Vom Ertrinken im Karpfenteich
„Eh Mann“, rufe ich, „schieß mal den Puck rüber!“
Es ist frühe Nacht, ein Sternenhimmel, der sich gewaschen hat, prangt. Mitten drin der Mond. Er schaut sich die vier Blödmänner an, die an einem Novembertag, nachdem es ein paar Nächte zaghaft gefroren hat, ihre Schlittschuhe eingepackt haben und hierher aufgebrochen sind, zum Karpfenteich, weil einer von ihnen, der kleinste, Cremer, behauptet hat, das Eis würde schon locker tragen.
Vielleicht hat es ja den Zwerg locker getragen, als er nach der Schule hier vorbei gekommen ist und sich vorsichtig über die trügerische Fläche getastet hat. Jedenfalls, als wir jetzt, vier Mann hoch, auf dem Eis herum kurven, macht es verdächtige Geräusche, ächzt und kracht, und ich verstehe, was mit dem Wort ’auf Biegen und Brechen’ gemeint ist. Doch bis jetzt hat es gehalten, und nach ein paar Minuten schon sind wir ganz cool und relaxt. „Passiert nix“, hat Cremer gesagt und den Eishockeyschläger in die Hand genommen.
Wir haben es ihm gleich getan und dreschen jetzt den Puck über die pechschwarze, spiegelglatte Fläche, die so sauber gefroren ist, wie man es selten hat: keine Hoppelei über Wellen oder gefrorenen Dreck, keine Schneekruste, nein einfach eine schnelle, glatte, saubere Fläche. So macht es Spaß. Erst vor ein paar Tagen habe ich den Hohlschliff erneuern lassen.
Wir stellen Olav zischen zwei Zaunpfähle, die vom Eis eingeschlossen sind, und hauen ihm den improvisierten Kasten voll, wobei Iffe den Schläger eher dazu gebraucht, sich auf den Kufen zu halten als nach dem Puck zu schlagen. Als Olav die Schnauze voll hat, legen wir eine Pause ein. Cremer zaubert ein paar Bier hervor und Iffe, Geiz ist sein zweiter Name, schießt unter lautem Hallo eine Runde Kippen zu. Wir qualmen, trinken und labern dummes Zeug über Schule, die Weiber, den frühen Wintereinbruch, das geile Eis und das bevorstehende Wochenende.
Wie ich mich so umschaue, fällt mir ein von einem Obstbaum weit über die Eisfläche hinausragender Ast auf, und ich stifte die anderen zu einer Art Mutprobe an: Jeder soll versuchen, sich aus dem Fahren heraus an diesen Ast zu hängen, durch zu schwingen und sicher zu landen. Mir scheint das gar nicht weiter schwierig. Irgendwann habe ich sie so weit, dass sie mitmachen. Anerkannte Sportskanone, hebe ich mir meinen Auftritt bis zuletzt auf. Cremer ist natürlich viel zu klein, und der Hüpfer, den er zustande bringt, hebt ihn bestenfalls ein paar Zentimeter übers Eis. Iffe, der lebende Widerspruch zu jeder Art sportlicher Betätigung, ein Amotoriker, ein hin gekritzelter Schlenker im Wüstenwind, ist schon beim Anlaufen eine Augenweide und dieser bockbeinige Absprung mit anschließender krachender Landung auf dem Hintern (nur gut, dass er trotz seiner zwei Meter ein klapperdürrer Stecken ist, der kaum etwas auf die Wage bringt und vom Eis ohne weiteres verkraftet wird) eine Kunst, eine Clownsnummer allererster Güte, wenn man das jetzt hätte aufführen müssen.
Olaf schafft es immerhin, den Ast zu berühren, und kann es vermeiden, auf die Fresse zu fliegen.
Nun Charly, das bin ich. Ganz elegant, aus einer Kurve vorwärts übersetzend, laufe ich an.
