Romane & Erzählungen
Der Wilson-Clan 3

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"Der Wilson-Clan 3"
Veröffentlicht am 02. November 2009, 32 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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Über den Autor:

Das zweite Gesicht aus früheren Zeiten fasziniert mit seinem Endzeitglauben, aber auch der Kraft, das zu sehen, was wir heute verlernt haben. Meine Werke spiegeln die andere Welt wieder, das, was jenseits des Bekannten lauert- auf der anderen Seite der Schwelle.
Der Wilson-Clan 3

Der Wilson-Clan 3

Der vierte Tag

 

Ich muß es zugeben- ich weiß nicht mehr, was am dritten Tag meiner Arbeit passierte- wahrscheinlich nichts Aufregendes, sonst könnte ich mich daran erinnern. Richard sprang, so glaube ich, den ganzen Tag zwischen den Handwerkern herum und gab Anweisungen, welche Farbe denn nun wo hingehörte. Die hatte ich vorher mit ausgesucht. Tja- und weiter? Timmy war wieder ruhig und klammerte sich an Dad, was mir Zeit zum Fensterputzen gab. Oh- jetzt weiß ich es wieder- ich tat den ganzen lieben langen Tag nichts anderes als Fensterputzen. Das ist eine sehr zufriedenstellende Aufgabe für eine Haushaltshilfe- vor allem, wenn das Haus danach wieder so wahnsinnig hell ist. Die Farbe der alten Wände war eine ganz Andere, als ich sie gedeutet hatte. Es kam sozusagen reichlich Licht in die ganze Angelegenheit. Und dann rief die Küchenfirma an- sie könnten schon morgen kommen. Das brachte Richard zu neuen Ermahnungen gegen die Maler, doch bitte zuerst den Küchenbereich fertigzustellen. Ich beobachtete das Ganze mit Distanz. Wenn ein Wilson so in Aktion war, sollte man ihn nicht aufhalten. Zwischendurch konnte ich ihm ein Mittagessen aufschwatzen und sorgte dafür, das Herr Hyperaktiv ausreichend mit Kaffee versorgt war. Und das war auch schon der dritte Tag gewesen.

Aber an die Nacht kann ich mich sehr viel genauer erinnern. Die Grillen zirpten in dem alten Garten und hielten mich wach. Wenn das wieder ein Hinweis darauf war, was ich wissen sollte, dann Danke! Ich wollte schlafen! Mir taten sämtliche Knochen weh und meine Arme waren Brei, aber nein!- Sie wollten wohl, daß ich aufstand. Also quälte ich mich aus dem Bett und ging zum Fenster. Okay- ich sah etwas- und hätte Abe mir nicht Mut gemacht- ich wäre wohl davongerannt- zum zweiten Mal. Da stand ein Mann im Garten. Er trug einen Butleranzug- war wohl der nette Herr vom Bild. Und er sah zum Haus. Ich merkte mir seine Position, weil es wohl darum ging, von dort etwas zu sehen und ging zurück ins Bett.

Morgen, Leute- ich hab heut echt keinen Bock mehr.“ und damit war Ruhe im Garten. Und ich konnte schlafen.

 

Die grausame Realität holte mich gegen 6 Uhr ein, als es an der Tür klopfte. Ich dachte kurz nach. Würden Geister anklopfen? Es war hell, und der Spuk begann immer nachts- so gegen drei Uhr morgens. Ich hatte Richard nichts von meinem nächtlichen Ausflug erzählt, aber da ich den Frosch im Hals bemerkte und meine Stirn heiss war, würde ich es wohl beichten müssen. Ich rief ihn leise herein und erschrak über meine Stimme. Es hatte mich definitiv erwischt. Er blickte scheu hinein und war sichtlich besorgt, als er mich sah.

Was ist denn mit dir passiert- du siehst nicht gut aus.“ Nun kam er doch hinein- und aus Voraussicht zog ich die Decke bis zum Hals. Er setzte sich auf die Bettkante und sah mich sorgenvoll an.

Ich glaub, ich hab ´ne Grippe oder so.“ flüsterte ich. Gott- es ging mir saudreckig- und das kam nicht vom Fensterputzen.

Woher denn? Es ist doch Sommer. Aber du sahst gestern auch schon so blass aus- als hättest du neulich beim Gewitter was abgekriegt. War es zu kalt in deinem Zimmer?“

Nein- aber ich- ich hab glaub ich eine Dummheit gemacht. Ich hab über so viel nachgedacht und dann waren da Geräusche- und ich hatte Angst vor diesem Haus und bin rausgegangen- in den Regen.“ Er sah mich ernst an.

