Steigt mit mir in die Zeitmaschine und stellt das Jahr 1975 ein, genauer, den Frühsommer 1975 so ca. drei Wochen vor Beginn der großen Ferien. Der erste von zwei aufeinander folgenden Jahrhundertsommern steht bevor. Das wissen wir zu dem Zeitpunkt natürlich nicht und es spielt auch keine Rolle.
Wir, das sind Olav, Hinni, Iffe, Cremer und ich = Charly, das ist mein Spitzname, heißen tu’ ich Volker. Olavs Vater, der Direks, bei dem wir gerade Philosophie gehabt haben, nennt mich Karl.
„Warum eigentlich Karl“, fragt Iffe? „Weil er glaubt, dass Charly von Karl kommt“, sagt Olav, „ich hab ihm schon hundertmal gesagt, dass Karl nicht Karl heißt, aber…“ Sie lachen. Ich grinse herum und warte darauf, dass sie das Fiasko von eben aufgreifen. Ich habe einen meiner gefürchteten Sätze vom Stapel gelassen. Nach anfänglichem Ausbau des Hauptsatzes habe ich drei bis fünf Nebensätze eingeschachtelt, die nochmals untergliedert, und mich dabei so besoffen geredet, dass ich die Satzordnung nicht mehr durchschaut habe: Weder konnte ich mich an das Verb des Hauptsatzes noch an dessen Anfang erinnern, geschweige denn daran, was ich eigentlich hatte sagen wollen. Grewe, also Olavs Vater, hat mir die Hand auf die Schulter gelegt und gefragt, ob ich denn irgendetwas davon wiederholen könnte. Ich hab’ den Kopf geschüttelt, das würd’ ihn nicht wundern, hat er gesagt.
Mann! Sie haben sich nicht mehr eingekriegt.
Cremer traue ich zu, dass er sich gleich daran hochzieht, aber er hält sich zurück, wegen Olav. Olav mag so was nicht und quittiert Spott mit eisigem Schweigen. Freilich kann er auch ganz schön rumflachsen, aber immer „sutje“.
Die nächste Stunde haben wir Deutsch-G4 bei Johnny Weber. Da sitzen wir wieder zusammen, plus Iffe. Der grinst immer noch von einem Ohr bis zum andern; weiß der Geier, was ihm durch den Kopf geht. Irgendwie hängt er mit uns zusammen, Iffe, und irgendwie auch wieder nicht. Hauptsächlich ist er geizig und meistens redet er Scheiße, aber er kann einem auch zuhören und ist im Übrigen so gestört, dass er ganz gut zu uns passt.
Es klingelt.
Johnny Weber, ein großer breitschultriger Mensch mit roten Haaren und tiefer Stimme, hat immer ein freundliches Grinsen parat und lässt nie den Pauker raushängen. Der Unterricht bei ihm bringt Spaß, zumindest uns, der linken, progressiven, avantgardistischen Fraktion. Wir verachten die Streber und wir mögen Johnny Weber, weil man bei ihm durch Streberei nichts erreicht.
Seine derzeitige Vorliebe sind Gedichte junger DDR-Autoren.
Klar, in unserem Semester gibt es auch eine andere Fraktion, DIE andere Fraktion. Nicht so cool wie wir, versteht sich, aber hartnäckig, hinterfotzig und resistent: Die Streber und die Rechten. Einer von ihnen nimmt an diesem Deutschkurs teil, Enno. Ich finde, schon der Name klingt genauso faschistisch, wie seine Ansichten es sind. Enno sitzt wie ein Aufpasser in diesem Kurs, eine Art Gedankenpolizei. Er ist davon überzeugt, dass die ganze Schule und besonders dieser Deutschkurs kommunistisch unterwandert sind. Immer wieder fliegen die Fetzen, politisch. Alles ist politisch, ist doch klar. Jedenfalls Enno, das Arschloch, versäumt keine Gelegenheit, uns als Feinde der FDGO hinzustellen. Aber wir glauben nicht, dass wir das sind, wir wollen sie nur in Anspruch nehmen. Olav hat ihm schon mehrfach vorgehalten, dass eine Denunziation ein Argument doch nicht ersetzt. Immer wenn Olav ihn aufs Korn nimmt, bekommt Enno Schaum vor dem Mund, dann wird er laut, und wenn er laut wird, fängt er an zu piepsen.
