„Willkommen in meinem Heim.“ Katuri half ihr, auszusteigen. Sie mißtraute ihm nun doch. Wo immer er sie hinbrachte- es war wohl der Mittelpunkt der Erde. Und sie konnte nicht entkommen.
Um sie herum standen noch weitere Gefährte, und von der Decke strahlten große Lichter, aber es war angenehm dunkel und nicht so grell wie in diesem anderen Haus mit den weißen Zauberern.
Es erinnerte sie irgendwie an eine Kathedrale- zumindest an das, was sie sich darunter vorstellte. Es war rund- oder eher ein Ding mit mehr als vier Ecken und im Kreis standen Säulen aus schwarzem Metall. Es hallte jeder einzelne Schritt wieder, als sie zu einer großen Tür gingen, die wie von Geisterhand aufglitt. Dann war da ein Raum mit mehreren Türen. Eine davon war aus Glas und ging in ein Gefängnis, wie sie es hier schon erlebt hatte. Man konnte nach draussen sehen und die Stadt erkennen, die nach oben hin heller wurde- und genau dort hinein sollte sie gehen. Sie wehrte sich mit aller Macht und schrie los. Da schlug ihr etwas Flaches in den Nacken und sie sank zusammen. Sie merkte nur, wie sie nach oben fuhren und sie anschließend hinausgehoben wurde. Als sie wieder erwachte- und ein ungeheurer Schmerz durch ihren Hals fuhr, der aber wieder nachließ, richtete sie sich auf. Sie lag auf einem unglaublich weichen Ding aus schwarzem Leder. Es war wohl eine Art Bank oder Bett. Makushi sah sie nachdenklich an, während er eine Tasse in der Hand hielt und den Dampf wegblies. Er lehnte an einem großen Tisch, auf dem sich Bücher stapelten.Rick war nicht mehr da.
„Vertrau mir, okay?“ Er sagte es nicht auf Französisch, sodaß sie zwar am Klang erkannte, das es etwas Ruhiges, Freundliches war, aber nicht verstand. Warum redete er nicht in Französisch mit ihr- so wie erst?
„Du mußt unsere Sprache lernen- deshalb werde ich nicht mehr in deiner Sprache reden.“ Es war das letzte Mal für lange Zeit, daß sie ihr altes, vertrautes Französisch hörte.
„Dad?“ Eine junge Frau kam herein und blieb wie angewurzelt stehen, als sie das Wesen auf der Couch bemerkte. „Ist sie das?“ flüsterte sie ungläubig.
„Ja. Die Kriegerin. Sie versteht uns noch nicht, aber sie wird es schon lernen.“ Lucy sah sich neugierig um. Man schien ihr nicht weh tun zu wollen- und die Bauweise dieses Hauses war einfach zu interessant. Auch hier gab es Säulen, die aber aus Stein zu sein schienen und ein riesiges Gewölbe trugen- wofür sie eigentlich viel zu schmal waren. Es gab zwei Etagen- wie in einer Basilika umlief eine Empore den gesamten Raum. Und überall waren Bücher! Aber das Erschreckende war, daß es wieder nur diese Glasfenster gab. Es sah so aus, als würde man direkt in den Abgrund stürzen können, wenn man an den Rand des Holzbodens ging. Die Bücher waren in niedrigen Regalen um sie herum untergebracht, sodaß alles hell und weit war. Auf der Empore standen hohe Regale in langen Reihen mit ihren Rücken aneinander und bildeten strahlenförmige Achsen zum Mittelpunkt des Raumes, der von einem riesigen Leuchter aus tausenden Kristallen gekrönt wurde. So hatte sie sich immer die Bibliothek im Vatikan vorgestellt! So viele Bücher! So viel Wissen! Ob Maku sie alle gelesen hatte? Dann mußte er so klug wie Gott sein. Raymond hatte auch Bücher besessen- aber es waren sehr viel weniger- vielleicht so viele, wie hinter Makushi auf dem Tisch lagen. Und sie sahen anders aus. Diese hier waren alle aus weißem Papier mit ledernen Einbänden- sie mußten unglaublich wertvoll sein. Da sie sich unbeobachtet fühlte,weil Maku etwas mit der Frau besprach, nahm sie eines der Bücher, daß direkt neben ihr lag und schlug es auf. Die Schrift war ganz gleichmäßig- kein Mensch konnte so schreiben! Es waren auch ganz andere Zeichen- und es sah irgendwie langweilig aus. Zeile für Zeile dieselbe Schrift- keine Malereien am Rand, keine Bilder von der Mutter Maria oder kleinen Mönchen- nicht einmal Ungeheuer waren zu sehen. Nur schwarze Schrift auf glattem, weißen Papier. Dann fand sie ein paar Zeichnungen mit Strichen und Zeichen- aber sie konnte nicht erkennen, ob das nun ein Bauplan oder sonstwas sein sollte.
„Ich glaube kaum, daß dich unsere Bilanzenbücher interessieren könnten.“ Er nahm ihr das Buch aus der Hand, wodurch sie erschrak, weil sie so vertieft darin gewesen war, daß sie ihn nicht hatte auf sich zukommen sehen.
„Beaucoup des Livres.“ sagte sie anerkennend und deutete um sich.
„Ja- sehr viele Bücher- für dich muß das unglaublich sein. Aber du wirst damit vorerst nichts anfangen können. Das ist übrigens meine Tochter Miaki.“ Er deutete auf die Frau neben sich.
„Mia?“
„Ja- Miaki- aber du kannst auch Mia sagen. Hallo!“ Die seltsam gekleidete Frau hielt ihr die Hand hin. Sie verstand erst nicht, dann sprang sie aber auf und knickste vor ihr, während sie ihr einen Handkuß gab.
„Oh- nicht doch!“ wehrte Miaki ab und wich von ihr, was Lucilla als Beleidigung aufgefaßt hätte, wäre da nicht die Verwirrung in den Augen der Frau gewesen, die ihr zeigte, daß das wohl nicht üblich war.
„Das lernt sie noch.“ beruhigte ihr Vater sie. „Sag mal- hast du nicht noch irgendein Bilderbuch aus euren Kinderzeiten? Wenn sie Bücher so interessant findet, könnte sie damit vielleicht lernen.“ Makushi hatte immer Wert auf gute Bildung gelegt- nur leider schien es nicht auf fruchtbaren Boden gefallen zu sein. Sein Sohn war einfach zu dumm und zu faul zum Lernen- und seine Adoptivtochter war zwar klug, interessierte sich aber leider nicht sonderlich für die Wissenschaft, sondern vielmehr für die schillernde Welt der Mode.
„Wir müssen leider bis zum nächsten Vollmond warten, bis wir dich zu einem Menschen machen können- aber in der Zeit kannst du ja schon einmal Einiges lernen. Möchtest du das Haus sehen?“
Sie sah ihn verständnislos an. Er nahm ihre Hand nur kurz und deutete an, sie solle ihm folgen. Sie gingen diesmal die Treppe nach unten, wo sie in einen riesigen Saal kamen, der nach oben und unten mehrere Ebenen hatte, die man anscheinend durch die Plattform in der Mitte erreichen konnte. In der Höhe hing wieder ein riesiger Kristallleuchter, und alles war hell und an den hohen, schlanken Säulen, die es hier auch gab, wuchsen Pflanzen nach oben. Ein Vogel kreischte und flatterte über ihren Köpfen hinweg in das grüne Gewirr der oberen Etage. Lucy erkannte schillernde, bunte Federn und einen langen, blauen Schwanz.
„Das ist unser Wohnraum. Der Papagei heißt Loriot, seine Frau Lolita- sie brüten da oben ihre Jungen aus. Ach- du verstehst mich ja nicht. Aber du sollst ja lernen.“ Er zeigte zur unteren Etage, die sie von hier aus gut erkennen konnten. Das Geländer gab Lucy eine gewisse Sicherheit, um nicht in die Tiefe zu stürzen. Alles war von den Glasfenstern umgeben, sodaß man hinaus in die Stadt sehen konnte. Ein Airliner flog nahe am Haus vorbei und ließ sie zurückschrecken.
