Romane & Erzählungen
Paradies der Alten - Neue Nachbarn

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"Paradies der Alten - Neue Nachbarn"
Veröffentlicht am 20. November 2009, 8 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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Über den Autor:

Geboren und aufgewachsen in Süddeutschland. Lange in Berlin und Hamburg gelebt, später in der Lüneburger Heide. Neuerdings wieder in Berlin. Autor von bisher drei Romanen, von Erzählungen und von Kurzprosa. Eine Buchveröffentlichung: Alle Männer sind Brüder, Roman (BoD Norderstedt 2007). Weitere Werke als eBooks unter www.bookrix.de/-arno.abendschoen gratis lesen und herunterladen!
Paradies der Alten - Neue Nachbarn

Paradies der Alten - Neue Nachbarn

Beschreibung

Unordnung und spätes Leid

Meine vorige Wohnung lag im Parterre eines gerade fertig gestellten Hauses. Über mir zog eine Witwe aus Berlin ein, die Krause hieß. Von sechs Wohnungen standen vier noch leer. Das Haus wollte sich lange nicht füllen.

 

Eines Tages sagte Frau Krause: "Hören Sie nur, es gibt eine Interessentin für die Wohnung neben mir. Eine alte Dame, ich habe sie im Handarbeitsladen kennen gelernt. Morgen hat sie einen Termin beim Eigentümer. Sie wohnt jetzt in einer Pension. Es wird hier nicht mehr so einsam sein ..."

 

Frau Steiner zog bald ein. Sie war fünfundachtzig, klein, schlank, unscheinbar. Sie sagte: "In der Pension haben wir nicht genug zu essen bekommen. Ich bin so froh, jetzt hier zu sein." Dankbar nahm sie es an, dass ich ihr gelegentlich die Einkaufstaschen nach oben trug.

Nach einigen Wochen kamen erste Beschwerden: Die Treppe war ihr zu steil. Und links fehlte ein Handlauf. Sie beklagte sich auch über die Nachbarin: "Diese Frau hat mich hierher gelockt. Ach, das ist eine ..." Ich selbst stand mich gut mit Frau Krause.

 

Es wurde Winter. Frau Krause flog für zwei Wochen auf die Kanaren. Frau Steiner nahm mich im Treppenhaus beiseite und vertraute mir Folgendes an: "Sie hat einen Zweitschlüssel für meine Wohnung. Wenn ich weg bin, bestiehlt sie mich. Mein Schmuck ist nicht mehr da." Ich wollte es nicht glauben. In den folgenden Nächten wurde es laut in unserem sonst so stillen Haus. Frau Steiner ließ ihrem Zorn freien Lauf, sie randalierte. Es hörte sich an, als nähme sie die Einbauküche auseinander. Wie, wenn sie tobsüchtig alles unter Wasser setzte oder Feuer legte? Ich schlief unruhig.

 

Frau Krause kam gut erholt zurück. Nun gab es mitten in der Nacht Tumult im Treppenhaus. Frau Steiner heulte und brüllte dort abwechselnd, nicht wie ein Mensch - wie ein waidwundes Tier. Ich trat in den Hausflur, um nachsehen. Auf Zurufe von mir reagierte sie nicht. Frau Krause rief den Hausarzt der alten Dame an. Frau Steiner hatte sich inzwischen in ihre Wohnung zurückgezogen und verhielt sich jetzt ruhig. Nach wiederholtem Läuten ließ sie Doktor Schumann ein. Der Arzt sagte uns, sie wirke kaum anders als sonst. Gegen ihren Willen könne er ihr keine Spritze geben.

 

Er war kaum fort, als das Toben im oberen Hausflur erneut begann. Wir riefen die Polizei. Frau Steiner flüchtete vor den Beamten in ihre Wohnung und ließ sie nicht zu sich. Die Hüter der Ordnung, machtlos, ratlos, zogen bald ab.

 

Beim dritten Tobsuchtsanfall ging ich selbst hinauf. Ich packte Frau Steiner an den Schultern und schob sie unter Ermahnungen in ihren Wohnungsflur hinein. Ich weiß, ich hatte kein Recht dazu - und sie wusste es auch: "Sie dürfen mich nicht anfassen!" Ich zog die Tür vor ihr zu. Dann war es still für den Rest der Nacht.

 

Wir meldeten es den Behörden. Das Kreisgesundheitsamt schickte einen Arzt. Er rief mich nach der Untersuchung an: "Sie ist ein Grenzfall. Sie war schon mal untergebracht. Sie haben sie wieder entlassen ... Es ist noch zu früh für eine Entmündigung. Sie bekommt einen Betreuer, der regelmäßig nach ihr sieht."