Aber warum denn das? Hier passiert dir doch nichts. Draussen hätte dich ein Blitz treffen können oder ein Baum- mach sowas nie wieder, hörst du?“

Richard- sie verstehen nicht ganz. Ich wollte gehen- für immer.“ Ich sah zum Fenster, weil ich den Ausdruck in seinen Augen nicht ertragen konnte.

Warum? Geht es dir hier nicht gut?“ fragte er leise.

Doch- sie sind so nett zu mir- aber- da ist etwas, daß mir Angst machte. Ich kann es nicht sagen, und zwingen sie mich nicht dazu. Ich weiß, daß ich jetzt hier bleibe, und nur das ist wichtig, oder?“

Gut.- Ich werde nicht fragen, aber bitte sag mir, wenn es etwas gibt, daß ich ändern soll. Und lauf bitte nicht einfach so weg- sag wenigstens Bye, okay?“ Die Kränkung schwang in seiner Stimme mit.

Es ist nichts, was sie oder Timmy betrifft. Und jetzt weiß ich, daß nichts passieren kann. Alles ist gut so, einverstanden?“

Naja- bis auf die Erkältung. Du bleibst erstmal im Bett- ich bring dir ´nen Tee, dann sehn wir weiter.“

Okay.“ flüsterte ich und drehte mich auf die Seite. Ich war viel zu müde, um darüber nachzudenken, wie mein weiteres Vorgehen aussehen sollte- ich wußte nur, daß Gegenwehr zwecklos war. Hatte ich in den ersten beiden Tagen noch lauthals dagegen rebelliert, mich in das System der Geliebten zu fügen, war es plötzlich okay für mich. Ich wußte, daß ich die Macht hatte, es zu ändern. Das Richard so steuerbar war, um eine jahrhundertealte Tradition zu kippen. Und dann würde alles anders sein.

 

Als Richard zum fünften Mal kam und fragte, ob ich was bräuchte, reichte es mir. Fürsorge war ja gut und schön- aber wenn aller halbe Stunde jemand zur Tür hineinspähte- vorher noch höflich anklopfte und dann immer so tat, als wolle er nicht stören, war das nervig.

Kommen sie rein- sie geben ja eh keine Ruhe.“

Ich wollte nicht aufdringlich sein.“ entschuldigte er sich, setzte sich aber bereitwillig aufs Bett.

Sind sie nicht. Aber langsam durchschau ich sie. Sie haben was auf dem Herzen- also spucken sie es aus- krank sein kann ich, wenn ich tot bin.“

Ich- ich wollte sie nur fragen, ob ich Robert und Julie absagen soll, weil sie ja krank sind. Und wir ja noch nicht wissen, ob alles fertig wird.“

Richard- welchen Tag haben wir heute?“

Donnerstag.“

Und wann wollten sie ihr Barbecue halten?“

Samstag.“

In welchem Verhältnis stehen sie zu ihrem Bruder- ich meine- helfen sie sich auch gegenseitig?“

Naja- vielleicht schon, ja.“

Dann laden sie Robert und die Sippschaft eben schon für Nachmittag ein- ist die Küche ab heute Abend nutzbar?“

Ja- aber wenn sie Nachmittag kommen ist das doch auch nicht einfacher, oder?“

Sie kapieren es einfach nicht. Ich back einen Kuchen, dann kriegen alle erstmal eine Stärkung und dann helfen alle mit, Ordnung in das Chaos zu bringen. Das dauert nicht länger als drei Stunden, also können die Männer des Hauses um 18 Uhr den Grill anwerfen und dann gibt es Barbecue- noch Fragen?“

Ähm- ist es ein Problem, wenn meine Mutter auch kommt?“ Er duckte sich scheinbar in banger Vorraussicht.

Wenn sie erst gegen 19 Uhr erscheint, werde ich sie nicht töten, wenn sie das hören wollen.“

Ist das nicht zu spät?“

Was? 19 Uhr? Glauben sie mir- ihre Mutter lebt wie alle anderen Mütter dieser Erde in einer anderen Zeitzone- die Uhren gehen da immer eine halbe Stunde vor, also wird sie nicht zu spät sein.“

Ich lern immer wieder dazu bei dir. Danke, daß du geblieben bist.“

Geben sie es zu- sie schleichen nur um meine Tür, weil sie Angst haben, ich könnte abhauen. Dafür gab es früher Fußketten.“

Mir ist nur klar geworden, wie sehr ich dich brauche. Ich will dich nicht zwingen, zu bleiben, das kann ich nicht. Ich kann nur versuchen, es so angenehm wie möglich für dich zu machen.“

Jede andere Frau würde sie dafür küssen.“ bemerkte ich leise.