„Oh- du brauchst keine Angst haben- sie sehen uns nicht. Da ist die Küche. Wenn du Hunger hast, findest du dort etwas. Dann hätten wir hier das Wohnzimmer- da sieht man selten jemanden, weil meine Kinder lieber auf der nächsten Etage sind. Da gibt es Computer und Spielautomaten und alles, was mich nicht interessiert. Dann haben wir noch den Salon ganz oben- da spiele ich manchmal Billiard oder entspanne mich. Das ist wohl auch nichts für dich im Moment- langweilig, würden meine Kids sagen. Ich denke, du bist in der Küche gut aufgehoben- oh, daß sollte nicht diskriminierend klingen. Entschuldige. Ich meinte nur, daß Albert dort fast den ganzen Tag ist, wenn er nicht putzt oder sonstwas tut. Er kann dir viel beibringen. Und er ist die Ruhe in Person, da kannst du fragen, bis du alles weißt. Wir gehen mal runter, würde ich sagen.“ Er trat auf die Plattform und winkte sie zu sich- und plötzlich machte es einen Ruck und sie sausten in die Tiefe. Lucy schrie kurz vor Überraschung auf, aber für Maku schien das normal zu sein- also wurde sie wieder ruhiger.
„Willkommen in Alberts Reich.“ Er wies auf den steif wirkenden Diener im schwarzen Anzug, der ihnen entgegen kam und sie anlächelte. Er trug ein weißes Hemd darunter und wirkte sehr ernsthaft -aber freundlich.
„Guten Abend. Darf ich etwas zu essen anbieten?“ Das hatte sie schon einmal gehört. Es kam im Zusammenhang mit dem leckeren roten runden Ding mit dem Fäden ziehenden gelben Gummikleister und der Wurst darauf.
„Pizza.“ sagte sie begeistert.
Der Diener stöhnte genervt auf. „Gibt es denn nichts Anderes, was ihr jungen Leute wollt?“
„Ich glaube, daß ist das Einzige, was sie kennt aus unserer Zeit.“
„Sjüss. Sjokulate.“ fügte sie hinzu. Vielleicht wollten sie ja wissen, was sie schon gegessen hatte.
„Oh- ähm- das heißt aber nicht, daß du das zusammen essen willst, oder? Ich weiß was- wir gehen mal nachsehen, was du haben willst. Die Vorratskammer ist doch gut gefüllt, oder?“ Makushi wies ihr eine Tür, die seltsame Griffe hatte und glänzte. Als er sie öffnete, schlug ihr eisige Kälte entgegen. Wo war denn der Winter hergekommen?
„Also- was hätten wir- geh ruhig rein- aber beeil dich, sonst holst du dir noch eine Erkältung.“ lachte Maku und Licht ging an. Sie glaubte, nicht recht zu sehen! Alles war voller Essen! Hungrig stürmte sie hinein und sah sich um. Aber es sah alles so anders aus. Sie hatte nur anhand des Obstes und Gemüses und des riesigen Schinkens, der in einer Ecke hing erkannt, daß das eine Vorratskammer war. Sie sah sich um und entdeckte jede Menge bunte Dinge, die komische Schrift trugen und manchmal Kühe oder Gemüse darauf abgebildet hatten. Sie nahm sich einen Apfel und begann zu essen. Dann sah sie sich weiter um. Sie packte eine der Dosen und biß in den Rand. Aber es ging weder ein Stück ab noch schmeckte es. Wütend warf sie sie wieder zurück. Dabei hatte das bunte Bild so nett ausgesehen.
„Oh- das ißt man nicht so- gib es her.“ Er hielt die Hand hin und sie gab ihm das metallene Ding.
„Komm raus hier- ich zeig dir, wie man an den Inhalt kommt. Ananas? Da bist du ja gleich mutig- den gab es in deiner Zeit doch gar nicht.“ Er stellte die Dose in einen Apparat, der komisch surrte und das Bild drehte sich- oder war es das ganze Ding? Dann klackte es. Makushi nahm es heraus und schüttete den Inhalt in eine Schüssel. Kritisch beäugte sie die gelben Räder in der Sosse. Was zum Teufel war das denn? Er reichte ihr einen Löffel. Sie setzte sich auf den hohen, komischen Hocker an der offenen Seite der Küchenzeile und versuchte, sich festzuhalten, weil sich das dumme Ding ständig drehte.
„Probier es- süss.“ Wenn es süss war, dann konnte man es essen. Also zog sie die Schüssel heran und dachte darüber nach, wie sie die Kringel mit dem Löffel essen solle, ohne dabei alles voll Sosse zu kleckern. Und die Beiden sahen ihr auch noch zu. Da nahm sie lieber die Hand und fädelte einen Kringel auf den Finger auf. Grinsend biß sie hinein.
„Okay- an deinen Tischmanieren wirst du wohl arbeiten müssen. Ich muß jetzt arbeiten, damit wir dich bald zum Menschen machen können. Albert wird sich um dich kümmern- ich bin in der Bibliothek, wenn du etwas suchst.“ Und damit ließ er sie mit dem Diener zurück.
Sie futterte begeistert weiter, während Albert Gemüse schnippelte und mit Töpfen und Pfannen aus glänzendem Metall hantierte. Imteressiert sah sie ihm zu und fühlte sich magisch von der roten Fläche angezogen ,die vor ihr aufleuchtete. Langsam senkte sie die Hand darüber- und zuckte zurück, als es heiß wurde.
„Oh- das ist ein Ofen- da kannst du kochen- siehst du?“ Er stellte eine riesige Pfanne hin und
das Fett darin begann zu zerlaufen. Sie freute sich, wie das alles wie von Zauberhand funktionierte- ohne offenes Feuer. Wahrscheinlich war es irgendwo in diesem Ofen versteckt.
„Kannst du auch kochen- ich meine- hast du das früher gelernt?“ Er wollte sie dazu bringen, mit ihm zu reden, denn nur so konnte sie wohl lernen. Sie verstand es erst, als er mit der Hand auf sie deutete und dann auf den Ofen.
„Koochen?“ Ich?“ Langsam begriff sie wenigstens etwas von dieser Sprache- und je mehr sie darüber nachdachte, desto ähnlicher erschien sie ihr der Sprache, die die Mönche gesprochen hatten, die von den britischen Inseln gekommen waren und durch Frankreich zogen. Aber es gab so viele Unterschiede- aber das war wohl eine gewisse Entwicklung, denn auch Makushis Französisch hatte sich sehr stark von ihrem unterschieden. Irgendwie mußte sie ein seltsames Bild abgeben, wie sie da mit ihren riesigen Flügeln und den alten, zerrissenen Sachen auf dem hohen Hocker saß und alles um sie herum so neu und verrückt erschien. Albert bemerkte ihren kritischen Blick auf sich selbst und verstand anscheinend.
„Wie lange bist du schon hier? Du mußt dich schrecklich fühlen in den alten Sachen- stimmts? Und bestimmt möchtest du dich waschen. Nicht, daß du schmutzig aussehen würdest- was mich irgendwie wundert, nachdem du so lange in diesem Loch warst.“ Sie sah ihn verständnislos an. „Na los- ich zeig dir dein Zimmer, und dann kannst du duschen- in die Wanne wirst du wohl nicht passen mit deinen- Flügeln.“ Er deutete auf ihre riesigen Schwingen- und entdeckte eine seltsame Narbe an der rechten Außenseite.
„Was ist das denn?“ Er kam um die Küchenzeile herum und wollte ihren Flügel ansehen- da fauchte sie ihn unvermittelt an.
„Oh- entschuldige- ich wollte dich nicht- ängstigen. Du hast Angst vor uns?“ stellte er nun erschüttert fest. „Mein Gott- das muß alles so fremd für dich sein- und wir reden alle auf dich ein, und du verstehst gar nichts. Es tut mir leid. Ich werde wohl einen Gang zurückschalten müssen. Darf ich das mal sehen?“ Er deutete vorsichtig auf die Narbe. Sie wurde wieder ruhiger und ließ ihn die Schwinge anfassen.
„Das ist eine Pfeilspitze- sie ist ja komplett eingewachsen- aber tut denn das nicht weh?“ Er strich vorsichtig über das eingewachsene Metallstück. Sie lauerte ihn fragend an. Doch dann trat etwas anderes in ihre Augen- etwas wie Trauer und Furcht vor der eigenen Vergangenheit. Sie merkte, daß sie ihnen allen vertrauen konnte- aber die Erinnerungen an damals würden sie wohl früher oder später, wenn sie nicht mehr von den Reizen der neuen Welt überflutet wurde, zurückkehren.
„Bischop Friedhelm.“ flüsterte sie mit unterdrückter Wut.
