Romane & Erzählungen
Unland

0
"Unland"
Veröffentlicht am 01. November 2009, 66 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
http://www.mystorys.de
Unland

Unland

Beschreibung

... von Angesicht zu Angesicht konnte man einen Nergd nicht lange betrachten. Es war in der Regel das letzte das man sah ...

Vorderland

Es war ein schönes Land. Und es war ein selten langweiliges Leben. Dies lag wohl an der ständigen Bedrohung. Wild, schnell, tödlich, so man nicht alle Sinne beisammen hatte, um dieser zu entgehen.
Die Bedrohung hatte einen Namen. Die Nergds. Sie waren groß, etwa 2,40 bis 3,20 Meter. Sie waren stark und sie waren schnell. Wie wir bewegten auch sie sich auf zwei Beinen vorwärts, verfügten jedoch über einen großen Schwanz, welcher ihre Wirbelsäule bis auf den Boden verlängerte. Kopf und Rücken waren von harten Schuppenplatten bedeckt. Die Form des Kopfes war länglich, nach vorne gezogen und fast kantig und an den einer Echse erinnernd. Bernstein farbene Augen blickten ohne zu blinzeln und entdeckten gewöhnlich jede noch so kleine Bewegung. Auch Arme und Beine waren von Schuppen bedeckt. Lediglich Brust und Bauch war von einer schilffarbenen Haut überzogen. Von Angesicht zu Angesicht konnte man einen Nergd nicht lange betrachten. Es war in der Regel das letzte das man sah.

Ich war im Vorderland aufgewachsen. Dem Land, das sich zwischen dem großen Wasser im Süden und unserer Stadt Coron im Norden befand. Entsprechend war ich zum Landbearbeiter ausgebildet worden.
Ein Landbearbeiter, bearbeitet wie es der Namen sagt, das Land. Er sorgt dafür, dass Nahrung wächst. Es war nicht schlecht Landbearbeiter zu sein, denn Landbearbeiter ernährten unser Volk.
Sie waren wichtig und sie wurden von den Verteidigern vor jedweder Bedrohung geschützt.  Alle wichtigen Mitglieder unseres Volkes wurden von den Verteidigern geschützt, jener ehrenvollen Zunft, denen das höchste Ansehen zu teil wurde. Aber nicht jeder war dafür geschaffen ein Verteidiger zu werden, wenn er dies denn wollte, und auch nicht jeder, der einer hätte werden können, wollte einer sein.
    Voraussetzung für die Ausbildung als Verteidiger war, dass man in der Stadt aufgewachsen war. Dort wurden die stärksten, schnellsten und die mutigsten ausgesucht. Verteidiger zu sein bedeutete, dass man nicht sehr alt wurde. Es gab nur wenige alte Verteidiger. Diejenigen, die frei von dem Makel waren, nur aus Feigheit alt geworden zu sein, wurden zu den Ausbildern der nachwachsenden Generation von Verteidigern.
    Ich wußte nie, ob mich Neid oder Mitgefühl beschlich, wenn ich über die Verteidiger nachdachte.
    Einer der größten Vorteile von Verteidigern war, dass sie erheblich mehr Sex hatten als jede andere Bevölkerungsgruppe. Das musste so sein, weil ja ihr Lebenszyklus viel kürzer war. Aber ich erinnere mich auch an einen Angriff der Nergds, als ich die Gelegenheit hatte, den Verteidigern bei ihrer Arbeit zu zu schauen.     Ihr Job war es, dass sich Angehörige wichtiger Bevölkerungsgruppen in Sicherheit bringen konnten. Sie mussten die Nergds aufhalten und so stellten sie sich diesen entgegen. Sie verschafften den Flüchtigen  die Zeit, die sie benötigten, um sich in Sicherheit zu bringen. Und sie zahlten damit, so gut wie immer mit ihrem Leben.  
    Das war das, was die meisten über die Verteidiger wussten.
    Ich jedoch wusste mehr.
    Mein Ausbilder und das wußte kaum jemand, war ein ehemaliger Verteidiger und heute bereits älter als die meisten der ausbildenden Verteidiger. Man hatte ihn ausgestoßen, wegen offenkundiger Feigheit. Damals war sein Name noch Flagger. Mit viel Glück und Einfluss seiner Freunde, kam er in aller Stille bei den Landbearbeitern unter. Als Landbearbeiter war er dann freilich nicht sehr erfolgreich, was ihm den Neid der Erfolglosen und Aufsehen ersparte. Dies und seine Wortkargheit gewährten ihm ein unerkanntes weiteres Leben, da um seine Person kaum großes Aufhebens gemacht wurde. Er nannte sich nun Patros.
Mir widerum hatte er im Laufe der Jahre vieles über das Leben der Verteidiger geleert. Ich hatte immer interessiert gelauscht, denn sein Leben auf einen kurzen Moment auszurichten, der über Leben oder Tod entscheidet, klang für einen jungen Kerl wie ich einer war, wie eine aufregende Sache.   
Patros redete immer davon, dass Ehre nur ein leeres Wort sei. Das vielmehr Fairness viel wichtiger wiege. Er redete davon, dass ein Mensch sich sein eigenes Gesetz schaffen solle. Eines das Vorrang hat vor dem Gesetz unseres Volkes. Eines, an das man sich immer hält. Es sollte nicht unbedingt den Gesetzen des Volkes widersprechen, aber es sollte aus einem selbst kommen. Ich verstand anfangs nie so richtig, was er mir damit sagen wollte.
    In unserem Leben, so sprach er, gibt es zahllose kleine Begebenheiten und Momente, an denen du überlegen musst, was wohl das Richtige ist, oder ob du  richtig handelst. Oft lassen dir diese Momente jedoch nicht die Zeit, die Dinge abzuwägen. In solchen Momenten ist es gut, wenn man dies bereits im Vorfeld für sich entschieden hat. Wenn nämlich das eigene Gesetz einem die Wahl nimmt, und das Verhalten bestimmt, dann handelt man schnell und entschlossen. Das Gesetz des Volkes zu missachten heißt, das Volk zu verraten, was an sich schon schlimm genug wäre. Das eigene Gesetz zu missachten jedoch hieße, sich selbst zu verraten. Etwas das so schwer wog, konnte man nie mehr auslöschen. Was folgen würde wäre dann ein Leben voller Selbstzweifel.
    Und nein - , so betonte Patros dann immer, er habe sich selbst nie verraten. Auf die Frage, ob er denn unser Volk verraten habe sagte er, es hänge davon ab, wie man das Missachten ungeschriebener Gesetze bewerte. Denn ja, ein solch ungeschriebenes Gesetz habe er missachtet, um seinem eigenen zu folgen. Und das war die für ihn zweifelsfrei richtige Entscheidung. Dies hatte er mir oft erzählt und sich dann zufrieden lächelnd zurückgelehnt.

    Aber es kam der Tag, an dem ich begriff, was Patros mir mir zu erklären versucht hatte.
    Ich und einige andere Landbearbeiter inspizierten gerade den Boden, den wir bearbeiten wollten. Es galt zu entscheiden, was darauf wachsen sollte. Wir waren fast ebenso weit von unserer Stadt im Norden wie vom großen Wasser im Süden entfernt. Beide Entfernungen maßen etwa sechs Stunden strammen Fußmarsches. Aus diesem Grund gab es hier Schutzhöhlen, denn es gab sonst keinerlei natürlichen Schutz für den ungewöhnlichen Fall eines Angriffs. Ungewöhnlich daher, weil Nergds oft nur die Landrandgebiete angriffen, meist jedoch die Stadt selbst.
    Ich hatte mir insgeheim oft gewünscht einen Angriff der Nergds mit zu erleben. Dies lag wohl nicht zuletzt daran, dass mir Patros während meiner Kindheit auch viele Fertigkeiten beigebracht hatte, die eigentlich Verteidigern vorbehalten waren.
    'Zeig mir was ich als Verteidiger machen kann, wenn mich ein Nergd angreift', hatte ich immer gebettelt. Ich hatte damals nicht mal eine Idee, wie ein Nergd aussehen könnte.
    'Ich zeige dir was selbst Verteidiger nicht machen, wenn ein Nergd sie angreift', hatte er dann oft gegrinst.
    Ich wusste nicht was er mir zeigte. Auch nicht, ob sich genau so ein Verteidiger verhalten würde. Denn all mein Wissen über die Verteidiger stammte ja fast ausschließlich von Patros selbst. Aber was er mir zeigte machte mir großen Spaß. Du musst ihn angreifen wenn er kommt, pflegte er zu erklären. Ich war damals dreizehn und Patros etwas älter als fünfzig. Er war groß und schnell und spielte für mich immer den Nergd. Für mich war es das Spiel meiner Kindheit. Patros war trotz seiner Größe überraschend wendig. Er war listig und schnell und nicht selten endete das Ganze mit, 'okay, das war´s für heute, du bist jetzt bereits zum sechsten Mal tot.'
    Ich hatte dieses Spiel geliebt, aber natürlich wurde ich kräftiger und Patros freilich nicht eben jünger. Denk immer daran mein Junge, sagte er oft. Bei einem echten Nergd hast du nur ein Leben, verschwende es nicht in dem du versäumst ihn anzugreifen. Selbst wenn du zurückweichst, solltest du damit einen deiner Angriffe einleiten. Wenn du nicht angreifst, hast du damit ohne Grund dein Leben beendet. Wenn dich jedoch ein Verteidiger verteidigt, laufe so schnell du kannst zu deinem Unterschlupf. Nur so kannst du ihm helfen.
    Aber zurück zu besagtem Tag.

