorwürfe brachten ihn nun auch nicht weiter. Verzweifelt sank er auf den gefliesten Boden und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Er musste seine Gedanken ordnen und sich mit der Tatsache abfinden, dass er bis zum nächsten Morgen in diesem Raum eingesperrt bleiben würde. Frühestens in dreizehn Stunden träfen die bestellten Monteure ein und würden ihn befreien.
Gefangen in einem Kühlhaus! Diese Feststellung hallte in seinen Gedanken nach wie ein Echo und machte ihn noch nervöser als er ohnehin schon war. Doch zum Glück war die Kälteanlage abgeschaltet worden, oder etwa nicht? Was er fühlte war nur Restkälte, die sich in diesem perfekt isolierten Raum hielt. Natürlich, wieso hätte er sonst ein Ersatzteil liefern sollen? Marc zog den Reißverschluss seiner Jacke zu und steckte die Hände in die Taschen. Er begann zu frieren. War es Einbildung oder sank die Temperatur, jetzt nachdem die Tür verschlossen war, wirklich weiter ab? Seine Zweifel verhärteten sich zunehmend und das Gefühl der Kälte ließ ein prägendes Kindheitserlebnis in seiner Erinnerung aufblitzen.
Das kratzende Geräusch seiner Schlittschuhe auf dem Eis, dann dieser knackende, berstende Laut und schließlich die lähmende, nasse und unerträglich schmerzhafte Kälte, die ihn einfing und nicht mehr losließ. Er sah seine Freunde, die sich aufgeregt auf der Eisfläche über ihm bewegten während seine Kleidung immer mehr Wasser aufnahm und ihn gnadenlos tiefer zog.
Die folgende Bewusstlosigkeit erlöste ihn schließlich von seinem Kälteschmerz.
Doch Marc wurde gerettet. Ein Beobachter des Geschehens stieg selbstlos in das eisige Wasser um ihn zu bergen, doch bezahlte mit seinem eigenen Leben dafür. Als die alarmierten Sanitäter den Unfallort erreichten, versagte das Herz des fünfundsechzigjährigen Mannes.
Seit diesem einschneidenden Erlebnis litt er unter einer Kältephobie. Wie passend, nun in einem Kühlhaus eingesperrt zu sein, dachte er ironisch. Ein Blick auf seine Armbanduhr verriet, dass mit einer Rettung erst in satten zwölf Stunden zu rechnen war und dass seine Glieder zu zittern begannen.
Die Kühlung ist nicht in Betrieb! Er versuchte seine Gedanken in die Richtung dieser Tatsache zu lenken, doch seine Phobie ließ dies nicht zu. Das Frostgefühl in Händen und Füßen steigerte sich und seine Schuhe schienen ihm plötzlich zu eng. Die Haut an den Händen nahm bereits eine blau-rote Färbung an und schmerzte zunehmend. Die Erkenntnis seiner auswegslosen Lage verstärkte die Angst noch und ließ ihn in seinem Gefängnis umherlaufen wie ein gefangenes Tier. Verzweifelt nach einem Ausweg suchend lief er von Wand zu Wand und schlug dagegen, bis er schließlich resigniert und völlig erschöpft zu Boden sank.
Apathisch starrte er in die Richtung des von ihm vermuteten Eingangs, doch das erhoffte Wunder geschah nicht, die Tür blieb verschlossen. Dass er in die verkehrte Richtung blickte, nahm Marc schon nicht mehr wahr. Sein Körper begann sich angenehm zu beruhigen. Die Schmerzen und das Muskelzittern ließen langsam nach und sein Herzschlag sank herab. Die Umgebung um ihn herum begann vor seinen Augen zu verschwimmen, als sich der Umriss einer Gestalt vor ihm zeigte, die zärtlich seinen Namen flüsterte: „ Ich warte auf das versöhnende Gespräch mit dir mein Schatz. Worauf wartest du nur? Ich bin hier, bereit alles zu vergeben. Schau mich an, mein Liebling. Begehrst du mich denn nicht mehr?“
Die vertraute Stimme und der makellose, nackte Körper seiner Frau, welcher sich vor ihm räkelte, erregten ihn zu allem Überfluss noch. Ihm wurde plötzlich heiß und er begann sich zu entkleiden. Doch seine geschwollenen, tauben Finger machten es ihm lediglich möglich die Jacke und das und das Hemd abzustreifen. Schließlich versagte die Funktion seiner Gelenke völlig und er kippte rücklings auf den Boden. Das atmen verlangsamte sich stetig, begleitet von einem rasselnden Geräusch aus der Lunge. Blutiger Schaum trat aus seinem Mund heraus und die Atmung setze aus. Die starren Pupillen zur Decke gerichtet, nahm er die letzte Hürde und glitt sanft herüber in den Tod.
Als die Monteure am Morgen die Tür des Kühlhauses öffneten und den leblosen Körper fanden, alarmierten sie den Notarzt, doch jede Hilfe kam zu spät. Eine spätere Obduktion des Leichnams stellte alle Beteiligten vor ein Rätsel. Die Diagnose war einen schwere Hypothermie mit Todesfolge. Das Gewebe des Körpers und die inneren Organe waren durch völlige Vereisung zerstört worden. Wie es zu dieser Tragödie kommen konnte blieb ungeklärt. Erst durch das gelieferte Ersatzteil konnte die Kälteanlage wieder in Betrieb genommen werden.