Jede andere Frau hätte es mir nicht gesagt.“ konterte er traurig. Wir sahen uns eine Weile an, dann erhob er sich schwer aufatmend und ging wieder. Mein Gott- wie sehr ich doch wollte, daß es mehr war! Langsam erhob ich mich und zog mich an. Ich wollte nicht den ganzen Tag im Bett verbringen, und was Timmy machte, konnte nicht gut sein. Er hatte bestimmt den ganzen Tag das Haus nicht verlassen und hockte vorm Fernseher, der zwischenzeitlich in seinem Zimmer untergebracht war. Also raffte ich mich zusammen und suchte ihn, um in den Garten zu gehen. Dort mußte erstmal geklärt werden, was das alles darstellte, und frische Luft würde mir auch nicht schaden.

 

Der Kleine stromerte vor mir her durchs hüfthohe Gras und sah kaum etwas, hatte aber anscheinend seinen Spass. Ich bedachte das Haus hinter mir immer wieder mit einem kontrollierenden Blick. Eine große Veranda führte nach hinten, und im oberen Stock gab es einen großen Balkon, der wohl vor den beiden unbenutzten Zimmern lag. Er schloß sich direkt an diesen Turm an, der eine Etage höher war und in welchen man nicht hineinsehen konnte. Im Erdgeschoß war der Turmausschnitt nun der Platz für den Eßtisch- aber ich wußte weder, was darüber lag, noch, was ganz oben war. Sicherlich hatte man einen phantastischen Blick nach allen Seiten. Von meinem Zimmer aus konnte ich nur dunkle Vorhänge und Bretterbeschläge erkennen, aber irgendwie zog es mich an. Waren das auch die Geister? Konnten sie mir sagen, für was ich mich hier interessieren sollte? Oder war das eine ganz normale Neugier?

Bei den Ausmaßen des Gartens wurde mir schnell klar, daß es nicht einfach mit Rasenmähen und Ausasten getan war. Hier mußte alles beseitigt werden. Der Rasen würde nie welcher werden, also war umpflügen und Neuansaat wohl klüger. Das Schlammbecken war wohl einst ein Schwimmbecken oder ein Brunnen gewesen- jetzt wurden die grazilen Steindamen von Moos und Efeu überwuchert. Und hätte es darin geblubbert, wäre es auch nicht verwunderlich gewesen. Also erstmal auspumpen und reinigen. Das Richard keine Angst hatte, Timmy könnte da reinfallen, wunderte mich schon. Aber wahrscheinlich war Timmy noch nie so weit vorgedrungen. Alles, was jenseits der heruntergekommenen Veranda lag war wohl vor Urzeiten zum letzten Mal gesichtet worden. Und dann wurde das Gras plötzlich niedriger. Es wuchsen viel mehr Moose hier, und der Boden war hart, was nur bedeuten konnte, daß hier etwas Gebautes darunterlag. Ich ging noch ein Stück auf der freien Fläche und drehte mich dann um. Das war die Position, die er mir gezeigt hatte. Das Gelände verlief links und rechts abschüssig, als wäre es aufgeschüttet worden, aber ich stand auf gleicher Höhe wie das Haus. Es war wie eine viereckige Ebene, die ich von oben nicht erkannt hatte. Der Zaun des Grundstücks war nicht auszumachen, aber die gepflegten Gärten der Nachbarn reichten nicht mehr bis zu diesem Punkt. Ich sah mein Zimmer von hier- und den Turm, der scheinbar vollkommen mittig stand, was nicht sein konnte, da er eigentlich rechts an der Hausecke war. Aber es war die Mitte des Grundstücks. Als wäre das Haus viel größer geplant gewesen. Ich machte rückwärts ein paar Schritte- und konnte mich geradeso abfangen, als der Boden plötzlich nachgab und ich fast einen Hang hinabrutschte. Erschreckt atmete ich durch. All das hohe Gras und Gestrüpp verrieten nichts von dem Gelände an sich. Beim genaueren Betrachten der Kante stellte ich fest, daß es eine Mauer war. Als stände ich auf dem Dach eines Flachbaus- und die Erde war darangeschüttet worden. Das weckte natürlich mein ganzes Interesse- hatte ich schon erwähnt, daß ich Archäologie toll fand? Also sagte ich Timmy, er solle sich auf die Kante setzen und aufpassen, daß mir nichts passiert, dann stieg ich langsam hinab. Es war verdammt steil, und ich ahnte schon, daß mein Rückweg einen Umweg bräuchte. Aber als ich unten ankam wußte ich, daß es erst der Anfang meiner Entdeckungen war. Hier mußte früher ein anderes Gebäude gestanden haben- und die Ebene waren die Überreste des Kellers. An einer Stelle erkannte man sogar Arkaden, die aus der Erde ragten. Also war es nicht nur ein Keller gewesen- es war eine Art Untergeschoß, daß am Hang lag und von hier einen wundervollen Blick über die Landschaft gewährte. Und hier verlief eine alte Strasse, die nun nur noch als Fahrradweg diente. Und das mitten in Amerika! Wer immer dieses Haus gebaut hatte- er mußte reichlich Geld gehabt haben, sonst wäre so eine Hangkonstruktion nicht möglich gewesen. Etwas sagte mir, daß es immernoch einen Weg dort hinein gab. Und das dieser Weg nicht hier unten war, denn es war fast alles zugeschüttet worden. Ich machte mich also wieder auf den Weg nach oben, und kam vollkommen zerkratzt und verdreckt an. Mein treuer Timmy saß immernoch auf der Kante und sah mich ernst an.