Ich springe ab, erreiche den Ast, packe fest zu, schwinge durch und …
Konnte ich ahnen, dass dieses Miststück von Ast, eine Attrappe, ein hinterhältiges Täuschungsmanöver von diesem Schuft von einem Baum ist, der sich an diesem Ufer angesiedelt hat, über Jahrzehnte arglistig gewachsen ist, diesen Ast ausgebildet hat und ihn hat verdorren, absterben und verrotten lassen, bis er nur mehr ein Abbild seiner selbst, eine mit Rinde überzogene, morsche Angelegenheit war, und der auf mich gewartet hat, denjenigen, der eines Tages kommen würde, um an ihm seine Geschicklichkeit zu demonstrieren – hätte ich das wissen können?
Also dieser Ast bricht; mitten im schönsten Schwung katapultiert er mich hinaus in den Sternenhimmel. Und als ich wie eine tumbe Fliegerbombe schwer und stumpf dem Karpfenreich entgegen falle und auf dem Eis aufschlage, versagt es, völlig klar und gar nicht anders zu erwarten, den Dienst. Ein schwarzer Wasserstrudel dringt gurgelnd und kalt durch die klaffenden Schollen, und der Teich, abgefeimter Komplize des Baums, macht sich daran, mich in einem Stück zu verschlingen.
Ich schreie und brülle: „Hilfe, Hilfe, ich ertrinke.“
Wohl macht Cremer einen halben Schritt in meine Richtung, scheint herbeieilen zu wollen, um dem ertrinkenden Freund die rettende Hand zu reichen, auch Olav macht Anstalten, die darauf schließen lassen, dergleichen könnte seine Absicht gewesen sein, während Iffe einfach nur dasteht und glotzt. Und während das Wasser eiskalt meinen Hintern leckt und ich jegliches Gefühl für die gesamte Region da unten verliere, ist mein In-die-Tiefe-Sinken zu einem jähen Ende gekommen, und mit dem Arsch auf Grund, in dieses Loch geklemmt, liege ich da, hilflos wie ein Maikäfer auf dem Rücken, jedoch weit davon entfernt, wie die Bismark heroisch in den Fluten des Atlantik, in den Tiefen des Karpfenteichs zu versinken. Ich stelle mein jämmerliches Gebrüll ein, weil inzwischen auch mir klar geworden ist, dass ich zwar scheiße übel eingebrochen bin, aber, kaum einen Meter vom Ufer entfernt, keineswegs in den zweifelsohne sowieso nicht vorhandenen Untiefen dieser Pfütze versinken und ertrinken werde.
Das haben meine feinen Freunde schon recht bald geschnallt und jetzt stehen sie da, zu einer Seenotrettung ohnehin nicht mehr bereit, und lachen sich nach anfänglichem Gegluckse einen so mächtigen Ast, wie ich ihn an diesem Scheißbaum hätte gebrauchen können, um nicht in diesen blöden Teich einzubrechen.
„Charly, wenn du darauf bestehst“, sagt Olav, „ziehen wir dich da raus, aber es kann gut sein, dass das Eis dann weiter kracht.“ Ich grunze unwillig und schäme mich, eigentlich noch tiefer in den Teich hinein, weil ich, der große Charly, der selbstverständlich absolut relaxt ist und alles checkt, mir die Blöße dieses völlig verzweifelten und total danebenen Hilfeschreis gegeben habe, und versuche mich selbst aus dem Loch zu befreien. Wenigstens das will mir halbwegs gelingen und Olav hilft mir, indem er auf seinen Schlittschuhen am Ufer herüber gestakst kommt und mir den Eishockeyknüppel hinhält. Schon fast in der Hocke, packe ich dankbar zu und lasse mich auf die Beine ziehen. An Land mit nassem Hinterteil unter kaum verhohlenem Grinsen ziehe ich meine Schlittschuhe aus.
Schluss mit Eislaufen.
Cremer grinst und feixt, und grinst, und brüllt: „Hilfe, Hilfe, ich ertrinke!“
Ich stürze mich auf ihn.
Die Geschichte vom Ertrinken im Karpfenteich hat mich bis zum Abitur verfolgt und wird auch heute noch gern erzählt, wenn die Rede auf alte Zeiten kommt.