„Er war das? Ein Bischof?“
„Oui.“
„Dann ist er ein böser Mann gewesen?“
„Oui. Böser Maan. Alle Böser Maan. Auch in-äh ?“ Sie wies um sich, um anzudeuten, das sie das Wort für Haus suchte.
„Zu Hause? Küche? Was meinst du?“
„Alle!“ Sie versuchte es ihm klar zu machen. Wenn sie doch nur deren Sprache könnte! Sie mußten sie ja für vollkommen dumm halten!
„Haus. Oder meinst du die Stadt hier? Toky.“
„Ja- Toky. Böser Maan in Haus.“
„Aber hier will doch niemand etwas Böses.“
„Nein- in Haus.“ grollte sie. Da kam Mia aus einer Seitentür und ließ sie sofort ihre düsteren Gedanken vergessen. „Mia. Buch.“ freute sie sich und stürmte ihr entgegen.
„Meine Güte- erzähl das bloß nicht meinem Dad- der macht dich noch zu seiner Bücherfeee, wenn du so drauf abfährst.“ Sie knallte den Packen alter Kinderbücher auf den großen Eßtisch, der fast die Hälfte des Seitenschiffes einnahm. Lußy stürzte sich gleich darauf und deutete Miaki an, sie solle sich neben sie setzen. Sofort zeigte sie auf das erste Bild und sagte in ihrer Sprache, was es heißt.
„Pomme.“
„Apfel.“ Miaki ahnte schon, das das länger dauern konnte, aber immerhin hatte sie nun eine neue Mitstreiterin gegen die männliche Überzahl in diesem Haus. Und irgendwie war Lucy einfach zu drollig, um sie nicht zu mögen. Sie schien vollkommen begeistert von allem und jedem zu sein- und ihr Wissensdurst war beinahe schon unheimlich. Aber so würde sie wohl bald ihre Sprache lernen.
„Gary? Du hast ja lange nichts von dir hören lassen- was ist los? Wann kommst du vorbei und siehst dir deine Schülerin an?“ Makushi war hörbar stolz auf die Fortschritte, die sein Schützling in den letzten Tagen gemacht hatte. Und heute Nacht wäre es soweit- sie würde wieder zu einem Menschen werden- natürlich mit ihren Fähigkeiten, aber immerhin würde sie so aussehen wie alle Anderen und somit auch die Welt da draussen kennenlernen dürfen. Er war stolz darauf, einen Zauber aus Garys Buch entwickelt zu haben, der das ermöglichte, schließlich war keine Verwandlung bekannt, die vollkommen gewesen wäre. Aber die Aufzeichnungen waren auch so dürftig, daß er nichts Konkretes wußte- erst recht nicht über Aeon, der sich anscheinend bemüht hatte, seine Spuren zu verwischen. Andererseits wäre er ohne Gary- oder den Aeon in ihm, nicht auf Lucilla gestoßen. Dann wäre ihre Existenz vielleicht weiter unbekannt geblieben.
„Tut mir leid- ich hatte viel um die Ohren. Wie geht es ihr? Macht sie Fortschritte? Und hast du ihr etwa erzählt, das ich ihr Mentor bin?“ Das wäre eindeutig zu früh, und Gary atmete erleichtert auf, als er das Nein am anderen Ende der Leitung vernahm.
„Glaub mir, der Begriff Mentor wird wohl nicht gerade zu ihrem momentanen Standard- Vokabular zählen. Wir sind froh, wenn wir ihr alles sagen können, was sie wissen will. Sie lernt unglaublich schnell- das ist schon etwas unheimlich.“
„Wie schnell?“ Gary wurde besorgt. Eine bittere Vorahnung traf ihn. Was, wenn sie nur so schnell lernte, damit sie ihren Rachefeldzug starten konnte? Maku glaubte an das Gute in ihr- und nur das Gute- aber er wußte aus eigener Erfahrung, daß es die andere Seite in ihnen gab- die endlose Dunkelheit, die wie eine Schlange durch sie kroch und die Gedanken in eine Richtung vergiften konnte, die sämtliches Leben haßte.
„Fast zu schnell. Sie hört ein Wort- und schon kann sie es verwenden. Hat das eine Bedeutung?“
„Was interessiert sie am meisten?“ Er wußte, das er eigentlich für sie da sein mußte- aber etwas in ihm sträubte sich noch dagegen- warum auch immer. Er hatte 1000 Jahre auf diesen Moment gewartet- und nun hatte er Angst davor. Die Ziellinie seines Lebens war direkt vor ihm, aber er verlangsamte. Was, wenn sie ganz anders war? Wenn sie nicht diesem Bild entsprach, daß er damals in ihr gesehen hatte und das sich wie ein Brandmal in sein inneres Auge gefressen hatte?
„Warte- ich hab hier ihren Stapel- der ist nur für heute. Sie sieht sich all meine Bücher an, und wir haben schon Massen dazugekauft- mit vielen Bildern, weil sie ja nicht lesen kann. Was ist das denn? Waffenkunde durch die Jahrhunderte? Wie kommt das denn hierher?“ Maku wirkte nur verwirrt, aber für Gary war es der Beweis.
„Verdammt.“ fluchte er leise. „Paß auf, daß sie sich sowas nicht zu genau ansieht. Hat sie vielleicht einen Bischof erwähnt?“
„Friedhelm? Ja. Sie redet immer wieder darüber. Es gefällt mir gar nicht, daß sie so sehr an dieser Geschichte knabbert. Sie erinnert sich auch wieder an diese Jahre in Gefangenschaft. Manchmal wacht sie schreiend auf- wir sind momentan etwas hilflos, wie wir sie davon überzeugen können, das alles gut ist und sie nicht wieder zurück muß.“
„Du wirst den Zauber vervollständigen? Diese Nacht? Naja- vielleicht hilft ihr das ja. Vielleicht.“
„Und wenn nicht- was wird passieren? Könnte sie gefährlich werden?“ Vervollständigen. Makushi registrierte es, aber er würde später darüber nachdenken. Nie hatten sie davon gesprochen, daß ihr Zauber unvollständig sei.
„Ich weiß nicht, ob wir uns falsch verstanden haben- aber sie ist und bleibt eine tickende Zeitbombe. Wenn sie sich schon für Waffen interessiert, dann wird es nicht mehr lange dauern, bis sie Rachepläne schmiedet und irgendwer ihr erstes Opfer wird. Paßt auf, was sie lernt. Vielleicht sollte sie etwas weniger intelligente Sachen zu hören kriegen- Miaki ist doch Profi darin- sie soll ihr ein wenig das Hirn voll Modequatsch packen- bei Frauen schadet das nie.“
„Kann es sein, daß du nicht gerade ein Frauenfreund bist?“
„Milde ausgedrückt mag ich sie nur nicht in meiner Nähe- den Rest kannst du dir denken.“ Er lachte und legte auf. Aber dieser Joke am Rande konnte ihn nicht davon abhalten, nachdenklich zu werden. Warum waren Frauen für ihn Wesen einer anderen Galaxie? Sicher- er hatte es auch mal ausprobiert- aber weiter als bis zum ersten Date war er in diesem Leben nicht gekommen. Vielleicht hatte es daran gelegen, daß die Dame sich als wenig intelligent erwies und vielmehr an seinen horizontalen Fähigkeiten interessiert gewesen war. Alles nur notgeile Luder- ohne Hirn, ohne Gefühl und absolut inkompatibel zu seinem Verstand. Aber vielleicht war die Eine, die Kriegerin ja anders. Man sollte ja nie die Hoffnung aufgeben. Wenn sie tausend Jahre weibliche Idiotie und Emanzipation verpaßt hatte- naja- eine Chance sollte sie wenigstens kriegen.
„Was das?“ Lucy wies auf das seltsame Gerät auf dem Tisch an der Seite des Arbeitszimmers, in das Makushi sie geführt hatte. Sie sollte so wie ein Mensch aussehen, daß hatte sie nun verstanden. Und in dieser Vollmondnacht war es so weit.
„Ein Laborinstrument- das ist nicht wichtig für dich.“
„Waffe?“
„Nein. Aber gewöhn dir das mal langsam ab. Hier gibt es keine Waffen. Wofür brauchst du die denn auch? Niemand will dir etwas tun.“ Er bereitete angespannt den Zauber vor und entzündete ein paar Kerzen.
„Doch. Er kommen zurück.“ Sie nickte zur Bekräftigung und zog eine seltsame Schnute.
