Kurzgeschichte
Mein großer Bruder

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"Mein großer Bruder"
Veröffentlicht am 19. November 2009, 6 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Bin ich unverwechselbar? Nein. Ich wurde schon manches Mal verwechselt. Und wie viele andere auch schreibe ich gern. Lyrik und Prosa. Das ist weder einzigartig noch unverwechselbar. Wenn ich auch noch verrate, in welchem Genre mein großspurig auf fünf Bände angelegtes Romanprojekt (zwei davon sind tatsächlich fertig) angesiedelt ist, kann ich gleich einpacken. Da bin ich nicht nur verwechselbar, sondern außerdem auch noch ein Herdentier. Sollte ...
Mein großer Bruder

Mein großer Bruder

Beschreibung

Vater schickt Heinz und mich zum Strohbrennen auf die Dammkoppel. Alles läuft prima, bis wir eine Pause einlegen, weil Heinz sich eine anstecken will.

Nach der Ernte an einem Tag im Spätsommer sollen mein Bruder (damals 19 oder 20) und ich (12 oder 13) die Dammkoppel abbrennen. Nicht unser größtes Feld, aber auch nicht das kleinste. Mit andern Worten, es gibt was zu tun. Nachdem mein Bruder die Lage gepeilt und vor allem die Windrichtung geprüft hat, sagt er mir, welche Schwatten ich anzünden soll.
Diskutiert wird nicht.
Nach vielleicht zwei Stunden legen wie eine Pause ein. Wir stellen uns in den Rücken der Feuerwalze auf schon verbrannte Erde. Heinz will eine rauchen. Er (heute wie ich eingefleischter Nichtraucher) hat damals diese französischen Lungentöter inhaliert. Unausstehliches Zeug. Von mir selber aber einige Jahre später ebenfalls nachhaltig konsumiert.
Zum Strohbrennen braucht man außer Streichhölzern auch eine Forke, damit man den Brand von Schwatt zu Schwatt tragen und sich die Flammen vom Hals halten kann. Wir sind beide mit zweizinkigen Ungetümen ausgerüstet, mit denen für gewöhnlich Heuballen oder „Strohkloppen“, wie wir sagen, gestakt werden. Ein Zinken von so einer Forke ist um die dreißig, vierzig Zentimeter lang.
Mein Bruder also, bevor er sich seinem Vergnügen hingibt, von seinem kleinen Bruder mit großen Augen beobachtet, hebt die Forke an und stößt sie mit großer Wucht in den Boden. Wie ich die Bewegung mit den Augen nachzeichne, sehe ich, dass die Forke auf ihrem Weg in den heißen Lehm mit dem einen Zinken durch meines Bruders rechten Stiefel fährt.
Mir geht es durch und durch,  bin zu einer weiteren Reaktion jedoch außerstande, und mein Bruder benimmt sich, als hätte er es nicht bemerkt. Er klopft sich eine Kippe aus der Schachtel, steckt sie an und zieht wie ein Staubsauger den Rauch ein.
Mit der Forke im Fuß!
Wie hypnotisiert starre ich ihn an. Vielleicht denke ich ja, er müsste gleich tot umfallen oder anfangen zu schreien, sich vor Schmerzen krümmen und auf dem Boden hin und her wälzen.
Ich weiß es nicht.
Dass etwas nicht stimmt, merkt er erst, als er meinem Blick folgt, der langsam wieder zu seinem Fuß hinab gleitet. „Ach du Scheiße!“, sagt er und zieht die Forke raus. Gott! Muss das wehgetan haben! Er sagt nichts. Zieht einfach nur die Forke raus und probiert, die Kippe im Mundwinkel, ob er den Fuß belasten kann.
Ich schlucke und sehe abwechselnd in sein Gesicht und auf seinen Fuß. „Tut weh“, sagt er. Nicht wahr, denke ich. Er schnippt die Zigarette weg. „Geht weiter“, sagt er. Ich schaue auf den durchbohrten Gummistiefel, stelle mir das Loch im Fuß vor. „Nicht so schlimm“, sagt er und humpelt dem Feuer hinterher. Er dreht sich um, als ich ihm nicht folge. Winkt energisch: „Komm schon, wir wollen heute noch fertig werden.“