die Nergds

    Im Vorderland herrschte geschäftiges Treiben. Patros hatte bereits gehört, was geschehen war. Allerdings hatten die Gerüchte die Wahrheit ordentlich verdreht. Man sprach von unerschrocken und nicht zurückweichend. Aber ich wusste, dass ich vor Schreck versteinert und nahe einer Ohnmacht gewesen war. Ich mochte mit niemandem mehr reden. Selbst nicht mit Patros. Und auch als Patros am dritten Tag nach meinem Stadtbesuch in unsere unterirdischen Behausung auftauchte, mochte ich nichts von Nergds oder der Stadt hören.
    „Sie sind immer noch in der Stadt“, begann Patros.
    Ich reagierte nicht. Was ging es mich an.
    „Einige sagen, dass die Nergds auf dich warten würden.“
    Nun starrte ich ihn überrascht an. War ich nicht der Einzige, der der Verwirrung erlag?

    Tag um Tag verging. Ich verbrachte mittler Weile die meiste Zeit auf dem Land. Niemand sonst traute sich dort hin. Die Zeiten waren gefährlich. Aber nach dem sich immer mehr Leute für mich zu interessieren schienen und sogar meine Dummheit, die mich fast den Kopf gekostet hätte, als mutig hingestellt wurde, war das Land der einzige Ort an dem ich meine Ruhe hatte. Mich ärgerten die Gerüchte. Was Gerüchte aus jemanden machen konnten. Einige sprachen davon, ich könne mit Nergds reden.  
    Das Land musste bearbeitet werden und ich war Landbearbeiter. Also tat ich meinen Job. Wie ich diesen Satz hasste. Es konnte doch nicht der Job von Lissen gewesen sein, für jemanden, der sich für eine Dummheit beinahe sein Leben nehmen lässt, zu sterben? Was, wenn der Nergd mir den Kopf abgerissen hätte. Wofür wäre sie dann gestorben? Ich verbrachte viel Zeit mit Nachdenken. Und ich war weit draußen. So weit draußen, wo sich dieser Tage niemand sonst hintraute.
    Ich begann nun Tage lang nicht heim zu kehren. Anfangs sorgte das für Gerüchte, dass mich die Nergds nun doch geholt hätten. Ich entfremdete mich von den Menschen. Die mir am nächsten stehenden, von Patros einmal abgesehen, waren bei dem Nergd – Angriff ums Leben gekommen. Allen voran Collan. Manchmal bearbeitete ich das Land auch Nachts. Es gab hier draußen kleine Behausungen, die aber alle überirdisch lagen und keinerlei Schutz gegen Nergd Angriffe boten. Aber man konnte sich hier waschen und man hatte seine Ruhe. Ich bearbeitete auch Land von anderen Landbearbeitern. Die Beschäftigung tat mir gut.
    Nach drei Wochen ohne heimkehr, beschloss ich dies auch nicht mehr zu tun. Ab und zu transportierte ich die geernteten Lebensmittel zu den Höhleneingängen, die zur Stadt führten. Die Lebensmittel wurden dort auch immer abgeholt. Denn wann immer ich dort eintraf, waren die von mir bereitgestellten Körbe leer.
    Dann eines Tages erhielt ich Besuch.
    „Möchtest du mich nicht wenigstens einmal in die Stadt begleiten?“ Vernahm ich plötzlich eine Stimme hinter mir, als ich gerade eine Knolle aus dem Boden hebelte. Ich wandte mich nicht mal um.
    „Warum sollte ich das tun?“ Murmelte ich mehr zu mir als zu der Stimme.
Ich hörte leichte Schritte näher kommen. Als sie schließlich vor mir stand, erkannte ich sie. Die Frau deren Schwester ich auf dem Gewissen hatte. Dass sie sie schickten, war wohl nur logisch. Hatte ich doch offen meine Schuld bekundet sie nicht gerettet zu haben. Wenn ich also irgendjemandem etwas schuldete, dann Lissens Schwester. Ich ließ von der Knolle ab, erhob mich und blickte sie kurz an.
    „Gehen wir also“, sagte ich und setzte mich in Bewegung. Sie zögerte und deutete in Richtung der Höhlen.
    „Wollen wir nicht die Höhlen benutzen?“
    Ich ging weiter. „Wozu“, fragte ich über die Schulter. „Ihr wollt, dass ich mit den Nergds rede, nicht wahr?“
    Sie erwiderte nichts. Aber ich korrigiert meinen Kurs. Ich würde sie zu den Höhlen bringen.
Auf dem Weg sagte weder sie noch ich irgend ein Wort. Schweigend gingen wir nebeneinander her.  
      Vor dem Höhleneingang verharrte ich und bedeutete ihr hineinzugehen.
    „Kommst du nicht mit?“
    „Doch, aber nicht durch die Höhlen.“
    Warum sollte ich im Schutz der Höhlen gehen, wenn ich danach Nase an Nase einem Nerdg gegenübertreten sollte. Darüber hinaus einem Nerdg, der gewiss nicht reden wollte. Da konnte ich genau so gut überirdisch laufen.
    „Dann komme ich mit.“ Ihre Stimme klang bestimmt und sicher.
    Ich schüttelte den Kopf. „Das ist bestimmt keine gute Idee.“
    „Ich bin eine Verteidigerin“, erwiderte sie.
    „Das weiß ich. Deine Schwester war auch eine.“ Ich biss mir unwillkürlich auf die Lippen. „Du musst mich nicht verteidigen. Und ich will auch nicht, dass du mich verteidigst.“ Ich setzte mich in Bewegung und stellte zufrieden fest, keine Schritte hinter mir zu vernehmen. Es war auch besser so. Patros hatte wohl recht. Sollten sie sich danach an Patros wenden. Wenn sie gesehen hatten, dass die Nergds mir den Kopf ihrer Gewohnheit entsprechend abrissen, dann sollten sie mal hören was der alte Patros zu sagen hatte. Man muss die Nergds angreifen. Letzteres konnte ich nicht tun. Ich wusste, dass ich wieder paralysiert mit aufgerissenen Augen unfähig sein würde, auch nur irgend etwas zu tun. Aber Verteidiger, deren Job es ohnehin war, einen sinnlosen Tod sterben, könnten dies ja mal mit der Angriffsvariante versuchen.
    Es war ein sechs Stundenmarsch zur Stadt. Natürlich begegnete ich niemanden. Ich wanderte über verlassenes Vorderland. Meine Gedanken waren bei Lissen. Wie konnte man einfach sein Leben wegwerfen? Das einzige, das man hatte? Ich erinnerte mich daran, dass ich damals, in der Kindheit auch gerne ein Verteidiger geworden wäre. Das hatte etwas heroisches. Wenn ich mit Patros spielte, versuchte ich mir immer vorzustellen einer zu sein. Und nun war ich zu dem Schluss gekommen, dass dies wohl eine der dümmsten Ideen überhaupt war. Wahrscheinlich war ich nicht zum Verteidiger geboren.