„Wer?“ Er stockte kurz. Von allem Schwachsinn, den sie in den letzten Tagen von sich gegeben hatte, klang das erschreckend ernst und glaubwürdig.
„Friedhelm. Er töten alle.“
„Jetzt hör mir mal zu- niemand kann zurückkommen und Leute töten- nicht einmal ein wahnsinniger Bischof. Er ist damals gestorben.“ Er hatte sie an den langen, graublauen Armen gepackt. Noch immer machte ihre Erscheinung ihm etwas Angst- vor allem, seit Gary ihn gewarnt hatte.
„Woher du wissen?“ Sie sah ihn verständnislos an.
„Sagen wir mal- ich kenne jemanden, der es weiß.“
„Wer?“ Niemand konnte es wissen- zumindest nicht mit solcher Sicherheit- ausser, derjenige war damals dabei gewesen. Und da gab es doch niemanden. Sie war die Einzige, die in diese Zeit geraten war. Alles, was ihr vertraut war, war tot. Das hatte sie in jeder der letzten Nächte beschäftigt. Es gab niemanden, zu dem sie zurückkehren konnte. Niemanden, dem sie von damals erzählen konnte, und er würde wissen, was sie meinte. Maku war klug, aber er kannte ihre Zeit aus Büchern. Für ihn war es eine Geschichte, die er emotionslos analysieren konnte. Aber er konnte es nicht fühlen. Er wußte nicht, wie es war, zu hungern- dafür war seine Speisekammer zu voll. Aber wenn es jemanden gab, der mehr über sie wußte, als sie selbst, wäre sie schon glücklich.
„Du lernst ihn noch kennen. Bald. Leg dich hin. Ich fange an.“ Er nahm sein Buch und begann mit der Litanei, die sie sofort in die Bewußtlosigkeit gleiten ließ. Langsam wandelte sich ihre Haut, von den Fingern beginnend, in normale Menschenhaut um. Sie bäumte sich stöhnend auf, als es ihr Gesicht erreichte und die Gargoyle- Züge den sanften, weiblichen Zügen wichen, die Raymond damals so gefesselt hatten. Makushi mußte sich überwinden, um nicht zu stocken und sie einfach nur anzustarren- eine perfekte, nackte junge Frau lag vor ihm. Sie atmete ruhig, als er beendete- und dann tat er das, was er niemandem erzählen würde. Er nahm einen weiteren Zauberspruch und ließ ihn auf sie wirken. Ein rotes Licht umströmte sie und wurde dann zu weißen Strahlen, die in sie eindrangen und an deren Stelle schwarzer Nebel herausstieg und sie umkreiste, bevor er in das vorgesehene Gefäß strömte. Er wußte nicht, welche Nebenwirkungen es wirklich geben könnte. Der Zauber sprach von der Unschuld der Jugend- was immer es bedeutete- es würde sie zumindest von den düsteren Gedanken befreien und endlich leben lassen.
Gary saß schweißgebadet in seinem Bett- hatte er sogar geschrieen- er wußte es nicht. Aber er würde die Bilder nie vergessen. Ein riesiges Bett in einem hellen, vom Mondlicht durchfluteten Saal. Das Lachen eines Mädchens, daß ihn an sich zieht und küßt. Eine unbändige Lust in ihm- aber nicht auf sie- auf ihren Tod. Er drängt sie auf das Bett und läßt sie in eine wahre Ekstase sinken. Ihre nackte, weiße Haut unter ihm erzittert. Und dann Blut. Überall Blut. Seine Krallen bohren sich in ihren Rücken und lassen sie aufstöhnen. Metallener Geschmack in seinem Mund- und eine unglaubliche Lust nach mehr. Er beißt fast schon zärtlich in ihre Brust. Das Blut strömt durch seine Kehle. Keuchend kniet er vor seinem Werk der Lust. Sie ist tot. Kalte Augen starren ihn in einer belustigenden Grimasse aus Furcht und Erfüllung an. Er lächelt und wischt sich das Blut von den Lippen. Erst als er sich abwenden will, wird ihm etwas Erschreckendes bewußt. Er sieht noch einmal zurück, und sein Mord holt ihn ein. Er hat soeben einen Menschen getötet- aber irgendwie ist da nur Kälte in ihm. Gary will ausbrechen- es tut ihm weh, dieses Blutmassaker auf weißen Laken zu sehen- aber Aeon siegt. Er knöpft sich das barocke Hemd zu und sortiert die reinen Rüschen an seiner Hand. Dann wirft er ihr zum Hohn eine Goldmünze hin und verläßt lächelnd, die weiten Türen zuschlagend den Saal des Grauens.
Gary stand wimmernd unter der Dusche und versuchte sich zu sammeln. Was war dieser Aeon in ihm? Ein Mörder? Eine wahre Bestie, die nur töten konnte? War er deshalb Frauen so abgeneigt? Weil er insgeheim Angst hatte, sie verletzen zu können? Dieses Monster hatte sich nicht mehr unter Kontrolle gehabt- er hatte den Tod genossen. Aber er war doch kein Vampir? Was wollte Aeon mit dem Blut? War das eine Art von Befriedigung für ihn? Gary hielt das Gesicht in den Wasserstrahl und zweifelte langsam daran, ob er wirklich noch normal war. Diese Visionen kamen erst, seit Lucy wieder da war- vorher hatte er ein schönes, langweiliges Leben geführt. Zumindest entsprach das seiner Sicht der Dinge- das MRC verdrängte er immer wieder bewußt aus seinem Gedächtnis. Es war nie passiert. Keine Aufregung, arbeiten von 8 bis 16 Uhr oder in der Nachtschicht. Mit Hoffnung auf die frühzeitige Pensionierung dank vortrefflicher Leistungen im Untergrund. Dann hätte er sich ein kleines Häuschen gesucht und wäre eines Tages einsam und allein gestorben. Aber nein! Es mußte ja so kommen! Wenn ihm wenigstens jemand sagen könnte, was er tun sollte. Wenn er nun noch mehr von diesen Visionen bekam, wenn er ihr näher kam? Darauf konnte er gerne verzichten. Vorerst hatte er schließlich noch etwas anderes zu erledigen- und dafür kam ihm sein Diensturlaub gerade richtig. Das war das Schöne daran, wenn man die schriftliche Bescheinigung hatte, psychisch kaputt zu sein- man bekam sehr schnell Urlaub, wenn es mal nicht so gut ging.
Doktor Kaltenberg hatte ihm empfohlen, aufs Land zu fahren- mal etwas abzuspannen. Er hätte schon wieder diese seltsamen masochistischen Neigungen- starke negative Schwingungen und so. Ganz schlimm. Verdammt- wann kapierten die endlich, daß er nicht irre war? Das er ganz normal war- und dieser Aeon ihn fertig machte?
„Wow.“ bemerkte Miaki nur, als sie die neue Lucy sah. Der Zauber hatte funktioniert. Niemand wußte, daß es zur selben Zeit geschah, wie Gary Aeons Mordlust gesehen hatte. Nun saß sie auf dem Tisch- mit nur einem Bademantel bekleidet und schaukelte mit den Beinen. Sie wirkte fröhlich und neugierig.
„Wow.“ machte sie nach. Es war toll, wieder ein Mensch zu sein- obwohl sie gar nicht wußte, was sie sonst sein sollte.
„Das mit der Sprache lernst du schon noch. Müde?“ fragte Makushi sie. Sie schien wie ausgewechselt. In belustigenden Gesichtsentgleisungen sah sie sich alles an, als hätte sie es nie zuvor gesehen. Wie ein kleines Kind- dachte Makushi. Aber sie würde lernen- und dann könnten sie sie so formen, daß sie schützen konnte- und nicht gleich alles und jeden zerstören wollte.
Sie nickte dankbar und tapste die Treppen hinauf in ihr neues Zimmer. Es war riesig- eine ganze Etage eigentlich- mit separatem Bad und Ankleideschrank. Die Säulen, die die gesamte Turmkonstruktion stützten, liefen hier in blattförmigen Mustern aus und stützten unglaubliche Gewölbe, die sich sternförmig um einen großen Mittelpunkt anordneten. Und das Bett, welches genau in der Mitte stand, war das einer echten Prinzessin- mit einem schneeweißen Himmel, der bis in das Gewölbe reichte. Müde ließ sie sich darauf fallen und war glücklich. Das gehörte nun alles ihr! Sie wurde wieder geliebt- wenn auch nur auf eine familiäre Art. Der Schrank war voller Sachen von Miaki, die sie ihr geschenkt hatte- und nun konnte sie das auch alles anziehen. Miaki hatte etwas von letzter Saison gefaselt- aber bei Tausend Jahren würde Lucy das wohl erstmal egal sein.