Was tun wir hier?“

Oh- ich wollte nur wissen, wie weit der Garten geht- ganz schön groß.“ Ich putzte mir die Sachen ab und zog Timmy hoch.

Dad hat verboten, hierher zu kommen.“ Er schlürtfe hinter mir her.

Dann werden wir es ihm eben nicht sagen. Aber wieso hast du das nicht eher gesagt?“

Ich dachte, du suchst etwas.“ Ich blieb stehen und sah den Jungen eine Weile an. Was stimmte nicht mit ihm?

Was sollte ich denn suchen?“ Ich gab vor, nicht verwirrt zu sein, aber seine Antwort ließ mir das Blut gefrieren.

Die Anderen.“

Der Feind im Haus

 

Ich erwachte durch seltsame Töne im Haus. Etwas scharrte und polterte leise, und ich wußte nicht, woher es kam. Draussen hatte ein Gewitter eingesetzt und der Himmel war von Blitzen erhellt. Ein verdammt gutes Wetter zum Geister sehen. Aber so sehr ich auch versuchte, wieder einzuschlafen- ich konnte es nicht. All das, was ich in den letzten Tagen und Stunden gehört hatte kam wieder hoch, und ich versuchte, zu sortieren. Der alte Mann, der meinte, er hoffe, ich wäre die Letzte. Der andere alte Mann. Er hatte mich beobachtet, das wußte ich einfach. Aber nicht so, wie die anderen Menschen dieser Stadt. Er hatte nicht mich gesehen- vielmehr eine Funktion, die ich ausfüllte. Etwas, daß hier schon einmal war. Eine rege Personaltradition. Sie hatten Verhältnisse mit ihnen, keine Frage. Vielleicht sogar Richards Großvater. Oder Cecil- nein- die bestimmt nicht. Aber dann- war es ausgestorben? War das wie ein Fluch, den alle Wilsons durchlebt hatten? So selbstverständlich, wie es angenommen wurde, wäre ich schon eine Ausnahme- und auch ich verfiel ihm immer mehr. Es war nicht das Geld, und es war auch nicht die Aussicht auf eine gute Stellung. Es war nicht einmal Liebe, die mich zu ihm trieb, denn dann hätte ich mich nicht so gewehrt. Irgend etwas war an dieser Familie, was verabscheuenswürdig war- das Geheimnis, das sie alle umgab- und das Julie kannte, auch wenn sie nichts sagen wollte. Und zugleich waren sie ein Sog- man entkam ihnen nicht. Und dann dieses Haus. Das Klappern hörte nicht auf, sondern wurde stärker. Vielleicht ein offenes Fenster? Warum hörte Richard es nicht? Ich wußte, daß er einen leichten Schlaf haben mußte, denn er war mit Timmy immer allein gewesen- und Eltern entwickelten ein gutes Gehör, wenn ihre Kinder im Nebenraum waren. Ich schloß wieder die Augen. Und gerade, als ich einschlafen wollte, war es da. Das Klappern wurde zu Schritten, die leise über den Gang schlichen. Dann eine Tür. Sie wurde ins Schloß gedrückt. Es war wohl Richard gewesen, der das dämliche Fenster geschlossen hatte. Dann eine Weile nichts. Und dann erstarrte ich fast. Eine Spieluhr klimperte leise vor sich hin. Mir fiel wieder dieser schreckliche Raum ein, Emmas Figuren. Die Ballerina. Er hatte sie an die Wand geworfen. Es gab nur diesen einen Raum, wo solch ein Kitsch herumstand. Und ich hatte den Schlüssel dazu. Ich richtete mich auf und faßte in das Nachtschränkchen. Der Schlüssel war da. Aber vielleicht hatte er einen Zweitschlüssel- für mein Zimmer hatte er ihn ja wohl auch- wie sonst hätte er an meine Tasche kommen können? War es eine sentimentale Regung von ihm- sehnte er sich, nachdem ich ihn so abgewiesen hatte, doch nach Emma zurück? Aber die Ballerina war kaputt- entweder gab es mehrere Spieluhren- oder- nein- ich fing an, zu fantasieren. Ich schwang die Beine aus dem Bett und und straffte die Schultern.