    Kurz vor der Dämmerung traf ich vor der Stadt ein. Ich umrundete sie und erblickte das offengelassene Tor, hinter dem wohl dieser Nergd auf mich wartete. Jener mit den abgerissenen Schuppen unter seinem linken Auge. Jener von dem alle glaubten, er würde zur Abwechslung mal nicht Leute in Stücke reißen wollen. Und es war nicht einmal klar, ob ich nicht zuvor einem seiner Nergd-Kumpel zum Opfer fallen würde. Vielleicht dem, der im letzten Moment zurückgezischt worden war. Immerhin würde es wohl schnell gehen, versuchte ich mich zu trösten. Aber nicht sonderlich überraschend tröstete mich dies keineswegs.
    Plötzlich hörte ich halb hinter mir ein Geräusch. Viel zu nah für meinen Geschmack. Ich wandte langsam meinen Kopf und erblickte aus den Augenwinkeln die Verteidigerin.
    „Was willst du denn hier?“
    „Ich werde dich begleiten“, sagte sie nur.
    Für einen kurzen Moment tröstete mich das fast, aber dann malte ich mir aus, wie sie sich zwischen mich und einen herantobenden Nergd warf. Ganz so, wie ich es bei ihrer Schwester in Erinnerung hatte. Nein, das wollte ich mir nicht nochmals ansehen. Ich drehte mich ganz zu ihr um und betrachtete sie eingehend. Erst würde sie sterben, dann ich. Ich zweifelte nicht daran, dass sie mich verteidigen würde, aber retten können, würde sie mich wohl kaum.
    „Nein“, sagte ich bestimmt. „Wovor willst du mich verteidigen, wenn ich mit dem Nergd nur reden soll?“
    „Man kann ja nie wissen.“
    „Eben. Also nimm diesen Eingang.“ Ich deutete auf einen der ausserhalb der Stadtmauern eingerichteten Eingänge.
    Sie schüttelte ihren Kopf.
    Wenn wir so weitermachten, würden die Nergds uns bemerken und hier draußen töten. Was eigentlich soweit egal war. Nur wäre das dann noch sinnloser, als es ohnehin bereits war.
    Ich seufzte und setzte mich in Bewegung. „Du tust was ich sage?“
    Sie nickte und trat neben mich. Ich glaubte nicht einen Moment daran. Mit jedem Schritt fühlte ich mich schuldiger. Ich würde wiedereinmal zusehen müssen, wie sie gleich ihrer Schwester durch die Luft geschleudert wurde. Sie tat mir leid und ich hasste sie dafür.
    Schweigend traten wir nebeneinander durch das Stadttor. Etliche Nergds wirbelten auf der Stelle herum. Mechanisch setzte ich ein Bein vor das andere. Ich wusste, dass wenn ich erst mal stehen blieb, ich nie mehr würde weitergehen können. Nicht auf diese Nergds zu. Dann geriet die Stadt in Bewegung. Aus etlichen Fenstern streckten sich Köpfe. Was erwarteten diese Trottel nun zu sehen? Mir war klar was sie zu sehen kriegten. Den gewaltsamen Tod einer Verteidigerin und eines verwirrten Landbearbeiters. Ich erblickte die Gruppe der Nergds, denen ich vor Wochen meine Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Sie waren jetzt nur noch zu fünft. Ich kniff die Augen etwas zusammen, um besser sehen zu können. Dann erkannte ich den Nergd mit den fehlenden Schuppen am Kopf. Ich korrigierte meine Richtung und hielt auf ihn zu. Aber es sollte nicht soweit kommen.
    Von der Seite her nahm ich eine schnelle Bewegung wahr. Und nur einen Augenblick später sah ich einen der Nergds auf mich zu rasen. Auch von der entgegengesetzten Seite setzten sich nun zwei Nergds in Bewegung. Es war erschreckend, aber in etwa so hatte ich mir das auch vorgestellt. Alles war, als hätte ich es schon mal gesehen. Der zuerst gestartete, herantobende Nergd nur noch etwa zwanzig Schritte von mir entfernt. Die Verteidigerin, die sich an mir vorbei auf ihn zu warf. Meine Hand, die den linken, ledernen Oberarmschutz von ihr erwischte und sich darin verkrallte, - das war anders. Ich riss sie zurück hinter mich, Zorn kochte in mir hoch. Mein Zeigefinger zeigte in die Richtung des heranstürmenden Nergds.
    „Halt!“ Ich war selbst überrascht wie laut ich brüllen konnte.
    „Halt an! - Nicht so!“
    Und der Nergd rannte mich nicht über den Haufen. Drohend richtete er sich vor mir auf und wirkte fast doppelt so groß wie ich. Ich musterte ihn verdutzt. Dass er nun stehen geblieben war musste doch selbst ihm albern vorkommen.
    „Komm.“ Ich ließ die Verteidigerin los. „Gehen wir weiter.“
    Auch die anderen beiden Nergds, waren stehen geblieben. Ersterer folgte mir und der mich begleitenden Verteidigerin bedrohlich. Ich hielt jetzt wieder auf mein ursprüngliches Ziel zu. Wie bizarr sollte dies denn noch werden? Vor dem großen Nergd hielt ich schließlich an.
    „Was also willst du nun?“ Fragte ich ihn und kam mir dabei unglaublich lächerlich vor. Er musterte mich und dann meine Verteidigerin. Schließlich bedeutete er mir mit einer Armbewegung ihm zu folgen. War es das, wonach es aussah? Er bewegte sich an mir vorbei Richtung Tor, nach einigen Schritten hielt er an und wandte den Kopf. Als er sah, dass ich immer noch wie angewurzelt da stand, wiederholte er die Geste. Ich setzte mich in Bewegung und begann ihm zu folgen. Auch alle anderen Nergds setzen sich in Bewegung, was für mich etwas sehr bedrohliches hatte, denn nun gingen wir in mitten all dieser Nergds. Aber wir lebten noch. Und die Nergds verließen mit uns die Stadt. Wir gingen nun schweigend neben den Nergd mit dem fehlenden Schuppen unterm Auge. Zum einen war es für mich tröstlich einen Nergd wieder zu erkennen, denn sie sahen sonst irgendwie alle gleich aus. Zum anderen hatte dieser Nergd schon mal zu meinem Schutz beigetragen. Ich ließ die Verteidigerin zwischen mir und ihm gehen.
    Wir gingen nach Norden. Offenbar passten sich die Nergds unserer Schrittgeschwindigkeit an. So wie es aussah, war unser Ziel Unland. Eines dieser nördlichen Gebiete, wo noch nie jemand gewesen ist. Dort leben nicht nur die Nergds, sondern viele nicht minder gefährliche Tiere, die den Erzählungen nach auch nicht minder aggressiv waren und in Unland zahlreich vertreten. Würden uns die Nergds nicht wieder zurück nach Coron  begleiten, und warum sollten sie das wohl tun, so würden wir Unland nie lebend verlassen können.
    Ich spürte den Blick, den die Verteidigerin mir von der Seite her zu warf. Ich erwiderte ihn, konnte ihn aber nicht deuten.
    