Für Enno steht schon vieles fest. Bei der Bundeswehr z.B. hat er sich als Z-Grabstein beworben, will an einer Bundeswehrhochschule studieren, eine Einzelkämpferausbildung absolvieren und einer Eliteeinheit angehören. Er ist davon überzeugt, dass man seinen geliebten Staat gegen kommunistische Infiltration von innen und kommunistische Aggression von außen verteidigen muss. Wie unsere Väter ist er sich nicht zu schade uns dazu aufzufordern, doch nach drüben zu gehen. Logisch, Enno ist für den Extremistenerlass und Weber ist seiner Meinung nach einer der Ersten, dem ein Berufsverbot erteilt gehört.
Der hat es unter diesen Bedingungen nicht leicht. Im Grunde ist er immer einer Meinung mit uns und ringt verzweifelt darum, Enno wenigstens formal gerecht zu werden. Manchmal stöhnt er schon, wenn wieder einer von uns genau das ausspricht, was er angepeilt hat. Auch in dieser Stunde.
Er präsentiert ein Gedicht. Darin geht es um Schwellen. Bahnschwellen. Über die Schwellen, die da im harten Schotter liegen, donnert ein Zug. Den Schwellen geht es dabei gar nicht gut. Viele müssen ersetzt werden, weil sie abgenutzt sind oder brechen, und damit der Zug an sein Ziel gelangt, müssen noch mehr Schwellen verlegt werden und im Schotter leiden.
Wir lesen. Weber macht uns auf formale Dinge aufmerksam, und weist auf Traditionen hin – nur Vorspiel.
Die Interpretation: Der Zug ist der Sozialismus oder der sozialistische Staat auf dem Weg zum Kommunismus. Die Schwellen sind die Werktätigen, die für den Sieg des Kommunismus kämpfen und dabei schon mal ihr Leben verlieren, möglicherweise freiwillig, aus Einsicht in die höhere Notwendigkeit.
Die Frage, die Weber herausarbeiten lässt, ist, ob es der Autor mit diesem Gedicht für legitim erklärt oder ob er es kritisiert, dass Menschen politischen Zwecken geopfert werden. Im einen Fall wäre er systemkonform, im anderen ein Dissident.
Für gewöhnlich eröffne ich die Debatte. Ich bin bekannt für provozierendes, oft sehr wirres, in jedem Falle aber radikales Zeug. Das genügt in der Regel, um nicht nur Enno, sondern auch die meisten anderen auf den Plan zu rufen. „Da der Kommunismus ein überlegenes System ist“, argumentiere ich, schon die Einleitung löst Wutschnauben aus, „und der Autor das Bild des Zuges wählt, um den voranschreitenden Sozialismus zu symbolisieren, und ein Zug nun mal nicht ohne Gleise und Schwellen fahren kann, wird er die dabei unumgänglichen Opfer für gerechtfertigt halten.“
Olavs Gesichtszüge wechseln zwischen Amüsement und Ablehnung. Enno meldet sich, aber Olav ist ihm zuvorgekommen, und Weber, der meinen Ausführungen mit bedingtem Nicken gefolgt ist, nimmt Olav dran.