Sie schlief sofort ein, nachdem sie sich wie eine Katze in der obersten Ecke zusammengerollt hatte.
„Gary? Wie geht es dir?“ Makushi war erfreut, seinen alten Freund wiederzusehen. Er hatte sich über eine Woche nicht sehen lassen, und dabei hatte Maku doch gehofft, die Beiden würden sich schnell anfreunden.
„Ich würde sagen- dermaßen mies wie nach der schlechtesten Nacht meines Lebens. Und das seit einer Woche. Ein wahrhaft neuer Rekord. Irgendwelche sensationellen Ereignisse?“
„Schlecht zu sagen- aber Miaki ist begeistert.“
„Kann ich mir vorstellen. Frauen unter sich.“Er sah sich in der Bibliothek um, konnte sie aber nicht entdecken.
„Willst du sie sehen? Sie schläft gerade- oder immer noch seit gestern.“
„Dann sollten wir sie in Ruhe lassen.“ Gary wollte eigentlich schon den Fluchtweg antreten.
„Quatsch. Aber wenn du nen Anfall kriegst- mach es leise, verstanden?“ warnte Maku und schob den etwas beunruhigten Gary vor sich her in ihr Schlafzimmer. Und da kam eine weitere Erinnerung, die ihm noch gefehlt hatte- der junge Mann, der er war, sieht Lucilla- und sie weint. Aber diesmal tat es nicht weh. Er trat ganz nah an das Bett und hockte sich hin. Sie schniefte leicht beim Atmen- es klang nach Schnupfen. Aber das war egal. Sie war genauso, wie er sie all die Jahre in Gedanken behalten hatte. Ihre langen Haare waren zu Zöpfen geflochten, aber er erkannte in dem wenigen Licht den lilafarbenen Schimmer, der für ihn neu war. Es war, als würde er sie zum ersten Mal in Farbe sehen- statt in Steingrau. Und sie war so verletzlich und klein- und erschreckend jung. Er sah Maku fragend an. Der zuckte mit den Schultern. Er konnte dem Gefühl nicht wiederstehen, über ihre Wange zu streicheln- und Makushi zog die Luft leise ein. Aber sie wachte nicht auf. Sie ahnte nicht einmal, daß ihr Mentor vor ihrem Gesicht war und sie betrachtete, wie er es in alten Zeiten getan hatte.
„Ich war eigentlich nur gekommen, um mich zu verabschieden.“ murmelte er nachdenklich, als sie wieder draussen waren und im Wohnzimmer ankamen. Beim ersten Mal, als Gary es gesehen hatte, dachte er noch darüber nach, wieviele Male seine Wohnung wohl hineinpassen würde. Die hohen Säulen, die die Stahlkonstruktion verdeckten, die das alles zusammenhielt, waren der Gotik nachempfunden- wenn er sich nicht irrte. Vielleicht würde es für sie doch ein wenig wie zu Hause wirken.
„Was? Du kannst doch jetzt nicht gehen- deine Arbeit fängt doch erst an.“ Makushi klang irgendwie panisch, was Gary durchaus verstehen konnte. Aber er brauchte noch etwas, was er hier nicht bekam. Die Gewissheit, was ihre Aufgabe war. Die Aufzeichnungen, die Aeon in den Jahrhunderten gesammelt hatte und für den Tag versteckte, an dem sie zurück sein würde. Sie waren in einer Höhle im alten Israel.
„Ich werde doch wiederkommen- keine Angst- ihr werdet schon mit ihr fertig. Weiß sie noch, was sie ist?“
„Keine Ahnung- vielleicht ist es so wie bei dir- alles auf Null. Dann könnten wir es leicht mit ihr haben. Aber wenn sie sich erinnert? Was kann dann passieren?“
„Dann rufst du mich an. Ich hab zwar momentan keinen Schimmer, wie man sie bekämpfen könnte- und was sie kann- da treten noch heftige Lücken auf- aber die werde ich hoffentlich noch füllen können. Bis dahin muß sie so viel wie möglich von dieser Welt lernen. Aber sei vorsichtig mit der Geschichtssache- 1000 Jahre sind kein Pappenstiel. Und 3 Weltkriege- ich weiß nicht, wie ich reagieren würde, wenn ich erfahren müßte, das nichts besser geworden ist.“ Er atmete tief durch und verabschiedete sich dann. Wie lange er weg wäre, wußte er nicht. Hoffentlich nicht so lange, um eine Katastrophe zu provozieren. Momentan sah sie aber eher wie das Unschuldslamm in Person aus. Aber manchmal konnte der Schein auch trügen.
„Hey- Dschads? Was ist das?“ Lucy saß am Küchentisch und blätterte in einem Buch über technische Erfindungen der letzten Jahrhunderte. Es war alles so interessant- aber auch erschreckend. Und dieses Ding hatte sie schon mehrmals gesehen. Die Leute hielten es sich ans Ohr und sprachen damit.
„Das? Ein Handy. So wie das.“ Er holte sein eigenes, topaktuelles heraus und reichte es ihr. Sie drehte es in den Händen und hielt es ans Ohr. Aber es passierte nichts.
„Damit kann man telefonieren- mit anderen Leuten reden- paß auf.“ Er drückte die Kurzwahl für Makushis Büro. In dem Ding piepte es zweimal, dann hörte sie Makushis vertraute Stimme. Erschrocken sah sie sich um- aber er war nirgends. Die Stimme kam aus dem Ding in ihrer Hand.
„Du mußt etwas sagen. Damit er weiß, wer du bist.“
„Hi Maku.“ Sie lachte, als sie seine Antwort hörte.
„Sieh mal an, das lernst du nun auch schon. Das nennt man telefonieren.“
„Telflonnieren.“
„Ja. Damit kannst du alle Menschen erreichen, die du kennst. Und mit ihnen reden, ohne das sie da sind. Toll, oder?“
„Cool.“ stellte sie fest. Es war DAS Wort, daß sie von Miaki kannte. Und es passte irgendwie immer. Sie gab Judic das Handy zurück. Dann lief sie zu dem gläsernen Ding, daß sie zu Maku fuhr. Sie nannten es Fahrstuhl- und es war toll. Man stand drinnen und konnte ganz hoch auf das Dach und ganz nach unten fahren, wo es so dunkel war und Maku nie hinwollte. Judic hatte ihr gesagt, daß sie nie da unten hinaus gehen solle- und sie glaubte ihm. Er war vernünftig- er kannte dieses Leben. Sie sprang zu ihrem Ersatzvater in das Büro. Die Ketten an ihrer schwarzen Schlabberhose rasselten leise. Er würde noch einmal mit Miaki sprechen müssen- dieser Kleidungsstil paßte nicht zu ihr. Weite Baggyhosen und Schlabbershirts waren nicht das, was er sich unter gutem Geschmack vorstellte, auch wenn seine Tochter etwas anderes behauptete.
„Du mich hören?“
„Ja- ich habe dich gehört. Was stellst du eigentlich den ganzen Tag an?“
„Alles sehen- ich wollen alles wissen. Licht an- sehen du?“ Sie knipste mit der Fernbedienung der Beleuchtung herum. „Licht aus. Licht an. Nicht wie Kerze. Nicht pusten. Mia machen Musik mit kleines Ding. Aber besser als Musik von böse Mann- das schrecklich.“ Sie hüpfte auf den großen Sessel und sah fasziniert nach draussen.
„Welcher böse Mann, Lucy?“ Davon hatte sie noch nie etwas gesagt- sie war ja auch erst seit zwei Wochen da- und dafür sprach sie schon ganz gut, fand er. Aber seine Kinder und Rick waren eine große Hilfe. Nur schade, daß Gary sie nicht erleben konnte. Ihre Begeisterung für alles und Jeden war einfach unglaublich. Als hätte sie schon immer nach Wissen gehungert.