Der Angriff

    Vorbei war es nun mit allen Gedanken, nackte Panik ergriff mich. Und ich gab alles. Ich rannte mit all meiner mir zur Verfügung stehenden Kraft. Keine Zeit für Überlegungen, ob dies durchzuhalten sei. Mein Herz raste. Ein riesiger Schatten näherte sich von halb rechts. Der Verteidiger, der zuvor  auf dieser Position lief, war von einem auf den nächsten Moment einfach weg. Instinktiv, tat ich was Patros mir beigebracht hatte. Ich schlug wilde Haken. Wenig später spürte ich dumpf eine Berührung. Sie ließ mich straucheln. Aber es war nur mehr eine Wahrnehmung. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie es die leichtfüßig laufende Jonna erwischte. Sie wurde von einem aus dem Nichts hervor schnellenden Nergd brutal niedergerissen. Ich schlug wildere Haken als je zu vor. Etwas schnürte meine Brust zusammen. Warum Jonna? Ich verließ mich nur noch auf Instinkt und Bewegungen die ich mehr ahnte, als dass ich sie schemenhaft aus den Augenwinkeln sah. Mein Lungen brannten, aber die Panik zwang mich zu immer wilderen Haken und noch mehr Tempo.
    Plötzlich war er da. Ein Höhleneingang. Direkt vor mir. Dennoch schlug ich einen Haken nach links, mehr um mir einen kurzen Überblick zu verschaffen. Das rettete mich. Der Nergd, der sich in Erwartung, dass ich Kurs auf den Eingang halten würde, auf mich zu katapultiert hatte,  verfehlte mich knapp. Ich schlug einen weiteren engen Haken. Dann war sie zur Stelle. Eine Verteidigerin. Offenbar meine Verteidigerin. Sie schob sich zwischen mir und den Nergd und lenkte dessen Aufmerksamkeit auf sich. Ich spürte einen wilden Schmerz in meiner Brust. Nein, dachte ich. Das konnte so nicht sein. Das sollte so nicht sein und das wollte ich nicht. Das wollte ich nie.
    Glaubte ich Patros Worten, so konnte ich ihrem Leben nur dadurch eine Chance geben, wenn sie sich schnellst möglich nicht mehr um mich bemühen musste und sich selbst in Sicherheit bringen konnte.
    Also in die Höhle und hoffen, dass auch sie es schaffte.
    Es war keine Zeit mich durch den engen Eingang zu zwängen. Ich mußte mit einem Sprung dort hinein.
    Und ich sprang.
    Mein Hinterkopf schlug am Felsen an, dann schrabbte meine Wange am Fels entlang. Hart schlug ich mit den Armen und den Knien an. Aber ich gelangte mit einem Sprung hinein. Obwohl ich hart und unsanft landete, kam ich sogleich wieder benommen in die Höhe. Ich sah wie meine Verteidigerin geschickt unter einem wuchtigen Armschlag des Nergds hinwegtauchte, aber sogleich vom durch den Schwung nachkommenden gewaltigen Rückenfortsatzes des Nergds erwischt wurde. Wie eine Puppe wurde sie Meter durch die Luft geschleudert. Wütend und hilflos brüllte ich auf. Dann wandte ich mich ab und starrte betäubt auf den  Boden. Niemand kam mehr nach. Kein Landbearbeiter, kein Verteidiger, niemand. Nicht einmal ein Nergd versuchte noch sich Zugang zu meiner Zuflucht zu verschaffen. Es war vorbei und ich war allein. Betäubt, erfüllt von Vorwürfen, unfähig mich zu bewegen saß ich noch da, als die Nacht hereinbrach.
    Aber was war das, was ich da erlebte? Warum hatte ich als einziger überlebt? Und wer war alles für mich gestorben? Ich wollte nicht, das irgendjemand für mich stirbt. Das wollte ich nie. Die Szene, als es meine Verteidigerin erwischte kam mir ins Bewußtsein zurück. Sofort zog sich meine Brust zusammen. Mit ihr hätte ich viel lieber eine Familie gegründet. Was hatte mich geritten nicht sie zu verteidigen? Verteidige die Schwachen. Auch das hatte Patros immer gesagt. Aber sie war nicht schwach gewesen. Aber möglicher Weise war sie es doch. Wie auch all die anderen Verteidiger. Rückblickend durchforstete ich die Bilder, die ich auf meiner panischen Flucht gesehen, aber nicht hatte auswerten können. Keiner der Verteidiger hatte einen Nergd angegriffen. Sie hatten die Aufmerksamkeit der Nergds auf sich gelenkt und hatten versucht, den Schlägen und Hieben der Nergds so gut es ging auszuweichen. Mir war klar, dass ich nicht alles hatte sehen können. Aber ich wusste, was ich nicht gesehen hatte. Nämlich einen Verteidiger, der einen Nergd angegriffen hätte, mit der Absicht ihn nieder zu ringen. Genau das jedoch hatte mir Patros immer wieder eingeschärft.
Verschwende deine Leben nicht, indem du einen Nergd nicht angreifst.
Ich wusste nun, dass ich versagt hatte. Patros hatte mir zu verstehen gegeben, dass ich eine Chance gegen einen Nergd hätte, wenn auch nur, wenn ich ihn wirklich angriff und mich nicht nur angreifen ließe. Diese Chance hatte meine Verteidigerin nicht. Keiner der Verteidiger hatte es überhaupt nur versucht. Sie hatten ihren Job gemacht. Sie waren gestorben. Ich wusste nun auch, was Patros mit dem eigenen Gesetz meinte. Hätte ich dies alles vorher durchlebt, wäre dies nie so abgelaufen. Hätte ich ein eigenes Gesetz gehabt, so hätte ich das öffentliche mißachtet. Ich hätte an der Seite meiner Verteidigerin gekämpft und wir würden jetzt gemeinsam noch am Leben sein, oder aber, die wahrscheinlichere Variante - , beide nicht. In dieser Nacht machte ich meine eigenen Gesetze. Ich hatte mich  nie zuvor so traurig, so schuldig und so vom Leben hintergangen gefühlt, wie in dieser Nacht.  
Erst mit der Morgendämmerung kam der Schlaf.  

danach

    Es war früher Nachmittag, als ich vom Geräusch patrouillierender Verteidiger geweckt wurde. Sie  kamen um zu sehen, ob wer überlebt hatte. Und mit mir waren sie fündig geworden. Für mich nicht nachvollziehbarer Weise waren sie höchst erfreut mich zu sehen. Waren nicht all ihre Kameraden und Kameradinen für mich gestorben? Ich erklärte sogleich, wie leid mir dies täte, aber sie meinten, mit meinem Überleben hätte ich dem Tod jener einen Sinn gegeben. Mehr noch. Mein Überleben gereiche ihrer Zunft zur Ehre. Aber all ihre Worte konnten mich nicht trösten. Für mich waren die Nergds immer eine unvermeidbare Bedrohung gewesen. Ich hatte dies nie persönlich genommen. Etwas, was sich nun geändert hatte. Man gestand mir zu, dass ich mich zu Hause einfand, sollte mich aber einen Tag später im Verteidiger-Hauptquartier einfinden, um Bericht zu erstatten.
    Nie hatte ich den Beistand von Patros so nötig, wie an diesem Tag. Mir war, als müsse ich nach Unland ziehen, jenem unwegsamen Land, weit nördlich der Stadt. Dem Nergd Gebiet. Mir war nach Rache. Und ja, es war okay, wenn ich damit all jenen folgte, die Tags zuvor ihr Leben ließen.
    Patros war ein großer Mann. Wie groß, das erfasste ich erst jetzt, wo ich seinen Beistand so nötig hatte und auch erhielt. Er schien sofort und vollständig zu erfassen was in mir vorging und wie es in mir aussah. Noch bevor all das Erlebte aus mir herausbrach und er mir still zuhörte, bis ich mit meinen Ausführungen am Ende war. Dann hatte ich alles gesagt. Auch, dass ich nun meine eigenen Gesetze hätte, was zugegebener Maßen einigermaßen lächerlich klang. Dass ich mich dafür hasste, nicht auf ihn gehört zu haben. Ich hätte mich früher um meine eigenen Gesetze kümmern müssen. Dann müsste ich nicht mit diesem seltsamen Schicksal leben. Patros entlastete mich nicht in dem er sagte, ich hätte das einzig Richtige getan,  dies tat später übrigens das Verteidiger-Hauptquartier. Er klagte mich auch nicht an, indem er mir sagte, wie ich mich anders hätte verhalten sollen. Hingegen erzählte er mir erstmals seine Geschichte. Den Grund, weswegen er hatte gehen müssen. Ausgestoßen aus der Zunft der Verteidiger. Nicht nur, dass er die Vorgehensweise der Verteidiger vielfach angezweifelt hatte, so hatte er eines Tages das ungeschriebene Gesetz der  Verteidiger verletzt. Dies besagte, dass ein Nergd zu töten sei, wann immer sich die Gelegenheit dazu böte. Patros hatte diese Gelegenheit und hatte sie nicht wahrgenommen. Viele seiner Kameraden waren Zeugen dieses Geschehnisses geworden. Es war bei den Kämpfen um Catans, die nördlichste  Stadt an der Grenze zu Unland, die danach aufgegeben worden war. Diese Stadt war kleiner gewesen als Coron, aber gut befestigt. Aber sie war etwa alle drei Tage angegriffen worden und fast immer hatte es Verluste gegeben. Bei einem der letzten Kämpfe um die Stadt, hatte Patros einen Nergd gestellt. Ungewöhnlich allein, insofern sich Nergds nicht stellen lassen. Eben jener Nergd hatte sich direkt vor Patros aufgerichtet, die Arme ausgebreitet und ihn fast eine Minute lang nur gemustert. Es wäre ein leichtes gewesen ihm den Kampfstab in den Körper zu rammen. Aber Patros hatte dies nicht getan. Gleich dem Nergd, hatte Patros sein Gegenüber betrachtet, dann hatte er sich wortlos abgewandt und war gegangen. Dabei hatte er nicht nur den Nergd nicht getötet, nein er hatte auch einem Nergd den Rücken zugewandt und diesem die Gelegenheit gegeben ihn zu töten. Das allein hätte jedoch nicht gereicht Patros, der ja damals Flagger hieß, aus den Kreisen der Verteidiger auszustoßen. Dieser Nergd war von außergewöhnlich großer Statur. Dadurch unterschied er sich recht deutlich von den meisten seiner Artgenossen. Und allein eben jener Nergd tötete danach noch etwa vierunddreißig Verteidiger, bevor man beschloss die Stadt aufzugeben.
    Nachdem Patros mit seiner Geschichte fertig war, sah er mich nur traurig an. Er würde es auch heute wieder so machen, denn dies sei eine Sache der Fairness, erklärte er abschließend leise. Und es war klar, dass er von mir ebenso  wenig eine Stellungnahme dazu erwartete, wie er bereit war, eine Stellungnahme zu dem von mir erlebten abzugeben. Es war klar, in letzter Instanz musste man selbst die Folgerungen ziehen und Konsequenzen für seine Entscheidungen tragen.