 

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Hörbuch

Über den Autor

Volker
Bin ich unverwechselbar? Nein. Ich wurde schon manches Mal verwechselt. Und wie viele andere auch schreibe ich gern. Lyrik und Prosa. Das ist weder einzigartig noch unverwechselbar. Wenn ich auch noch verrate, in welchem Genre mein großspurig auf fünf Bände angelegtes Romanprojekt (zwei davon sind tatsächlich fertig) angesiedelt ist, kann ich gleich einpacken. Da bin ich nicht nur verwechselbar, sondern außerdem auch noch ein Herdentier. Sollte Dich das wider Erwarten interessieren, schau auf romansuche.de nach.

1958 geboren, als in Flensburg die Verkehrssünderkartei geründet, Elvis in Bad Nauheim stationiert und in Bonn beschlossen wird die Bundeswehr mit Atomwaffen auszurüsten (Njet, hat die Nato später gesagt.)
Als sie Kennedy erschießen, bin ich fünf Jahre alt. Ich darf bis zum frühen Morgen aufbleiben und zusammen mit den Sommergästen, die wir in diesem Jahr erstmals beherbergen, im Fernsehen dabei zusehen, wie im Juli 1969 Neil Armstrong den Mond betritt.
1974, ein Schicksalsjahr: Brandt verliert durch Günter Guillaume das Kanzleramt und ich meine erste große Liebe. Per Schulkonferenz wird beschlossen, dass ich trotz Leistungs- und Disziplinproblemen in die Studienstufe versetz werde. Mein Vater bringt die letzte Ernte ein. Ich fange das Tagebuchschreiben an.
1975 war einfach ein geiles Jahr.
1976: Ich gebe vor ABBA zu hassen, Led Zeppelin dagegen zu lieben. (Letzteres stimmt.)
Seit zwei Monaten bin ich im Zivildienst, als Weihnachten 1978 das Schneechaos über Norddeutschland hereinbricht.
Als ich anfange einen Roman zu schreiben, Titel: "1975" (bis heute nicht vollendet), gewinnt Boris zum ersten Mal Wimbledon.
1986, als Tschernobyl und Sandoz den Seelenfrieden nachhaltig stören, mache ich das erste Staatsexamen. (Lehramt. Das zweite ist nie gefolgt). Die Katastrophen inspirieren mich zu einem Promotionsthema.
Ein Jahr bevor aus Drüben Hüben wird, fliegt mir der Entwurf meiner Doktorarbeit um die Ohren. (Abbruch) Ich schreibe andauernd Gedichte.
1991, die Stadt ist noch deutlich geteilt, folge ich einer großen Liebe nach Berlin.
Im Sommer des Jahres, in dem Lady Di ums Leben kommt, verbringe ich mit einer anderen großen Liebe einen unvergesslichen Urlaub im "Land wo die Zitronen blühn, im dunklen Laub die Goldorangen glühn".
Die zwei Türme fallen, ich unterrichte Schulabbrecher und schreibe seit einem Jahr am ersten Band meines Romanprojekts.
Ich habe den zweiten Band zur Hälfte geschrieben, da wird Merkel Kanzlerin, und ich versuche seit zwei Jahren vergeblich den ersten auf dem Markt unterzubringen.
2009: Meine große italienische Liebe hält zu mir und unterstützt meine Schreiberei.