 

Frau Krause sagte mir bald darauf: "Jetzt geht sie jeden Nachmittag in die Geschäfte und verleumdet mich. Das macht sie auch im Handarbeitsladen so. Ihre Kleider, ihren Schmuck, sogar ihr Geld, alles reiße ich mir unter den Nagel ... Sie soll dabei ganz normal wirken ... Ich halte das nicht mehr aus. Damit Sie es wissen: Ich habe gekündigt, ich gehe zurück nach Berlin."

Auch Frau Steiner verließ unser Haus unerwartet rasch. Sie verschwand aus Stadt und Kreis und entzog sich damit fürs Erste weiterer amtlicher Beobachtung. Ein Makler soll ihr eine Wohnung in Hamburg vermittelt haben. Ich erfuhr noch, sie sei die Witwe eines höheren Beamten und gut situiert, dabei ganz auf sich allein gestellt.

 

Dann kamen neue Nachbarn, das Haus füllte sich doch noch. Und auch ich zog bald wieder um.

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Hörbuch

Über den Autor

Abendschoen
Geboren und aufgewachsen in Süddeutschland. Lange in Berlin und Hamburg gelebt, später in der Lüneburger Heide. Neuerdings wieder in Berlin. Autor von bisher drei Romanen, von Erzählungen und von Kurzprosa. Eine Buchveröffentlichung: Alle Männer sind Brüder, Roman (BoD Norderstedt 2007). Weitere Werke als eBooks unter www.bookrix.de/-arno.abendschoen gratis lesen und herunterladen!

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UteSchuster Re: Re: ganz ganz traurig, -
Zitat: (Original von Abendschoen am 21.11.2009 - 17:45 Uhr)
Zitat: (Original von timeless am 21.11.2009 - 17:26 Uhr) weil man ja wirklich nichts machen kann. Da diese Krankheit so schleichend und leise kommt, merkt man ja auch in vielen Fällen erst sehr spät was passiert.
Du hast es so einfühlsam beschriebe, daß man wirklich traurig wird und sogar ein bissel Angst bekommt.

Liebe Grüße, Ute


Danke, Ute. Traurig stimmt einen hier vor allem, dass trotz materiellem Wohlstand die Situation entgleiste. Ich denke, es gibt noch öfter wohlhabende alte Menschen, die einsam und zunehmend verwirrt durchs restliche Leben irren. Jeder, der das hohe Alter noch vor sich hat, sollte sich diese Gefahren vor Augen führen. Man kann die Erkrankung in ihrem Anfangsstadium an sich selbst feststellen und dann Entscheidungen treffen. Ein Beispiel dafür ist der britische Premier Wilson, der vor diesem Hintergrund seinerzeit vom Amt zurückgetreten ist. - Arno Abendschön -


um diese Entscheidung zu treffen gehört ein großes Insichhineinhören und auch eine große Intelligenz, denn nur wenn man sich beachtet, kann diese Veränderung bemerken.

Liebe Grüße Ute
Vor langer Zeit - Antworten
Abendschoen Re: ganz ganz traurig, -
Zitat: (Original von timeless am 21.11.2009 - 17:26 Uhr) weil man ja wirklich nichts machen kann. Da diese Krankheit so schleichend und leise kommt, merkt man ja auch in vielen Fällen erst sehr spät was passiert.
Du hast es so einfühlsam beschriebe, daß man wirklich traurig wird und sogar ein bissel Angst bekommt.

Liebe Grüße, Ute


Danke, Ute. Traurig stimmt einen hier vor allem, dass trotz materiellem Wohlstand die Situation entgleiste. Ich denke, es gibt noch öfter wohlhabende alte Menschen, die einsam und zunehmend verwirrt durchs restliche Leben irren. Jeder, der das hohe Alter noch vor sich hat, sollte sich diese Gefahren vor Augen führen. Man kann die Erkrankung in ihrem Anfangsstadium an sich selbst feststellen und dann Entscheidungen treffen. Ein Beispiel dafür ist der britische Premier Wilson, der vor diesem Hintergrund seinerzeit vom Amt zurückgetreten ist. - Arno Abendschön -
Vor langer Zeit - Antworten
UteSchuster ganz ganz traurig, - weil man ja wirklich nichts machen kann. Da diese Krankheit so schleichend und leise kommt, merkt man ja auch in vielen Fällen erst sehr spät was passiert.
Du hast es so einfühlsam beschriebe, daß man wirklich traurig wird und sogar ein bissel Angst bekommt.

Liebe Grüße, Ute
Vor langer Zeit - Antworten
Abendschoen Re: Das ERschreckende ... -
Zitat: (Original von Gunda am 21.11.2009 - 14:28 Uhr) ... daran ist, dass die armen Menschen, die schleichend von der Demenz befallen werden, auf Fremde durchaus noch völlig "normal" wirken und mit ihrem Gerede (wie auch die "Frau Steiner" in deinem Text) viel Unheil anrichten können. ... und auch versierte Mediziner täuschen ...
Interessant - wenn auch in der Sache traurig - geschrieben, Arno.