Coron

    Eigentlich hätte ich meinen Aufenthalt in der Stadt Coron genossen, wäre der Anlass für mich nicht so niederschmetternd gewesen. Coron war eine stark befestigte Stadt mit starken Mauern. Wechselte man durch die Stadtteile, musste man sich wieder und wieder durch die engen Durchgänge zwängen, durch welche Nergds unmöglich hindurchgelangen konnten. Die höchsten Gebäude hatten etwa vier Stockwerke. Aber den größten Gebäuden sah man deren Größe nicht an der Höhe an. Coron war eine Stadt, in der bis zu sechzig Stockwerke unter der Erde angelegt worden waren. Die Nergds würden diese Stadt nie vollständig einnehmen können. Soviel war sicher. Das war den Nergds übrigens auch im nördlichen Catans nicht gelungen. Aber große einwohnerreiche Städte können nur überleben, wenn sie vom Umland von uns Landbearbeitern mit Nahrung versorgt werden. Catans war praktisch ausgehungert, weil es nicht gelungen war, das Umland der Stadt nachhaltig zu verteidigen.
    Es war nun die größte Sorge, dass die Nergds intelligent genug sein konnten, dies auch mit Coron erfolgreich zu wiederholen. Und die Situation sah danach aus.
    Ich fand mich wie mir geheißen im Verteidiger Hauptquartier ein, wo man sehr wohlwollend mit mir auseinandersetzte. Man betrachtete mich offenkundig als den lebenden Erfolgsbeweis ihrer Arbeit. Es gefiel mir nicht, aber ich beschränkte mich darauf zu fast allem zu schweigen. Ich wollte wieder zurück ins Vorderland und Land bearbeiten, vergessen.  
    Kaum, dass ich die Stadt verlassen hatte, erfolgte der nächste Nergd Angriff. Viel zu spät waren sie bemerkt worden. Ich spürte sie, bevor ich sie sah. Dieses Mal blieb mir genügend Zeit, mich in einen der Höhleneingänge zu flüchten. Man hatte sie überall außerhalb der Stadtmauern angelegt, um draußen gebliebenen wie in diesem Fall mir, einen Rückweg offen zu halten. Blitzschnell wurden die Stadttore geschlossen. Aber nicht an allen Stellen schnell genug. Niemand hatte damit gerechnet, dass die Nergds in solch kurzen Abständen angreifen würden. Aber es war geschehen.
    Ich hastete durch die dämmrigen, unterirdischen Gänge zurück in Richtung Stadt. Unter der Erde war man hier sicher, denn die Nergds waren zu groß für die engen Durchgänge. Dieses Mal verspürte ich keinerlei Panik, sondern nur Zorn. Innerhalb der Stadt waren die Zustände chaotisch. Zahlreiche äußere Stadtteile waren innerhalb der Stadtmauern von Nergds belagert. Das hatte es noch nie gegeben. Selbst damals in  Catans nicht.
    Anweiser mahnten die Stadtbewohner an, die unterirdischen Fluchtwohnungen aufzusuchen. Natürlich gab es für etwaige Belagerungsfälle Vorräte.
    Das positive war, dass es Höhlensysteme bis hin zum Vorderland gab, über die Landbearbeiter die Stadt mit Nahrungsmittel versorgen konnten. Das Negative war, dass es einer großen Zahl dieser geschuppten Ungeheuern gelungen war, die Stadttore zu passieren und sie sich damit innerhalb der Stadtmauern befanden.
    Ich überlegte was ich tun sollte. Mittels des unterirdischen Höhlensystems hätte ich sicher den Heimweg ins Vorderland antreten können. Andererseits erfüllte sich unser Schicksal hier in der Stadt. Würde die Stadt fallen, so könnten keine Verteidiger das Vorderland schützen.
    Ich beschloss, mir das Problem anzusehen.
    Viele der Anweiser erklärten mir, ich solle nach unten gehen, aber ich hetzte durch die Gänge der Stadt, um schließlich die Stockwerke des Mittelhauses hochzueilen. Dieses Gebäude maß oberirdisch drei Stockwerke und ich konnte mir ziemlich sicher sein, innerhalb des Gebäudes nicht auf Nergds zu treffen. In all dem heillosen Durcheinander kümmerte sich niemand wirklich um mich. Ich erreichte das zweite Stockwerk des Gebäudes. Sofort sah ich einen großen Bereich in dem sich Nergds aufhielten. Sie waren in ihren Bewegungen einigermaßen eingeschränkt, da sie nicht beliebig durch die Stadtteile wechseln konnten. Einige von ihnen waren äußerst gewalttätig und schlugen alles in Stücke was sich zerstören ließ. Dabei benutzten sie auffällig häufig ihren wuchtigen Rückenfortsatz.
    Ich begab mich auf eine Veranda, die sich fast über  die gesamte Länge des Gebäudes zog. Von hier aus hatte ich einen guten Blick. Die Nergds. Was wollten sie eigentlich von uns? Wir waren keine wirkliche Bedrohung für sie. Keiner hatte dies je herausgefunden. Allgemein hielt man sie für nicht sonderlich intelligent. Man hatte sie nie Werkzeuge benutzen sehen. Aber waren sie wirklich nur eine Art Raubtier? Patros hatte nie daran geglaubt und ich wusste nicht, was ich glauben sollte.
    Mein Augenmerk viel indes auf eine kleinere Gruppe von sieben Nergds die offenbar gestikulierend beieinander standen. Berieten sie sich? Es sah ganz danach aus. Ich ging die Veranda entlang, bis ich fast über ihnen stand. Einer von ihnen bemerkte mich und sah mich einen Moment lang an. Dann schauten auch die Übrigen zu mir hoch. Ich erwiderte ihre Blicke trotzig bis sie nach und nach das Interesse an mir zu verlieren schienen. Ich betrachtete die Türen, die von der Veranda ins Gebäude-Innere führten. Die meisten waren zu eng für Nergds, aber nicht alle. Ich kehrte ins Gebäude zurück. Davon ausgehend, dass der erste Stock baugleich mit diesem, dem zweiten Stock wäre, könnten die Nergds durchaus ins Innere gelangen, aber ich hätte eine Chance ihnen zu entkommen. Meine Entscheidung stand fest. Ich würde die Veranda des ersten Stockes aufsuchen. Diese lag nur etwa vier Meter über der Straße, womit ich ziemlich nahe an die Nergds herankommen würde. Bei allem was ich in Erinnerung hatte würde es mich nicht überraschen, würde ihre Sprungkraft ausreichen, diese Veranda zu erreichen. Aber ich konnte mich mit etwas Glück immer noch ins Innere des Gebäudes flüchten.
    Aufmerksam ließ ich meine Blicke schweifen, als ich leise durch die Räume des ersten Stocks trat. Es gab für meinen Geschmack zu viele Türen, die einen Nergd nicht aufhalten würden, aber ich hatte eine Chance.
    Als ich auf die Veranda trat, hörte ich einige Ausrufe derer, die mich dort bemerkten. Aus dem gegenüberliegenden Gebäude winkten einige der Verteidiger wild und bedeuteten mir umzukehren, aber ich ignorierte sie. Noch immer verspürte ich einen tiefen Zorn in mir, gepaart mit einer gewissen Neugier und der Spannung, welche das Spiel mit dem Schicksal mit sich brachte. Als ich mich der Nergd-Gruppe bis auf wenige Schritte genähert hatte, bemerkten sie mich. Die Ausrufe waren verstummt und auch die Verteidiger hatten die Arme sinken lassen, und warteten nun gespannt auf das, was nun passieren mochte.