„Vielleicht würde ich dir Recht geben, Charly, wenn er gerade nicht das Bild des Zuges gewählt hätte. (Ich finde es immer schön, wenn Olav einen beim Namen nennt.) Ich will damit sagen, dass dieses Maschinenbild dem Autor dazu dient, der herrschenden Ideologie Unmenschlichkeit vorzuwerfen. Stell dir doch mal diese tonnenschwere Lokomotive vor und all die Wagen, die von ihr gezogen werden. Und angenommen, dass es ein Personenzug ist: Wer sitzt in diesem Zug? Wer hat sozusagen das Privileg im Kommunismus abgeliefert zu werden dank der Schwellen, die im Schotter liegen?“
Weber kann sich ein begeistertes und lang anhaltendes Kopfnicken nicht verkneifen. Auch ich, der ich für gewöhnlich halsstarrig bin, finde das gut gesagt, mir fällt keine Erwiderung ein.
Als Weber auf seine Wortmeldung zurückkommt, winkt Enno ab. Jetzt hat er es ja mit Olav zu tun. Das ist auch deswegen nicht leicht für ihn, weil er nicht davon absehen kann, dass Olav der Sohn des Direktors ist.
Enno schweigt, standhaft, bis zum Ende der Stunde. Nur in seinem Gesicht arbeitet es und er schnauft und schüttelt immer wieder den Kopf.
Die Diskussion geht weiter. Weber lässt uns wissen, dass dem Autor des in Frage stehenden Gedichts schon mal ein Veröffentlichungsverbot auferlegt worden sei. Es gehöre zu den Feinheiten der DDR-Literatur, wie Autorinnen und Autoren an der Zensur vorbei Kritik formulierten.
Es klingelt.
Enno erhebt sich, schnell, ganz rot im Gesicht. Aller Augen sind auf ihn gerichtet. Und er ruft, laut, ganz nahe am Piepsen: „Diese Deutschstunde hätte ebenso gut in der DDR stattfinden können!“
Ich sage euch, das hatte gesessen. Nicht dass irgendeiner von uns gewusst hätte, wie eine Deutschstunde in der DDR aussah. Darum ging’s auch gar nicht. So links wir damals auch waren oder zu sein schienen, einen stillschweigenden Konsens mit den anderen gab es doch: Wir waren uns alle einig, dass in der Deutschen Demokratischen Republik eine wenig sympathische Diktatur herrschte, die ihre Untertanen entmündigte und ruhigstellte, wenn nötig mit Gewalt. Enno hatte uns auf eine Stufe gestellt mit Stasi, Mauerschützen und politischer Verfolgung.
Wen er damit vor allen Dinge traf – und das musste ihn beflügelt, angestachelt, ja mit innerem Jubel erfüllt haben – und als verlängerten Arm Erich Honeckers brandmarkte, das war Johnny Weber. Enno hatte auf den Lehrer gezielt, eine Stunde lang auf der Lauer gelegen, geschossen und getroffen – und, Ratte, die er war, einen Doppeltreffer gelandet: uns einen empfindlichen Schlag versetzt, indem er unseren heiß geliebten Deutschlehrer mit Dreck bewarf. Und diesen Lehrer selbst mehr oder minder explizit zum Staatsfeind erklärt, der es mit den DDR-Kommunisten hielt und seine Schülerinnen und Schüler indoktrinierte.
Triumphierend verlässt er das Klassenzimmer mit seinen abgehackten, zackigen Bewegungen. In der Tür dreht er sich noch einmal um und grinst, feist.
Weber packt seine Tasche, ganz rot im Gesicht.
Wen es interessiert: Die Geschichte hatte weiter kein Nachspiel. Johnny Weber ist nie ein Berufsverbot erteilt worden, der sitzt heute für die SPD im Stadtrat der pummeligen Kleinstadt, in der das passiert ist.
Und Enno? Der hat auf einer Bundeswehrhochschule studiert. Als Brillenträger wollten sie ihm die Einzelkämpferausbildung verweigern. Aber er hat dagegen geklagt:
Im „Verteidigungsfall“ müsse er mit Brille genauso kämpfen wie ohne, weshalb die Sehhilfe kein Argument dafür sein dürfe, ihm eine militärische Zusatzqualifikation vorzuenthalten.
Seiner Klage wurde stattgegeben.