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Volker Re: Oh - Danke Dir sehr für Deinen Kommentar, Anteus.
Also meine Erinnerungen sind nicht mehr so deutlich, wie ich zugeben muss. Es kann sein, dass er sich, nach 'ner Viertelstunde vielleicht, erst mal hingesetzt und das Malheure begutachtet hat. Und wenn ich es richtig weiß, ist er am nächsten Tag auch beim Arzt gewesen. Ich glaube sogar, dass mein Vater ihn gefahren hat. Bleibende Schäden kann es nicht hinterlassen haben; denn ab Ende Zwanzig fing er an Marthon zu laufen ...
Herzliche Grüße
Volker

Zitat: (Original von anteus am 20.11.2009 - 21:24 Uhr) Wie ging es Deinem Bruder später?
Der mu doch starke Schmerzen gehabt haben, oder
Sehr gut erzählt, hätte gerne mehr erfahren.
Liebe Grüße
Anteus

Vor langer Zeit - Antworten
Volker Re: - Vielen herzlichen Dank für Deinen Kommentar, Ulla. Wie Du sagst: Erst der Betrieb, dann das Gerät, dann der Mensch. Stammst Du selbst aus einem bäuerlichen Betrieb?
Herzliche Grüße
Volker

Zitat: (Original von ulla am 21.11.2009 - 08:37 Uhr) Die Geschichte hat mich tief beeindruckt, denn ich kenne das Milieu nur allzu gut,
erst der Betrieb, dann der Mensch, dieser Grundsatz hat auch bei uns in den bäuerlichen Betrieben seit eh und je seine Gültigkeit, ob er seine Berechtigung hat und nicht ein Menschenleben mehr zählen sollte, ich wage es nicht zu beurteilen...nachdenklich
lg
ulla

Vor langer Zeit - Antworten
ulla Die Geschichte hat mich tief beeindruckt, denn ich kenne das Milieu nur allzu gut,
erst der Betrieb, dann der Mensch, dieser Grundsatz hat auch bei uns in den bäuerlichen Betrieben seit eh und je seine Gültigkeit, ob er seine Berechtigung hat und nicht ein Menschenleben mehr zählen sollte, ich wage es nicht zu beurteilen...nachdenklich
lg
ulla
Vor langer Zeit - Antworten
anteus Oh - Wie ging es Deinem Bruder später?
Der mu doch starke Schmerzen gehabt haben, oder
Sehr gut erzählt, hätte gerne mehr erfahren.
Liebe Grüße
Anteus
Vor langer Zeit - Antworten
Volker Re: Und all ..,. -

Zitat: (Original von Gunda am 19.11.2009 - 19:23 Uhr) ... diese Erinnerungen hast du bislang nur in deiner Schublade schmoren lassen? Volker!

Bedeutet das, dass Du den Text gerne schon lange gelesen hättest und ihn veröffentlichungswürdig findest?
Falls ja, danke ich Dir sehr, Gunda. Aber es ist ein Text jüngeren Datums. Seit ich den Sommer 1975 wiederentdeckt habe, geistert mir die eine oder andere Erinnerung durch den Kopf, die ich niederschreiben möchte.

Ist dein Bruder so diszipliniert geblieben (wenn er sich schon das Rauchen abgewöhnt hat, ist das ja zu vermuten ...)?

Ich meine, mein Bruder ist ein Mensch aus Fleisch und Blut, wie du und ich. Heute glaube ich, dass dieses Verhalten auch mit der Unbedingtheit zu tun hatte, mit der mein Vater von uns die Erledigung von Aufgaben erwartete. Da kannte er kein Pardon ... Und mein Bruder ist diszipliniert wie die Sau. Das kann man sagen.
Hast Du eigentlich Geschwister, Gunda?

Lieben Gruß
Volker


Vor langer Zeit - Antworten
Gunda Und all ..,. - ... diese Erinnerungen hast du bislang nur in deiner Schublade schmoren lassen? Volker!

Ist dein Bruder so diszipliniert geblieben (wenn er sich schon das Rauchen abgewöhnt hat, ist das ja zu vermuten ...)?

Lieben Gruß
Gunda

Vor langer Zeit - Antworten
tasja Mein großer Bruder - Na wenn der nicht hart im nehmen ist, dann weiß ich aber auch nicht!
Aua!
Lg tasja
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