    Ich machte keinerlei Anstalten mich vom Geländer fern zu halten. Keinen Augenblick ließ ich diese großen echsenähnlichen Wesen aus den Augen. Sie hatten sich zu mir herum gedreht und starrten mich aus bernstein gelben Augen ausdruckslos an. Sie hatten sich aufgerichtet und ich erschrak innerlich ob ihrer Größe. Ihre Köpfe waren nur wenige Schritte von mir entfernt. Mir kam der Gedanke, dass sie mich durchaus mit einem Sprung würden erreichen können. Mich beschlich das Gefühl, mich außerordentlich dumm zu verhalten. Wäre ich mir dieser Nähe vorher bewusst gewesen, ich hätte den Gang auf die Veranda wohl nicht gewagt. Mein Blick blieb auf den Augen desjenigen Nergds ruhen, der zuvor als erstes das Interesse an mir verloren hatte. Ich weiß nicht, was ich mir davon versprach. Aber es war ein anderer Nergds, der die Initiatitve ergriff.
    Ohne Vorwarnung, oder einleitende Bewegung sprang er auf mich zu. Seine riesigen klauenartigen Hände griffen nicht nach mir, sondern fanden an einer der schmalen Säulen halt, die der Veranda ihre Stabilität verliehen. Fast berührten sich unsere Gesichter und ich roch seinen Atem.
    Und ich stand da, unfähig mich zu bewegen, total überrascht und wie zur Statue geworden. Endlose Augenblicke verstrichen, ohne dass ich mich rühren konnte. Ich starrte dem Nergd aus nächste Nähe in die bernsteinfarbenen Augen. Bemerkte wie abwesend, dass es unter seinem linken Auge eine kahle Stelle gab, wo seine Schuppen herausgerissen zu sein schienen. So plötzlich sich der Nergd heraufkatapultiert hatte, so plötzlich ließ er sich wieder zu Boden fallen. In diesem Moment beugte ich mich vor und wäre wohl, hätte ich nicht am Geländer Halt gefunden ohnmächtig geworden. Ich versuchte mich zusammen zu reißen. Warum hatte dieser Nergd mir nicht den Kopf abgerissen? All meine Pläne, durch das Innere des Gebäudes zu entkommen ... Wie lächerlich. Dieser Nergd hätte mich augenblicklich getötet, wenn er gewollt hätte. Warum hat er nicht?
Aus den Augenwinken sah ich immer mehr neugierige Gesichter von Stadtbewohnern in sicherer Entfernung auftauchen. Offenbar hatte es sich herumgesprochen, das ein sichtlich Verwirrter mit seinem Leben spielte. Ich hielt mich am Geländer fest, bis ich merkte, dass mein Stand etwas sicherer wurde. Ich beugte mich noch weiter vor.
    „Was wollt ihr eigentlich von uns?“ Meine Stimme klang mir fremdartig, aber sie war fester, als ich es mir zugetraut hätte.
Nun drehten sich auch die anderen Nergds zu mir um. Ein großer Nergd beschleunigte plötzlich in meine Richtung. Mit kraftvollen Schritten raste er näher und ich glaubte zu sehen, wie er zum Sprung ansetzte. Mir war klar was jetzt passieren würde und wandte meinen Blick dem Nergd zu, der zuvor zu mir hinauf gesprungen war. Für einen kurzen Augenblick berührten sich unsere Blicke, dann ertönte ein scharfer Zischlaut. Der Nergd, der bereits zum Sprung angesetzt hatte, stoppte derart apprupt, dass er beinahe zu Fall kam. Indessen merkte ich, wie meine Knie nun entgültig drohten nachzugeben. Das war langsam zu viel für mich. Sehr langsam, nicht sicher, ob mich meine Beine tragen würden, wandte ich mich um. Dann ging ich ebenso bedächtig zurück ins Gebäude. Das reichte mir. Genug war genug. Wie kam Patros nur auf die Idee, man könne einen Nergd erfolgreich angreifen? Ich war wie festgenagelt gewesen. Hatte mich nicht einmal rühren können, als dieses riesen Ding auf mich zusprang. Nicht einmal die Augen hatte ich bewegen können, geschweige denn einen Arm zu meinem Schutz heben. Als ich das erste Untergeschoss erreichte, wurde ich vom nächsten Schreck heimgesucht. Vier oder fünf Verteidiger erwarteten mich bereits und unter ihnen die Frau, die ich im Vorderland hatte sterben sehen.
    „Wer glaubst du, wer du bist?“ Die Stimme des Verteidigers, der mir die Frage stellte klang nicht einmal vorwurfsvoll, sondern durchaus nur neugierig. Ich lehnte mich vorsichtig a eine Wand. An Stelle einer Antwort gaben nun meine Beine nach. Ich rutschte mit dem Rücken die Wand herab bis ich auf den Fersen hockte.
    „Keine Ahnung“, murmelte ich leise. „Keine Ahnung.“         
    Die Verteidiger bildeten einen Halbkreis um mich, nicht sicher, was sie mit mir anfangen sollten. Ich erinnerte mich an die Geschichte, die ich kürzlich von Patros gehört hatte. Das ihn ein Nergd gemustert hatte, ohne ihn zu töten. Hatte ich deswegen diese unglaubliche Dummheit begangen? Ich verwarf den Gedanken. Obgleich die Reaktion der Nergds durchaus Parallelen zu jener mit Patros Konfrontation mit dem Nergds aufwies, war mein Plan eindeutig ein anderer gewesen. Im Falle eines Angriffs hatte ich fluchtartig meine Position aufgeben wollen. Das war sicher. Dass ich dazu nicht fähig gewesen war, hatte ich nicht vorausgesehen.
     Mein Blick viel auf die Verteidigerin. „Ich dachte du seist tot“, stammelte ich fast. Sie blickte mich irritiert an.
    „Vor zwei Tagen, draußen im Vorderland. Der Nergd-Angriff“, hakte ich nach.
    „Er meint deine Schwester Lissen“, brummte einer der Verteidiger.
    „Schwester?“ Ich biss mir auf die Lippe. Sah zur Seite. Aber dann beschloss ich, dass es eben war, wie es war.
    „Ich habe sie nicht gerettet. Und sie hat ..“ Ich konnte nichts mehr sagen.
Die Verteidigerin wandte sich ab und verschwand wortlos.
    „Es tut mir leid“, flüsterte ich. Mir war elend zu mute. Langsam kehrte der Zorn auf die Nergds wieder in mir zurück. Ich versuchte mich zu erheben. Einer der Verteidiger stützte mich.
    „Und was macht ihr jetzt mit den Nergds?“
    Der Verteidiger sah mich ratlos an.
    „Na, die können doch unmöglich in der Stadt bleiben.“
    Ich erhielt darauf keine Antwort.
    Mir reichte es. Ich wollte zurück ins Vorderland. Dorthin wo der alte Patros war. Ich war vielleicht verantwortlich für den Tod von Lissen und all den anderen Verteidigern, die vor zwei Tagen ums Leben gekommen waren, aber für dies hier konnte ich nichts.
    Ich wandte mich gerade zum gehen, als mich die Frage erreichte. „Du bist doch der Landbearbeiter, der überlebt hat?“
    Mein Blick suchte die Frau, die mir die Frage gestellt hatte. Auch sie war offensichtlich eine Verteidigerin. Aber sie war nicht Lissens Schwester. Ich war erleichtert und enttäuscht gleichermaßen.
    „Ja warum?“
    „Du hast keine Angst vor den Nergds?“
    Ich schüttelte bestimmt den Kopf. „Ich habe mehr Angst von den Nergds als jeder von euch, glaube ich.“
    „Aber was hast du denn da gerade gemacht. Was wolltest du dort?“
    „Kommunizieren“, entfuhr es mir und es überraschte mich, denn bis zu diesem Augenblick hatte ich mich das gleiche gefragt. Ich wandte mich um, was sollte ich ihr sagen? Das die Nergds nicht kommunizieren wollen? Das dürfte sie ja wohl selbst gemerkt haben. Das ich mich unglaublich dumm verhalten habe. Auch das war so offensichtlich, wie etwas nur sein konnte.
    „Warte bitte.“
    Ich wandte mich wieder zu ihr um. Was wollte sie denn noch?
    „Vielleicht funktioniert es ja? Du hast ja gesehen, sie tun dir nichts.“
    „Da kann mich sich nicht so sicher sein.“
    „Aber wenn du dir nicht sicher bist, warum ...?“
    „Weil man wohl kaum dümmer sein kann, als ich es bin“, unterbrach ich sie schroffer als beabsichtigt. Nun war es raus. Wollte sie sonst noch eine ehrliche Einschätzung von mir wissen. Abrupt drehte ich mich um. „Tut mir leid“, flüsterte ich nochmals. Und ging.