Lieben Gruß
Gunda


Ja, Gunda, das ist so: Der äußere Eindruck schwankt. Unzurechnungsfähigkeit und klare Überlegung folgen manchmal dicht aufeinander. Aus Berichten aus Pflegeheimen weiß ich, dass die Betreuer sich auf diese Struktur der Verarbeitung einstellen und im Gespräch jene Gegenstände bevorzugen, die noch normal erörtert werden können. Auch die Kranken selbst sind oft in der Lage, ihre Defizite wahrzunehmen. - Arno Abendschön -
Vor langer Zeit - Antworten
Gunda Das ERschreckende ... - ... daran ist, dass die armen Menschen, die schleichend von der Demenz befallen werden, auf Fremde durchaus noch völlig "normal" wirken und mit ihrem Gerede (wie auch die "Frau Steiner" in deinem Text) viel Unheil anrichten können. ... und auch versierte Mediziner täuschen ...
Interessant - wenn auch in der Sache traurig - geschrieben, Arno.

Lieben Gruß
Gunda
Vor langer Zeit - Antworten
Abendschoen Re: -
Zitat: (Original von ulla am 20.11.2009 - 20:15 Uhr) Bin immer wieder erschüttert, wenn ich beobachte, wie sich Menschen im Lauf der Jahre verändern können, besonders zu Beginn einer Demenzerkrankung, habe das in meinem Umfeld leider schon einigemale erlebt, die Veränderungen beginnen meist schleichend, sodaß kaum Hilfe in Anspruch genommmen wird, man lächelt vielleicht über kleine Marotten oder ärgert sich, doch dass es bereits der Beginn einer ernsten Erkrankung ist, erkennt man leider erst viel zu spät.
Erschütternde Zeilen.
lg
ulla


Danke für die Reaktion, Ulla. Ja, die bessere medizinische Versorgung lässt viel mehr Leute alt oder sehr alt werden. Die Versorgung selbst erstreckt sich ganz überwiegend auf körperliche Gebrechen. Auf die Dauer wird man sich dem geistigen Abbau stärker widmen müssen. - Arno Abendschön -
Vor langer Zeit - Antworten
ulla Bin immer wieder erschüttert, wenn ich beobachte, wie sich Menschen im Lauf der Jahre verändern können, besonders zu Beginn einer Demenzerkrankung, habe das in meinem Umfeld leider schon einigemale erlebt, die Veränderungen beginnen meist schleichend, sodaß kaum Hilfe in Anspruch genommmen wird, man lächelt vielleicht über kleine Marotten oder ärgert sich, doch dass es bereits der Beginn einer ernsten Erkrankung ist, erkennt man leider erst viel zu spät.
Erschütternde Zeilen.
lg
ulla
Vor langer Zeit - Antworten
Abendschoen Re: Ich vermute, dass es sich um eine reale Begebenheit handelt. -
Zitat: (Original von Phantasus am 20.11.2009 - 11:27 Uhr) Die Frage ist, warum passiert so etwas. Meine laienhafte Diagnose: Einsamkeit erzeugt Angst, Angst bringt eine Art von Verfolgungswahn (hier: bestohlen zu werden) hervor.
Solchen Menschen kann nur mit professioneller Psychotherapie geholfen werden.
Nachdenkliche Grüße von Ekkehart


Danke für die Reaktion, Ekkehart. Ja, der von dir vermutete Zusammenhang ist so in sich schlüssig. Andererseits kommen auch in intakten Familien Verwirrtheitszustände mit unerklärlicher Entfremdung vor. Auf jeden Fall wird dann fachliche Hilfe benötigt. Doch, wie hier geschehen, entzog man sich ja durch Wegzug über die Kreisgrenze zunächst der Betreuung. Ob dann die zuständige Behörde verständigt wird? Vielleicht. - Arno Abendschön -
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Abendschoen Re: eine schöne, lebendige Geschichte - -
Zitat: (Original von Boris am 20.11.2009 - 10:37 Uhr) so wie sie das Leben schreibt...

LG Jürgen


Danke, Boris. Sie ist auch in allen Details eine wahre Geschichte. - Arno Abendschön -
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Phantasus Ich vermute, dass es sich um eine reale Begebenheit handelt. - Die Frage ist, warum passiert so etwas. Meine laienhafte Diagnose: Einsamkeit erzeugt Angst, Angst bringt eine Art von Verfolgungswahn (hier: bestohlen zu werden) hervor.
Solchen Menschen kann nur mit professioneller Psychotherapie geholfen werden.
Nachdenkliche Grüße von Ekkehart
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