„Böse Mann in Haus, wo du kommen und Lucy holen. War Fenster- ich nicht raus konnten. Er geben mir Tier- äh- du wissen- klein- wie früher?“ Sie zeigte mit den Händen die Größe einer Ratte an. „Böse Tier gewesen- hat weh getan. Er sagen Musik und dann lautes Brummen und ganz schrecklich. Du verstehen?“
„Eine Ratte? Was immer sie mit dir dort getan haben- wir werden das nicht tun. Das waren böse Menschen.“Er war erschüttert. Der Zauber wirkte anscheinend nicht! Sie sollte das doch gar nicht wissen. Aber ihre ganze unbefangene Art sprach für den Zauber- auch wenn er langsam befürchtete, daß sie etwas zu naiv geworden war.
„Maku gute Mensch. Haben lieb.“ Sie sprang auf und umarmte ihn herzlich.
Es piepste neben ihr auf dem Schreibtisch.
„Piep piep? Handy?“ Sie gab ihm das Handy.
„Ja- sieh mal an- unser alter Freund Gary. Hallo Entfleuchter.“ Er lachte kurz.
„Gary böser Mann?“ fragte sie vorsichtig dazwischen.
„Nein. Ich glaub hier ist jemand, der ein gesteigertes Mitteilungsbedürfnis hat- willst du mal mit Lucy reden?“ Er gab ihr den Hörer.
„Hi. Du Gary?“
„Ja. Ähm- wie geht es dir?“ Er war verwirrt. Was hatten die der denn gegeben? Sie schien ja vollkommen hyperaktiv zu sein!
„Gut. Wo du sein?“
„Israel. Aber ich komme bald heim- sagst du das bitte Makushi?“
„Er dich nicht hören? Du suchen Gott Sohn?“
„Äh- wie bitte?“
„Sohn von Gott in Israel. Ach- du können ihn nicht finden, weil tot, richtig? Weil bei Vater nun. Raymond sagen, daß Christi tot wegen Menschen. Warum du in Israel?“
„Weißt du was- das erzähle ich dir, wenn ich zurück bin. Gib bitte Makushi das Handy zurück, okay?“
„Du mich nicht mögen. Du Böse!“ Sie schleuderte das dumme Ding auf den Tisch. Er war genauso überrascht wie Maku, der es nahm und durchatmete.Sie stürmte wütend hinaus.
„Was war das denn? Hab ich was falsch gemacht?“
„Ist schon gut- sie ist manchmal etwas seltsam, wenn man sich nicht mit ihr abgeben will. Ich fürchte, wir verziehen sie zu sehr. Da fehlt die strenge Hand- aber ich kann es nicht. Wenn du im Kopf immer den Gedanken hast, daß sie neun Jahre da unten war und so gelitten hat- abgesehen von dem, was sie wohl vorher durchhatte- da willst du alles für sie tun.“
„Du wirst sie nicht ewig wie eine Porzellanpuppe behandeln können. Aber ich komme in zwei Tagen. Ich hab kein Problem damit, ihr etwas Autorität zu zeigen.“
„Das glaub ich dir aufs Wort.“ Lachend legte er auf. Gary wurde langsam interessant. Wenn Aeon sich bisher nicht sonderlich für seinen Schützling interessiert hatte, würde er wohl nun seinen Dienst antreten müssen
„Mia- wer ist Gary?“ Sie lehnte sich neben Miaki auf das Geländer der Dachterrasse und beobachtete die Fahrzeuge, die in einigem Abstand zum Haus vorbeirauschten. Am Horizont färbte die Sonne das Meer in gespenstisches Rot. Ein leichter Windzug fuhr durch ihre langen, wilden Haare, die Miaki immer wieder zu bändigen versuchte. Sie schimmerten in den schönsten Lilatönen. Miaki war neidisch, weil es ihre Naturfarbe war- wie auch immer das möglich war. Früher waren sie Hellbraun gewesen, aber seit ihrer Verwandlung hatte sich Vieles geändert. Und nun, nachdem sie wieder ein Mensch war, war alles anders. Sie war noch viel hellhäutiger als früher, und ihr Gesicht sah jünger aus, als sie es in Erinnerung hatte. Sie fühlte sich manchmal, wenn sie allein war und nachdachte, seltsam alt. Aber dann war sie wieder glücklich, weil sie endlich frei war- und lernte, in dieser Welt klarzukommen. Wenn Friedhelm zurückkehren würde, könnte sie ihm entgegentreten und würde die Waffen der neuen Zeit nutzen können. Worin sollte sonst der Sinn ihres Lebens bestehen, wenn nicht im Kämpfen? Sie wußte nicht mehr, warum sie so fühlte- eigentlich verband sie doch nichts mit dem Bischof- denn den Schmerz hatte sie auf unerklärliche Weise vergessen. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Miaki.
„Ein Vollidiot. Der ätzt wie kein Anderer. Absolut uncool. Dads bester Kumpel, wenn es um historischen Quatsch geht. Wenn du den triffst- wunder dich nicht über seinen Mangel an Kommunikationsfreude. Er ist total altmodisch- der ist wahrscheinlich schon so alt wie Steinkohle- zumindest benimmt er sich so. Er wird an dir rumnörgeln- dein Outfit nicht mögen, deine Sprache, deine Existenz. Der findet immer was. Am besten, du gehst ihm aus dem Weg.“
„Er ganz böser Mann.“ stellte sie auf all die fremden Worte fest, die sie zwar nicht verstanden hatte- aber etwas war ihr klar geworden- er war nicht Miakis Freund- also war er auch nicht ihrer.
„Nein- böse ist er nicht. Das ist ein Unterschied. Er ist nur- anders. So wie du anders bist. Du bist etwas Besonderes.“ Sie strich ihr nachdenklich die Haare aus dem Gesicht. Lucy war das schönste Wesen, daß sie je gesehen hatte. Sie war körperlich ein Mensch- und sie wollte so wirken- aber etwas an ihr machte sie unwirklich. Wie ein Wesen, daß seinen wahren Weg noch nicht gefunden hatte- daß nach etwas Anderem suchte, daß es wohl nie bei den Menschen finden könnte.
„Was bin ich? Kein Mensch- ich wissen- aber was dann?“ Warum war das das Einzige, was sie mit Sicherheit über sich sagen konnte?
„Das weiß ich nicht. Aber mach dir keine Gedanken darüber- du wirst nie wieder eingesperrt werden. Dad liebt dich- er wird dich beschützen.“ Sie lächelte. Das hatte er schließlich bei ihr auch gemacht, als ihre Eltern starben und er als deren Chef über sie entscheiden sollte. Er hatte sie damals aufgenommen- das war 15 Jahre her. Und sie hatte sich so sehr an dieses Leben gewöhnt, daß sie sich nichts anderes mehr vorstellen konnte.
„Wann ich dürfen fahren mit das da?“ Sie zeigte auf einen der Airliner, der die Massen von Menschen zu ihrer Arbeit oder in die Freizeittempel transportierte.
„Ich weiß nicht. Willst du die Stadt sehen? Vielleicht erlaubt Dad uns, dich mitzunehmen. Du hast doch keine Angst mehr vor dem da draussen, oder?“
„Nein. Ich wollen alles sehen.“ Ihre Augen funkelten in dem Sonnenlicht auf- und für kurze Zeit meinte Miaki, etwas anderes in ihr zu sehen als die Lucy, die ihr Vater geschaffen hatte. Aber es war wohl nur eine Sinnestäuschung, denn sofort brach wieder diese Naivität durch, die sie so kindlich wirken ließ.
„Eins, zwei, drei- wie heißen weiter?“ Sie schob das Essstäbchen hin und her und dachte laut nach.
„Vier.“ sagte Albert und setzte sich zu ihr.
„Du können mir lernen?“
„Du willst zählen lernen?“ Der Diener sah sie schräg an. Sie war ein interessantes Wesen, daß mußte er zugeben. Immer für Überraschungen gut. Und er liebte sie insgeheim mehr als die anderen beiden Kinder des Hauses, vielleicht weil sie alle schon Erwachsene waren und kaum noch seine Hilfe brauchten. Aber Lucy brauchte ihn. Und das machte ihn wieder zu einem sinnvollen Mitglied der Familie.
„Ich können zählen- in meine Sprache.“ verteidigte sie sich.
„Ich hab nichts gesagt, was dich kränken sollte. Aber wo hast du das gelernt? Hat der Kardinal dir das gezeigt?“ Er kannte ihre Geschichte durch Makushi. Sie vertrauten einander- und er war seit Jahrzehnten der Hausdiener, der sich um die Kinder gekümmert hatte. Seine geschichtlichen Kenntnisse schaltete er manchmal aus, aber jetzt fiel ihm wieder ein, das es zu ihrer Zeit nicht üblich war, zählen zu können- geschweige denn schreiben oder lesen.