Die Flucht

    Ich bemerkte eine ungewöhnliche Bewegung am Horizont. Schemenhaft huschten weit entfernt mir fremdartige Silhouetten durch das Gelände. Wir kannten hier keine solch hochgewachsenen Tiere und obgleich dies mein erstes Mal war, war ich alarmiert.
    „Hey Thornt was ist?“ Erkundigte sich mein Begleiter bei mir. Collan, der gleich mir Landbearbeiter war, grinste mich von der Seite her an.
    „Ärger, fürchte ich“, murmelte ich nur leise.
    Collan hatte wohl den Ernst in meiner Stimme bemerkt, denn auch er folgte nun meinem Blick. Ein erschreckter Ausdruck entfuhr ihm. Er blickte mich erneut von der Seite an.
    „Das sind doch keine ...“, begann er flüsternd.
    „Ich fürchte doch. Nergds.“
    „Da, schau“, rief Collan aus und deutete mit dem Finger in östlicher Richtung der Stadt. Dort kamen bereits die Verteidiger. Sie mussten die Nergds früh geortet haben. Wie konnten sie die so schnell entdeckt haben? Die Nergds hatten einen geschickten Einfallswinkel gewählt. Sie kamen von Osten her und hatten scheinbar kein Interesse an der Stadt. Mir vielen Patros Worte ein, wonach ich einem Verteidiger das Leben rettete, in dem ich dafür sorgte, dass er mich nicht verteidigen müsse, wenn er mich nur schnell genug in Sicherheit wisse.
    „Collan, weg hier, lass uns verschwinden“, mahnte ich und drehte mich bereits um.
    „Feigling“, lachte Collan, folgte mir jedoch.
    Wir schlugen einen raumgreifenden Trab ein, um die erste Höhle zu erreichen. Sie war unterirdisch weit verzweigt und ihr felsiger Eingang ließ gerade Platz, dass sich unsereins durchzwängen konnte, nicht jedoch ein Nergd. Innerhalb des Höhlenkomplexes gab es mehrere solcher Durchgänge, die sich so eng zusammenzogen, dass ein Nergd nicht hätte folgen können. Dies war für den Fall gedacht, dass es die Nergds irgendwie schafften, sich den Eingang so zu verbreitern, dass sie Zutritt erlangten.
    „Warum Feigling? Was meinst du damit?“ Erkundigte ich mich.
    „War nur ein Witz. Ich meine, du hast doch gesehen, dass die Verteidiger im Begriff waren, den Nergds den Weg zu uns abzuschneiden.“
    „Ja und?“
    „Wieso ja und? Hätten wir uns so etwas nicht mal kurz ansehen können?“
    „Na dann lauf zurück und sieh es dir an.“
Ich grinste als Collan keinerlei Anstalten machte, meinem Vorschlag nachzukommen.
Aber jäh brach mein Grinsen ab. Ich hielt an.
    „Oh nein“, entfuhr es Collan.
    „Na ja, jetzt erfüllt sich dein Wunsch“, murmelte ich lakonisch.
Aus der Richtung, in die wir unterwegs waren kamen nun ebenfalls Nergds. Sie vielen also aus zwei entgegengesetzten Richtungen her ins Land ein, von Osten und vom Westen her. Das hatten sie noch nie gemacht.
    „Was machen wir den jetzt?“ Collans Stimme klang nun verunsichert. Ich wusste keine zufriedenstellende Antwort.
    „Die Höhle ist die einzige. Sonst können wir nirgends hin.“
    „Wir könnten Richtung Stadt. Von dort schicken sie uns bestimmt auch Verteidiger entgegen.“
Das war eine Idee. Vielleicht unsere einzige Möglichkeit. Denn die uns entgegenkommenden Nergds, waren bereits fast an den Höhleneingängen. Unmöglich, an ihnen vorbeizugelangen.
    Wir sahen Jonna und Bergum herbei laufen. Auch sie waren Landbearbeiter. Und auch sie hatten das Offensichtliche bereits erkannt.
    „Sie haben uns den Weg abgeschnitten, habt ihr gesehen?“ Jonnas Augen blickten gehetzt umher. „Wir müssen einen Bogen laufen.“ Sie deutete in die Richtung aus der wir kamen.
Collan schüttelte den Kopf. „Da kommen wir gerade her und rate mal wer hinter uns her ist.“
    „Wir erreichen die Höhlen niemals“, vernahm ich Bergums traurige Stimme. Tiefe Resignation schwang in ihr mit.
    „Die Stadt.“ Collan deutete in die Richtung. „Wir müssen in die Stadt.“
    „Er hat recht“, sagte ich knapp. „Dann los.“
    Ich setzte mich in Bewegung und die drei folgten mir. „Die Nergds können sich schneller als wir bewegen“, gab Jonna zu bedenken. Ich nickte nur und erhöhte nochmals das Tempo. Zur Stadt waren es etwa sechs Stunden strammer Fußmarsch. Das bedeutete, wenn wir wirklich schnell rannten und damit meinte ich richtig schnell, dann würden wir immer noch zwei Stunden benötigen, wahrscheinlich jedoch mehr.
Wir rannten nun das schnellste Tempo, von dem wir glaubten es zumindest eine Stunde durchhalten zu können. Bald waren wir zu sechst, dann zu acht. Die Landbearbeiter, die uns sahen, schlossen sich uns wortlos an. Zum einen hatten wir bei diesem Tempo nicht die Luft zum Reden und zum anderen sah unser Lauf bereits nach panischer Flucht aus.
So auch als Honeck als neuntes Fluchtmitglied hinzustieß.
    „Was?“ Keuchte Honeck.
    „Nergds“, gab Collan keuchend zurück. Womit alles Wesentliche gesagt war.   
    „Sie haben uns entdeckt.“
Ein Blick über die Schulter bestätigte das gesagte. Die aus dem Westen herannahenden Nergds hatten ihren Richtung korrigiert und hielten nun auf uns zu.
    „Schneller“, keuchte ich. Und erhöhte nochmals das Tempo. Wir wussten, dass die Stadt uns gewiss längst weitere Verteidiger entgegen geschickt haben würde. Aber was war damit gewonnen?
Wahrscheinlich würden uns die Nergds weit früher erreichen. Und selbst wenn nicht, wir würden die Verteidiger in etwa auf halber  Strecke zur Stadt treffen. Sie konnten die Nergds vielleicht so lange aufhalten, wie wir brauchten, um in den Höhleneingängen zu verschwinden, jedoch unmöglich so lange, wie wir brauchten, um die Stadt zu erreichen. Und niemand aus dieser Gruppe, ausser vielleicht Jonna, die sehr leichtfüßig unterwegs war, würde dieses Tempo über zwei Stunden durchhalten.
    „Laufen wir Richtung Stadt, sind wir tot“, sagte ich ohne Tempo oder Richtung zu ändern.
    „Was denn jetzt?“ Collan rannte neben mich.
    „Was denkst du was passiert, wenn die Nergds auf die Verteidiger stoßen? Wie lange können die Nergds aufgehalten werden?“
    Collan blickte mich gequält an. Ich sah in seinen Augen, dass er wußte wovon ich redete.
    „Entscheidet euch Jungs“, mahnte Jonna.
    „Also Stadt fänd ich gut“, ließ sich der zuletzt hinzugekommene Honeck vernehmen.
    „Nur, dass du die nie lebend erreichst“, fauchte Collan.
    „Wir müssen in der Nähe der Höhleneingänge bleiben“, sagte ich bestimmt.
    „Du meinst, vorbei an den Nergds?“ Unglaube beherrschte Bergums Stimme. „Das kann doch nicht dein Ernst sein?“
    „Wo sonst willst du hin?“
    „In die Stadt, die einzige Richtung aus der keinen Nergds kommen“, entfuhr es Bergum trotzig.
Ich verlangsamte das Tempo. „Wir sind keine zehn Leute und es werden wohl vierzig oder fünfzig Verteidiger ihr Leben lassen.“
    „Das ist der Job eines Verteidigers.“ Collan lief immer noch neben mir.
    „Genau. Das machen Verteidiger. Ist ihre Aufgabe.“ Bergum fühlte sich bestätigt.
Ich sah beide zornig an. „Es ist aber ein Unterschied, ob es umsonst ist, oder ob sie damit eure kleinen Leben retten. Und auch dann finde ich es nicht unbedingt in Ordnung.“
    „Was meinst du damit?“ Bergums Stimme überschlug sich. Ich hatte wohl einen Nerv getroffen. „Was meinst du mit, unsere kleinen Leben?“
    Collan winkte ab.  „Wir haben keine Chance, die Stadt zu erreichen, damit hat Thornt recht.“
    „Wieviele Verteidiger hattest du im Osten gezählt“, wandte ich mich an Collan. Er erschien mir ungewöhnlich aber auch erfreulich sachlich.
    „Keine Ahnung, zwanzig, dreißig vielleicht.“ Er hob die Schultern. „Auf keinen Fall mehr.“
    „Dann sollten wir in ihre Richtung laufen, damit es vielleicht einige von uns schaffen“, sagte ich und schwenkte entsprechend nach Osten in eben die Richtung, aus der wir anfangs kamen.  
    „Einige von uns? Was meinst du damit?“
    Ich drehte mich zu Honeck um, der rechts hinter mir lief. „Das vielleicht zwei oder drei von uns überleben. - Wenn wir Glück haben.“
    „Glück nennst du das?“ Bergums Augen funkelten mich zornig an.
    „Tut mir leid. Aber ich kann die Situation nur so beurteilen, wie ich sie sehe. Wer in die Stadt will, kann gerne versuchen dort hinzugelangen.“ Für mich war damit alles gesagt. Ich fühlte mich plötzlich elend. Mein Magen zog sich zusammen. Damit hatte ich nicht nur  den anderen, sondern auch mir selbst die Ausweglosigkeit der Situation, in der wir uns befanden verdeutlicht. Würde ich heute sterben? Vermutlich. Hinzu kam die Situation der Verteidiger. Nicht jene, auf die wir gleich östlich von uns trafen, sondern jene, die sich von der Stadt her aufgemacht hatten, uns zur Hilfe zu eilen. Die Nergds würden recht schnell mit uns fertig sein. Sie würden dann Kurs auf die Stadt nehmen. Und die Verteidiger, die bereits seit über einer Stunde rannten, würden entsprechend weit entfernt von Stadt, den Höhleneingängen und sonstigen Schlupfwinkeln aufgerieben werden. Sie müssten jetzt bereits umdrehen und in die Stadt zurücklaufen, sollten sie sich eine kleine Chance erhalten wollen. Sie müssten dies sogar tun. Denn es war zu diesem Zeitpunkt bereits klar, dass sie zu spät zu unserer Verteidigung kommen würden. So oder so. Es gab hier nichts mehr für sie zu tun, außer vielleicht zu sterben. Wie sagte Collan? Ihren Job zu tun.