Es gibt keine Geister!“ sagte ich zu mir selbst und riß meine Tür auf. Der Korridor war rabenschwarz- kein Licht. Ich knipste es an. Milchige Gesichter starrten mir von ihren Porträts entgegen. Komisch- sie sahen alle ganz verschieden aus. Das war keine Familiengalerie. Ich trat näher an eines der Bilder heran und wischte den Staub weg. Vergessen war die Spieluhr- ich schreckte förmlich zurück. Unter dem Staub kam ein weißer Spitzenkragen zutage. Und eine schwarze Kleidung. Eine Dienstmädchenkleidung. Plötzlich schien sich alles unter mir zu drehen. Ich schaffte es zum nächsten Bild- und der Mann, der darauf zu sehen war, trug einen Butleranzug. Er war der einzige Mann in dieser Reihe- alles andere waren Frauen- junge Frauen in der Mehrheit. Frauen wie ich. Und das letzte Bild fehlte. Oder war es das Erste? Es war mir in dem Moment egal. Ich wollte zurück in mein Zimmer, wollte meine Sachen schnappen und sofort verschwinden- aber da begann die Spieldose von Neuem. Wütend stürmte ich zu dieser verdammten Zimmertür und drehte den Knauf- aber es war verschlossen. Wer immer da drin war- er hatte hinter sich zugeschlossen. Ich merkte, wie eine nie gekannte Panik in mir hochstieg. Wo war ich nur? Ich wollte hier weg- fort von Richard und dem Wilson- Clan. Raus aus diesem Horrorhaus. Also tat ich das Vernünftigste- ich nahm meine sieben Sachen zusammen, zog mich an und lief los. Irgendwie mußte man doch aus diesem Ort kommen.

 

Doch schon, als ich die Eingangstür öffnete und strömender Regen mir entgegenschlug, wurde mein Entscheidungsmut gebremst. Ich lief los- quer über den Rasen des Nachbarhauses- zu der Haltestelle, die mich in dieses Leben geworfen hatte. Es war klar, daß jetzt kein Bus fuhr- aber vielleicht stand wenigstens eine Nummer des Taxidienstes daran. Der Regen donnerte auf mich herab, ich fror erbärmlich- und es gab natürlich keine Nummer. Ich fluchte und schlug wild um mich, aber das brachte mich auch nicht weiter. Und dann hielt ich inne, weil eine schwarze Gestalt auf der anderen Strassenseite stand. Er beobachtete mich- und ich ahnte, wer es war. Der Regen prallte an seinem Regenmantel ab- und aus dem alten Gesicht traf mich eine unglaubliche Traurigkeit. Ich sah ihn an, er sah mich an- und dann nickte er. Ich verstand. Es gab keinen Weg aus Timbletown- zumindest nicht so. Deprimiert nahm ich meine Tasche und schlürfte zu ihm hinüber. Warum ich ihm vertraute, wußte ich nie- nicht einmal jetzt kann ich sagen, was es war, daß mich letztendlich rettete. Aber in diesem Moment brauchte ich einen Vater- Jemanden, der einfach da war- und mir vielleicht sagen konnte, was ich tun mußte. Er nahm meine Tasche ab und berührte kurz meinen Oberarm.

Komm´sie- zuviel Regen für´ne kleine Miss. Schlechtes Wetter für so´n altes Haus, nicht wahr?“ Ich sah ihn aus nassem Gesicht an- und ja- ich hatte geweint- aus lauter Verzweiflung, hier gefangen zu sein. Aber es wurde etwas besser. Er war sehr alt, das sah ich jetzt- und ich wollte ihm meine schwere Tasche wieder abnehmen, aber er bestand darauf.