„Nein. Er immer Geschichten aus Bibel erzählen. Von Gott und Christi und alles. Ich nicht immer verstanden- er sagen, daß nichts machen, weil ich Frau und dumm. Aber ich nicht dumm. Ich lernen schnell- ich lernen Sprache von Raymond und Paris in zwei Jahre. Er nicht wollen, das ich lesen lernen. Aber er mir zeigen Buchstabe- meine Buchstabe. L. Ich können schreiben- aber dann verschwunden. Dann alles dunkel und Mann da- Ritter. Er nicht reden- immer stumm.Ich zählen Tage- immer ein Ding- äh-.“ Sie deutete einen Strich in der Luft an. Albert nickte verstehend und sagte ihr das Wort. Das war doch nicht möglich? Wie viel würde sie erzählen können- nach so kurzer Zeit hatte sie so viele Wörter gelernt!
„Dann Apostel- Johannes immer Strich dazu. Dann ganz viele Johannes- und ich nicht mehr wissen, wie lange dort. Ratten kommen und viel Wasser und Ritter machen plumps und Kopf ab- das lustig. Aber niemand mir helfen. Ich ganz allein. Lange allein.“ Sie senkte den Kopf. Er nahm sie einfach in die Arme und drückte sie.
„Jetzt bist du nicht mehr allein. Nie wieder.“ Er klang optimistisch, und nur Menschen, die ihn lange kannten, hätten die Sorge in seinem Blick erkannt. Er konnte ihr das nicht versprechen- er wußte nicht, was aus ihr werden würde.
„Viele Freunde- Rick und Maku und Mia und Dschads- und du. Du lieber Mensch.“ Es tat ihm so gut, wenn das jemand sagte. Auch wenn das so selten passierte, weil alle wußten, was er wirklich war. Nur sie nicht. Aber sie wollten sie nicht verängstigen, schließlich hatte Maku ihr gerade klar gemacht, daß alle Maschinen schlecht wären und man sie nicht reizen solle.
„Also gut- fangen wir an.“ Er riß sich aus seinen Gedanken und legte einen Zettel und Stift vor sie.
„Ich nicht schreiben.“
„Dann lernst du es jetzt. Ich schreibe es dir vor- du machst es nach. Zuerst die Zahlen.“ Er schrieb in schneller Schrift die Nummern eins bis neun auf und reichte ihr das Blatt. „Damit hast du eine Weile zu tun. Viel Spaß- ich koche in der Zeit das Essen. Und dann lernen wir, wie man sie ausspricht.“ Er stand vom Hocker auf und machte sich an die Arbeit, während sie angestrengt über dem Blatt lehnte und versuchte, alles so nachzuzeichnen, wie er es getan hatte.
„Hey- was machst du denn da?“ Maku kam herein und gesellte sich zu ihnen. Sie schien sich auf die Zunge beissen zu wollen vor Anstrengung.
„Ich schreiben. Du nicht stören.“
„Jaja- mach das -äh- ich wollte dich nur fragen, ob du heute mit Miaki und Judic in die Stadt gehen willst?“
„Und Rick?“ hoffte sie erfreut.
„Ich weiß nicht, ob er auch da sein wird. Aber warum fragst du nach ihm? Ist da etwas, was ich wissen sollte?“ Er lachte leise, aber die Ahnung, daß es bald Probleme geben könnte, stieg in ihm auf. Wenn Lucy sich Hals über Kopf verlieben würde- wäre sie dann immernoch so wißbegierig? Gary würde ein schweres Los haben, wenn sie ständig nur an Rick dachte. Und irgendwie wollte Makushi sie nicht so schnell an einen Mann verlieren- das hatte doch Zeit. Bei Gary war er sich sicher, daß nichts passieren würde- dafür haßte der Frauen zu sehr und war zu alt, um interessant zu sein- aber Rick? Er war für alle Frauen eine freilaufende Gefahrenzone- wie sollte er Lucy vor ihrem Unglück bewahren, wenn sie sich das einmal in den Kopf gesetzt hatte?
Er wachte urplötzlich auf. Der Speedliner landete gerade. Und er hatte schon wieder einen dieser Träume gehabt, die ihm völlig fremd waren. Hoffentlich hatte niemand etwas gemerkt. Diese Frauen gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf. Und dann sah er immer wieder ein schlafendes, steinernes Gesicht, dessen lebendiges Pendant er nur zu gut kennen lernen sollte.
„Hi Rick.“ Sie kicherte wie ein dummes Mädchen und versuchte, sich zusammenzureißen. Es war unglaublich laut hier drinnen. Judic hatte ihr gesagt, sie würde lernen, was Fun sei. Was immer es war- es machte Spass. Überall flackerten Lichter und die Bedienungen flogen auf Airbords über ihren Köpfen hinweg. Stampfende Rythmen und verzerrte Stimmen dröhnten von der Tanzfläche herüber. Miaki hatte das Underground Sleepers für den ersten Ausflug ins vermeintliche Nachtleben Tokys gewählt. Eigentlich war es Nachmittag- aber hier unten war es auch draussen dunkel. Dunkel am Tag und Dunkel in der Nacht unterschied sich nur in einem Punkt- nachts war es verboten, herumzulaufen. Von der Stadt da draussen hatte sie nichts gesehen, weil sie noch immer im gleichen Haus waren- nur eben im Keller. Diese Häuser waren ganze Welten für sich und beherbergten nicht nur Wohnungen, sondern Einkaufszentren, Büros und alles Andere, sodaß man gar nicht mehr hinaus mußte.
„Hallo- Lucy. Willst du tanzen?“ Er wies auf die Tanzfläche und den spastisch zappelnden Haufen, der dort tobte.
„Nein. Ich nicht so tanzen können.“
„Okay.“ Er ging allein und machte auch diese komischen Bewegungen. Dann wurde ein neues Lied angestimmt, das sehr viel ruhiger klang. Und eine andere Frau machte sich an Rick zu schaffen. Lucy explodierte förmlich und stürmte zu ihm- um die Andere wegzudrängen und mit Rick zu tanzen. Sie tat es instinktiv- und es funktionierte tatsächlich. Rick sah sie überrascht an, dann lachte er und zog sie an sich. Sie ließ ihr Becken zu den verzerrten Tönen kreisen und setzte den Blick auf, der schon Kardinäle- vor allem den Einen- um den Verstand gebracht hatte. Woher sie das alles konnte, wußte sie nicht. Vielleicht lag es an Miakis Tipps, was ihre Kleidung anging. Sie trug eine rote Fetzenhose und ein weites Shirt. Die modernen Sachen waren für sie noch Neuland- aber sie würde sich schon daran gewöhnen, wenn sie auch etwas neidisch auf die anderen Mädchen war, die so kurze Röcke anhatten, daß man teilweise ihre Unterwäsche sah, was Lucy doch etwas verwirrte. Sie hatte sich ja erstmal an diese engen Dinger namens Slips gewöhnen müssen. An so verrückte Sachen wie dieses Ding, was Miaki unter ihrem engen Shirt trug, traute sie sich nicht heran. Das sah unbequem aus- auch wenn die Jungs darauf standen, wie es deutlich zu sehen war, wenn irgendwo Spitze hervorblitzte.
Langsam ging er an der Seite der Tanzfläche entlang- und dann sah er sie- wie aus reinem Instinkt, der ihn auch schon hierher geführt hatte. Sie tanzte- mit Rick. Im ersten Moment wollte er schon losstürmen- ihm fiel aber ein, daß sie ihn nie gesehen hatte- und er damit keinen guten Eindruck hinterlassen würde. Also bewegte er sich unauffällig hinter eine der Säulen, die das Kellergewölbe stützten und beobachtete das Geschehen. Nun wunderte ihn nichts mehr- sie war eine Hure und sie blieb es. Wie sie sich bewegte- das war alles Andere als das, was man ihrem ach so naiven Gemüt zutrauen würde. Aber da entdeckte er auch, daß Rick anscheinend relativ kalt ließ, was sie tat. Er sah sich schon nach einer Anderen um, die im kurzen Minirock herumhüpfte. Lucy war definitiv ein Raffael im Haufen von Monets- und er mochte Raffael. Sie wirkte strahlender als alle anderen Tänzer.Es kam ihm kurz so vor, als würde er in eine unsagbare Tiefe stürzen- dann fing er sich wieder und verließ eiligen Schrittes die Disko.