    So hielten wir nun auf unsere aus östlicher Richtung kommenden Verteidiger zu, die uns entgegen liefen, um uns eben zu verteidigen. Sie wiederum wurden verfolgt von den ebenfalls aus Osten kommenden Nergds, denen sie den Weg zu uns abgeschnitten hatten. Wenn wir auf sie trafen, würden die aus Westen kommenden Nergds uns beinah eingeholt haben. Und auch die aus Osten kommenden Nergds würden wohl unvermeidbar zur Stelle sein. Bis zu den Höhleneingängen waren es von dort etwa  vierundzwanzig Minuten strammer Fußmarsch, also sechs bis acht Minuten schnelles, ums eigene Leben hetzen. Eben je nach körperlicher Verfassung. Damit hätten zumindest einige von uns und mit etwas Glück auch ein paar Verteidiger die Möglichkeit zu überleben. Aber zwei Stunden nach Norden rennen bis in die Stadt? Dafür waren die Nergds zu schnell und auch zu ausdauernd. Ich teilte meinen Schicksalsgenossen meine Gedanken in knappen Worten mit.
    Kurze Zeit darauf trafen wir auf unsere Verteidiger. Wie ich vermutet hatte, waren die aus östlicher Richtung kommenden Nergds nur noch wenige Minuten entfernt.
    „Gute Entscheidung“, sagte der anführende Verteidiger knapp, als wir aufeinander trafen. Er deutete uns ihnen zu folgen und wir schwenkten gemeinsam Richtung Süden. In Richtung des großen Wassers, welches etwa so weit entfernt war, wie die Stadt. Offenbar hatte der Anführer unsere Richtungsschwenks verfolgt, wie auch immer er das angestellt haben mochte. Und nicht minder wichtig, er wußte offenbar, was er tat. Wir würden versuchen die uns entgegen kommenden Nergds südlich zu umlaufen, was natürlich nicht zu schaffen war. Aber dadurch würden uns die Nergds in die Flanke fallen, was wiederum bedeutete, dass die Verteidiger sich auf diese konzentrieren konnten. Wir schlugen nun ein mörderisches Tempo ein. Sogleich vielen Bergum und Honeck etwas zurück. Auch einige der Verteidiger ließen sich nun zurückfallen, um an ihrer Seite zu bleiben.
    Ich rannte fast an meinen Grenzen. Dieses Tempo höchstens acht Minuten durchhalten, hämmerte ich mir ein. Oder sterben. Mein Magen fühlte sich an als wolle er sich entleeren. Mir war klar, das würde jetzt ziemlich hässlich werden.
    Noch mal erhöhte der Anführer der Verteidiger das Tempo. Nun vielen weitere von uns zurück. Darunter auch Collans. Ich überlegte kurz, ob ich an seiner Seite bleiben solle, aber mir vielen die Worte Patros ein. Je schneller du dich in Sicherheit bringst, je weniger lang muss dich ein Verteidiger mit seinem Leben schützen. Das leuchtete ein. Vor mir lief Jonna, die ich richtig eingeschätzt hatte. Offenbar hatte sie die wenigsten Probleme dieses mörderische Tempo zu gehen. Ich blickte mich weiter um. Wollte mir ein Bild von den Verteidigern machen, die da lebten um zu sterben. Es waren auch einige Frauen unter ihnen. Alle ausschließlich hübsch. Durchtrainierte, athletische Figuren, was bei ihrem Training nicht weiter verwunderlich war. Aber ich hatte mir nie Gedanken darüber gemacht, dass auch Frauen unter ihnen waren. An Armen und und Beinen trugen sie schilfgrünen Lederschutz an den Aussenseiten.
Ansonsten trugen die Verteidiger kaum etwas. Der Lederschutz war eigentlich lächerlich, aber Verteidiger mussten in erster Linie schnell sein. Bewaffnet waren sie mit langen Kampfstöcken, die an den Enden sehr spitz waren. Auch mir hatte Patros damals, als ich noch ein Kind war, den spielerischen Umgang mit einem Stock beigebracht. Selbstredend war der nicht angespitzt gewesen.
Die Verteidiger trugen leichte Lederschuhe, die wohl aus dem selben Material waren, wie ihr Arm- und Beinschutz. Ihre Bewegungen waren leicht und geschmeidig.
    Weiter kam ich mit meinen Gedanken nicht.
    In tief geduckter Haltung hetzten die Nergds über eine  kleine Anhöhe auf uns zu. Ich erkannte ihre muskulösen, gedrungenen Körper. Ihre Haltung überraschte mich etwas. Sie hatte etwas außerordentlich Bedrohliches. Der Oberkörper war derart nach vorne gestreckt, dass der Rücken mit dem Schwanz eine fast waagerechte Linie bildete. Überhaupt war der lange Rückenfortsatz dieser Nergds viel massiger, als ich es von den Bildern, die ich kannte, in Erinnerung hatte. Offenbar war der Rückenfortsatz beinah so schwer wie der Oberkörper und hielt sich mit diesem etwa im Gleichgewicht, so dass diese eigentümliche Laufhaltung erst möglich wurde. Sie stießen sich derart kraftvoll ab, dass bei jedem ihrer Schritte Dreckklumpen nach hinten geschleudert wurden. Hatte ich als Kind noch gedacht, dass Patros bei unserem spielerischen Trainings einen guten Nergd abgegeben hatte, so war dies mit dieser Erfahrung ein für allemal widerlegt.
Mir war klar, das würde jetzt ziemlich hässlich werden. - Und das wurde es auch.

http://www.mscdn.de/ms/karten/beschreibung_26586-0.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/beschreibung_26586-1.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112058.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112059.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112060.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112061.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112062.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112063.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112064.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112065.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112066.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112067.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112068.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112069.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112070.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112071.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112072.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112073.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112074.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112075.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112076.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112077.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112078.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112079.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112080.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112081.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112082.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112084.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112085.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112086.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112087.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112088.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112089.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112090.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112091.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112092.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112093.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112094.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112096.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112097.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112098.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112099.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112100.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112101.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112102.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112103.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112104.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112105.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112106.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112107.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112108.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112109.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112110.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112111.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112112.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112113.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112114.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112115.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112116.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112117.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112118.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112119.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112120.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112121.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112122.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_112123.png
0

Hörbuch

Über den Autor

weirdblue

Leser-Statistik
12

Leser
Quelle
Veröffentlicht am

Kommentare
Kommentar schreiben

Senden
Zeige mehr Kommentare
10
0
0
Senden

26586
Impressum / Nutzungsbedingungen / Datenschutzerklärung