Ich heiß Abe, wenn´s recht ist- und ich kenn den alten Kasten seit Kindheitstagen. Der war mir nie geheuer- selbst, alsser noch gut war und lebendig. Jetz isser tot, wenn sie verstehen. Is nich gegen sie- und nich gegen Rich und den kleinen Timmy- is mehr so´n Gefühl. Und bei Regen kommt es wieder. Dann denk ich immer- Mensch Abe- da musses gruselig drin sein. Und naja- der Rich und der Kleine sind das gewöhnt- ich mein- die Geräusche- aber so´ne kleine Miss wie sie- die kriegt da Angst, dacht ich mir- und da wußt ich- Abe sagte ich mir- die läuft bestimmt weg wegen all der Sachen. Da mußt du auf sie aufpassen- denn sonst geht die Ärmste noch drauf. Naja- kommen´se mit zu mir- ich mach nen starken Grog und dann lachen sie drüber. Diese Gartenzaunwachteln ham sie bestimmt verschreckt- die und ihr Mysteriengequatsche. Ich bin 96- und ich habs gesehen- ich weiß, was los ist. Sachen passiern eben- kann man nichts machen- und wir zwei könn´nur das Beste draus machen-nich wahr?“ Ich nickte erleichtert und folgte ihm in sein Haus, von wo aus man das Wilson- Haus halb sehen konnte. Hier war alles alt, aber gemütlich. Er schien allein zu leben- und dafür war es sehr sauber.

Sie ham hoffentlich keine Angst vor Katzen- aber die alte Alice guckt eh nur aus dem Fenster.“ Auf dem Fensterbrett in der Küche saß eine graue Katze, die so tat, als schliefe sie. Dieser Mann war unglaublich sympathisch- und irgendwie brauchte ich dieses Gefühl. Ein Mensch, der nicht gleich vor allem zurückschreckte, wenn es um diese Geschichten ging. Der mich nett behandelte. Er setzte Wasser in einem alten Teekessel an und setzte sich mit einem leisen Schmerzstöhnen. Ich tat es ihm nach. Dann sah er mich lange an. Ich schniefte und wischte mir verlegen die Nase am Ärmel ab.

Na- sie sehn schon wieder besser aus. Was war´s denn, was sie so erschreckt hat?“

Es polterte und klapperte wie ein offenes Fenster. Ich dachte, es wäre nichts. Dann lief jemand über den Gang, machte die Tür zu diesem Zimmer auf und dann- spielte eine Spieluhr. Die Tür war aber verschlossen.“

Das is mir neu. Welches Zimmer meinen sie denn?“

Das von seiner toten Frau.“

Eh- Emma- du verdammtes Miststück- mußt du jetzt auch noch rumgeistern?“ fluchte er gen Haus. Ich war etwas schockiert- aber er lächelte darüber.

Wissen sie- ich hab da so meine Theorie- wenn einer spukt- beschimpfen sie ihn. Irgendwann isser beleidigt und kommt nich wieder.“

Sie glauben, da drüben spukt es?“ Ich konnte ein Frösteln nicht verhindern- und wenn man etwas Thrill suchte, brauchte man nur Einheimische fragen, die kannten immer eine gute Story über weiße Frauen oder tote Untote.

Nee- Missy- das is Quatsch. So´ne Häuser gibt´s nich. Geister kommen nie einfach so raus und spuken rum- die ham andere Sachen zu tun- egal ob da oben oder unten. Das mit den Geräuschen und so is natürlich nich grad beruhigend- und sie komm´ja nich von hier, da is das neu für sie. Das Haus is so alt wie ich. Menschen werden alt- und sowas auch. Das Problem is- Häuser ham an sich kein Gedächtnis- das machen wir Menschen für sie. Wenn da einer drin stirbt, is das dem Haus egal- aber die Menschen, die reden natürlich. Die merken sich sowas. Wenn dieses Emma- Biest so ein Zimmer hatte, dann is das eine Verbindung zu ihr, verstehn sie? Da halten sie was fest, was nich gehn kann. Und über die Jahre ham die Wilsons ziemlich viel da drin festgehalten- das is sowas wie ihr Zentralgehirn. Ich versteh gut, warum Cecil da nich gern reingeht- die kennt all die Sachen- die hat da Angst vor. Und das is ihr Fehler.“

Sie meinen, Richard lebt da, weil er all dem die Stirn bietet?“ Ein Einzelkämpfer gegen das Böse- genau das wollte ich immer lieben.