„Er mich nicht wollen.“ schluchzte sie in ihre verschränkten Arme. Es war drei Uhr nachts- sie waren schon seit Stunden wieder daheim- aber sie konnte sich nicht beruhigen. Warum nur? Sie hatte alles versucht- sie hatte alle Wörter aufgebracht, die sie irgendwie beherschte, sie hatte ihm zugehört- aber er sah ständig anderen Frauen nach! Er war nett zu ihr- aber er interessierte sich nicht für sie!
„Rick steht nunmal auf alles, was knapp sitzt. Bei ihm brauchst du nicht sprechen können- bei ihm geht es darum, wie weit du deine Beine auseinander machst.“ nörgelte Miaki. Sie kannte den Kumpel ihres Brüderchens- er war ein Casanova, wie er im Buche steht. Es hatte sie schon überrascht, daß er sich überhaupt um sie gekümmert hatte, als sie allein war. Aber das war wohl sein Jagdtrieb gewesen- und schließlich hatte sie damals extrem wenig angehabt. Dann hatte er wohl einsehen müssen, daß einen Gargoyle flachlegen mit tiefen Wunden verbunden sein könnte und hatte das Interesse verloren. Und nun war Lucy in diesen Dummkopf auch noch verknallt! Sie mußte dringend mehr Männer kennenlernen- sonst wurde das ein ernsthaftes Problem.
„Guten Abend die Damen von der Küchenwehr.“ Ein, in Miakis Augen nicht zur Diskussion als vollwertiger Mann stehender Idiot, tauchte natürlich gerade jetzt auf.
„Nein- nicht du auch noch! Hast du kein Zu Hause? Dad ist im Büro- also geh dahin und nerve ihn mit deiner Anwesenheit.“ Der hatte ihr noch gefehlt. Wo hatten sie ihn entlassen? Hätten die ihn nicht in Jerusalem behalten können? Und kreuzigen?
„Rrr- wir haben wohl mal wieder Frauenprobleme? Laß mich raten- das Thema sind Männer. Oder Mode. Oder vielmehr- was könnten wir dem Versuchsobjekt Lucy anziehen, damit ER sie sieht?“ Konnte der jetzt schon Gedanken lesen? Das war langsam unheimlich.
„Du sein Gary?“ bemerkte Lucy stöhnend und sah ihn schniefend an.
„Allerdings- und du bist Lucy- ich weiß. Tut mir leid wegen neulich-am Telefon- ich hatte es eilig. Aber ich könnte dir etwas über meine Reise erzählen, wenn es dich interessiert.“ Er rieb sich die Hände und wirkte etwas verunsichert. Warum eigentlich? Miaki beobachtete sein seltsames Verhalten mit steigender Ungeduld. Was wollte er wirklich von Lucy?
„Gary? Fahr- zur- Hölle!“ sagte sie im deutlichsten Englisch, das sie konnte.
„Ach- ihr Weiber seid doch alle bescheuert!“ fluchte er plötzlich und machte sich vom Acker.
„Ich würde sagen- Liebe auf den ersten Blick!“ bemerkte Albert und tauchte aus der offenen Kühlkammer auf, in der er nach Eiscreme für sie gesucht hatte.
„Was ich sagen können, wenn er nerven?“
„Ich hasse dich. Du bist ein Idiot. Verpiß dich. Irgend sowas.“
„Miaki- ich finde es nicht richtig, daß du sie solche Sachen lehrst. Du machst ihn vor ihr schlecht, dabei sollte sie sich eine eigene Meinung bilden können. Sie ist kein Kind mehr.“ Albert schüttelte mit dem Kopf. Er mochte Gary- er war nicht so verrückt wie Rick und Judic- aber vielleicht etwas langweilig.
„Was denkst- denken- richtig? Denkst du über Gary?“ Sie hatte es begriffen- wenn sie mit jemandem sprach, dann mußte sie diese Form verwenden.
„Ich denke, daß er kein schlechter Mensch ist. Und das er dir wirklich sehr viel mehr beibringen könnte, als wir.“ Er wußte, daß es da die Diskussion gab, ob er vielleicht der Mentor war- Makushi hatte es ihm anvertraut. Aber wenn das so sein sollte, mußte man Lucy erstmal davon überzeugen, daß er eben kein „böser Mann“ war.
„Dann ich ihn fragen wegen lesen lernen?“
„Ähm- ich fürchte, er wird dafür keine Zeit haben. Er muß auch arbeiten.“
„Dann er nicht wollen reden mit mir. Dann er mich nicht mögen.“ Ihre Sprunghaftigkeit gegenüber dem Polizisten überraschte sowohl Miaki als auch Albert. Was war los, daß sie ihn haßte- dann gleich mit ihm lernen wollte, dann wieder haßte?
„Nein- du mußt das einsehen- es kann nicht jeder für dich da sein. Nicht immer.“
„Aber du bist da.“
„Weil ich hier wohne. Gary wohnt aber nicht hier. Er kommt nur zu Besuch. Und dann muß er mit Makushi reden.“
„Ich auch mit ihm reden. Jetzt.“ Sie sprang von ihrem Hocker und stapfte los. Albert wollte sie noch zurückhalten- zu spät.
„Hallo Maku- ich stören?“ Sie huschte in die halbdunkle Bibliothek und überschaute kurz die Situation. Er saß am Schreibtisch und sortierte ein paar Blätter, während Gary aus dem Fenster sah, die Hände hinter dem Rücken verschränkt und wie ein alter, hartherziger Professor wirkte. Er wandte sich überrascht zu ihr und richtete nervös seine Brille, die ihn noch viel strenger aussehen ließ. Es erinnerte sie an den bösen Mann, der sie mit der Ratte gequält hatte. Alle Männer mit so einem Ding auf der Nase waren wohl böse.
„Entschuldigung Gary.“sagte sie leise, weil es sich so gehörte, wie ihr Albert beigebracht hatte. Dann hüpfte sie neben Makushi auf den Schreibtisch.
„Angenommen.“ murmelte er nachdenklich. Er wollte sie nicht offensichtlich anstarren, aber seine Neugier konnte er nur schlecht zügeln. Was er sah, gefiel ihm nicht- oder doch. Sie war niedlich, keine Frage. Und sie konnte seine Tochter sein. Und er ermahnte sich, daß er vor 50 Jahren etwas geschworen hatte. Wenn das die versprochene Göttin war- dann war der Himmel ein Kindergarten. Und sie war ausgebrochen, weil Mama sie nicht abgeholt hatte und kein Eis mehr da war.
„Maku- ich fragen wollen, das ich morgen können gehen in Stadt. Mia aber keine Zeit- und Dschads auch nicht da.“ schniefte sie kindisch. Was wollte sie erreichen? Das er sie allein gehen ließ? Niemals.
„Was ist mit Rick- hat der Zeit?“
„Nein- ich nicht wollen Rick.“ giftete sie los.
„Du meinst wohl eher- er will dich nicht.“ entrutschte es Gary. Sollte sie ruhig merken, daß er sie durchschaut hatte.
„Du doof!“ kam prompt als Antwort.
„Und du bist eine verzogene Kröte!“ Hoppla! Das fing ja toll an- aber von diesem Krümel ließ er sich nicht beleidigen.
„Hey-Hey- Stopp! Was wird das denn? Man könnte ja meinen, ihr wärt ein altes Ehepaar. Und weil ihr euch so liebt- und Gary ab heute für mich arbeitet, wird er dich morgen begleiten.“
„Nein!“ kam es wie aus einem Mund zurück.
„Doch. Du kannst besser als jeder Andere auf sie aufpassen. Und du kannst von ihm Einiges lernen. Ihr werdet sowieso öfters miteinander zu tun haben- also gewöhnt euch schonmal daran.“ Gary verdrehte wie Lucy die Augen gen Decke. Wenigstens waren sie sich darin einig, mußte Maku grinsend feststellen. Aber warum sie so verfeindet waren, obwohl sie sich nicht kannten-keine Ahnung. Lag wohl daran, daß Miaki so viel Einfluß auf die Kleine hatte, während Gary immer mehr zum intelligenten Stubenhocker versauerte. Da würde ihnen etwas gemeinsame Zeit auch nicht schaden können.