Wissen se- Richard war immer bei seinem Großvater zu Besuch hier, da kenn ich den Windelscheisser schon immer. Der hatte nie Angst vor etwas. Und er wollte immer anders sein als der ganze Clan. Und dabei macht er gerade den ganz großen Fehler. Er wagt sich da zu weit raus, das spür ich. Da erwacht was, das besser in Ruhe gelassen werden sollte.“

Sie meinen, die Erinnerungen?“ hoffte ich. Es gab ja keine Geister, das hatte er mir gerade gesagt- aber warum glaubten alle, daß Richard etwas erweckte? Hätte er das Haus nicht umbauen sollen?

Verstehn se mich nich falsch- Miss- is nich gegen sie. Aber die Leute ham ihre Gründe, sie nich zu mögen. Nich das Haus is böse- und da gab es auch keinen bösen Dämon drin. Der kam erst an dem Tag, als sie da klingelten.“

Ich verstehe nicht ganz-.“ Ich glaubte es nicht- nicht das Haus war böse- und auch nicht der Clan-.

Sie sind das Böse für Richard. Sie bringen die alten Sachen zurück, die besser ruhen sollten. Es is nich die Sache mit den Bauarbeiten, die alles verändert, was im Laufe der Zeit unter einer Staubschicht verschwand. Mit jeder Frage, die sie stellen, jeder Gedanke,den sie haben, erwecken sie die Geister zu neuem Leben. Und dann müssen sie mit denen fertig werden.“

Aber- ich hab doch gar nichts getan!“ wehrte ich mich.

Was hat er ihnen über Emma erzählt?“

Nicht viel Gutes.“

Sehn sie- und da war was mit der Spieluhr. Fragen sie sich mal, warum er es nich auch gehört hat.“

Ich bilde es mir nur ein?“ Das war alles zuviel- alles also nur Trugbilder. Es war das Haus- es war zu unheimlich- da fielen einem schreckliche Dinge ein.

Ich glaub, sie müssen noch viel lernen, Miss. Sie denken Schwarz- Weiß. Aber die Grautöne, die fehln ihnen. Sie wollen, das sie sie hören- sie wollen, daß sie es sehen. Weil sie sie warnen wollen. Hören sie ihnen zu, dann verstehen sie´s. Rich kann es nicht sehen- alle aus dem Clan sehen es nicht. Es ist der Wilson- Fluch. Er trifft nur die Menschen, die um sie herum sind. Und die sind es, die sie hören können. Sie werden mit ihnen reden wollen, da bin ich sicher. Aber haben sie keine Angst vor ihnen- es sind ihre Freunde. Lassen sie sich von ihnen leiten, dann erkennen sie, was los is. Keiner dieser verdammten Wilsons wird ihnen je die ganze Wahrheit sagen, und selbst ich kann es nich, weil ichs nich weiß. Was in diesem Haus geschah, blieb im Dunkeln- da sind die eigen. Aber sie ham die Chance, es zu wissen. Es gibt immer zwei Seiten- und Richard steht auf der Einen- der der Herrschaft. Sie sind die andere Seite- die Dienerschaft. Sie kannte schon immer die wahren Geheimnisse. Es ist für sie nur von Nutzen, genau zu beobachten.“ Er stand auf, als der Kessel pfiff und goß das Wasser auf den Schnaps.

Was ist mit Timmy- kann er es sehen?“

Nein- denn er ist ein Wilson. Obwohl der sehr seltsam ist. Ich mach mir Sorgen um den Jungen- das is nich gut, wenn Kinder so allein groß werden. Versprechen sie mir, für ihn zu sorgen.“

Das werd ich tun- er war heute schon ganz anders.“

Das ist schön. Und nun trinken sie das- und dann gehn sie zurück zu ihrer Familie. Die brauchen sie.“

Ich weiß.“ Ich schlürfte an dem heißen, hochprozentigen Zeug und atmete tief durch.

Es war nich das Geräusch, daß sie zur Flucht trieb- so´n Schisshase sinn sie nicht.“ stellte er nach einer Weile fest.

Nein. Es waren- die Bilder.“

Welche Bilder?“ Ich glaubte ihm, daß er es nicht wußte.

Im oberen Stockwerk, bei den Schlafzimmern, ist eine Bildergalerie. Aber es sind nicht die Familienmitglieder, die da hängen- es sind die Diener.“ Sein Blick wurde seltsam- und ich ahnte etwas noch viel Erschreckenderes.

Das is nicht möglich, Miss. Ich kenne diese Bilder- es sind die Ahnen- sein Großvater, die Großmutter-.“ er stockte. „Was haben sie gesehen?“

Es waren fast alles junge Mädchen. Sie hatten weiße Spitzenkragen. Und ein älterer Mann in Butleruniform.“ Ich sah ihn zweifelnd an.

Dann hat es längst begonnen. Was hat ihnen am meisten Angst gemacht? Ich meine- da war etwas- oder?“

Das letzte Bild fehlte.“ Ich merkte, wie mir die Tränen hochstiegen. Diese Bilder gab es nur für mich- ich hatte sie gesehen, aber eigentlich waren es ganz andere Bilder. Sie hatten sich mir gezeigt.

Und was glauben sie, was es heißt?“

Ich weiß es nicht- vielleicht war es Emma, die er abgenommen hat-.“

Und wieder ein Holzweg. Richard sieht diese Bilder nicht, schon vergessen? Emma war eine Herrin, keine Dienerin- das könn sie mir glauben. Wen immer sie gehört haben- er wollte ihnen weismachen, daß es Emma wäre, weil sie von ihr was wußten. Weil es eine Verbindung gab. Und das ein Bild fehlt, bedeutet nichts weiter, als das sie warten- auf sie. Sie sind das letzte Bild. Sie bringen den Wechsel.“

Welchen- Wechsel?“

Denken sie nach. Was bedeutet eine Ahnengalerie?“

Stolz auf die Familie- ich weiß nicht?“

Nein- es bedeutet Präsentation der Macht. Es is die Sache der Herrn, nicht der Knechte. Wenn nun plötzlich die Knechte als Herren erscheinen, was bedeutet das?“ fragte er noch eindringlicher. Ich begriff und nickte.

Sie ham eine unglaubliche Chance, ihnen den Frieden zu geben. Sie wurden immer unterdrückt- aber es is an der Zeit, ihre Stimmen zu hören- und zu handeln. Das können sie nur, weil Richard es erlaubt. Und das wissen die Geister. Sie ham ihn jahrelang studiert, als er sie in Ruhe ließ. Jetzt sind sie wieder zurück, weil sie nich wolln, daß er ihnen dasselbe antut wie es früher war. Bleiben sie hier und handeln sie- und wenn es wieder schlimm wird- mit den Wilsons oder auch mit deren Spukpersonal- kommen sie zu mir- ich bin für sie da.“

Danke.“ Ich trank noch meinen Grog aus, vertrieb das Drehen im Kopf und verabschiedete mich dann. Auch wenn es alles so seltsam war, und ich eigentlich nicht glaubte, was er mir gesagt hatte- es hatte unglaublich Mut gemacht. Jetzt konnten die Geister kommen! Sollten die mir doch sagen, was gut und schlecht war- vielleicht tauschten wir auch Kochrezepte aus- klar- wir waren eine Patchwork- Familie, die dadurch verbunden war, daß wir alle früher oder später die heimlichen Geliebten der Herrschaft waren. Ich würde es Richard nicht erzählen- der würde mich für verrückt erklären. Aber die Wilsons hatten ihren Clan- und ich hatte jetzt meinen. Der existierte vielleicht nur in meiner Phantasie, aber ich kam mir nicht mehr so allein vor. Am liebsten hätte ich mich in die Küche gestellt und laut gerufen: „Hallo- Familie- ich bin wieder da. Und jetzt legen wir erst richtig los.“ Ich verkniff es mir, weil ich damit sicherlich Richard und Timmy geweckt hätte, stattdessen ging ich wieder nach oben. Vor den Bildern hatte ich nun doch etwas Angst- aber wie geahnt waren sie nicht mehr da. Es waren ganz normale Ahnenbilder. Alle hatten sie die gleiche Stirn, die gleichen Augen. Die Wilsons eben.

Euch werd ich schon noch zeigen, daß man mit uns nicht so umspringt!“ flüsterte ich ihnen zu und war so hundemüde, daß ich glatt verschlafen sollte.

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Ninth
Das zweite Gesicht aus früheren Zeiten fasziniert mit seinem Endzeitglauben, aber auch der Kraft, das zu sehen, was wir heute verlernt haben. Meine Werke spiegeln die andere Welt wieder, das, was jenseits des Bekannten lauert- auf der anderen Seite der Schwelle.

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