Kurzgeschichte
Stöcklschuhe

Jana eine bildhübsche 18-jährige Frau mit langen braunen Haaren steht auf dem Schulhof des Oberstufengymnasiums. Mitten unter vielen Freundinnen und Freunden diskutiert sie angeregt. Ihre dunklen Augen strahlen in die Runde, ihr gewinnendes Lächeln berührt jeden.  Sie ist äußerst beliebt und erfolgreich. Man sieht, wie sie sich in ihrem Körper wohl fühlt, es ihr Freude bereitet, sich zu zeigen und auf Stöckelschuhen zu gehen – ihr Leben liegt vor ihr.

Pirmin, Klaus, Silvia und Jana wohnen im demselben Quartier. Nach der Schule stehen sie an der Bushaltestelle und flachsen. Klaus zieht einen Jonglierball aus seiner Tasche und wirft ihn Silvia zu, sie leitet ihn weiter zu Pirmin, der zu Jana und Jana wieder zurück zu Klaus. So geht es immer weiter, immer schneller, immer lustiger…Pirmin kann den Ball gerade noch erhaschen und wirft ihn etwas ungenau in Richtung Jana. Sie streckt sich, verfehlt aber den Ball, will nachfassen, dreht sich, macht einen unbedachten Schritt nach vorn. Ihr Stöckelschuh verfängt sich im Schachtdeckel. Jana fällt auf die Straße, Bremsen quietschen…

Jana liegt benommen im Spitalbett. Sie kann sich an nichts mehr erinnern. Im Zimmer sind viele Klassenkameradinnen und -kameraden. Alle machen ihr Mut. Ein gequältes Lächeln huscht über ihre Lippen. Dann schließt sie ihre Augen und ist wieder allein mit sich selbst…

Chefarzt Dr. Studer betritt das Zimmer. Jana ahnt nichts Gutes. Dr. Studer nimmt sich viel Zeit, erklärt ihr auf einfühlsame Weise, was passiert ist. Jana hört nur die einen Worte: „Sie werden nie wieder gehen können.“

Seither sind viele Jahre vergangen. Jana hat nach und nach gelernt, mit ihrem Schicksal umzugehen. Sie wohnt allein in einer kleinen rollstuhlgängigen Parterrewohnung. Trotz allem kann sie ihren Beruf als Lehrerin am Oberstufengymnasium ausüben. Doch sie ist oft allein. Immer noch gibt es Tage voller Tränen voller Fragen: „Warum nur?“

Jana sitzt in ihrem Rollstuhl am Dorfweiher. Sie hat eine Tüte mit altem Brot dabei und füttert die Enten. Es sind die Stunden, die sie liebt. Sie schaut aufs Wasser, die Sonne spiegelt ihr funkelndes Licht ins Gesicht. Sie fühlt sich gut.
Ein Jogger dreht seine Runde um den kleinen See. Es ist ein 50-jähriger Kaplan, der wie jedes Jahr zu dieser Zeit Urlaub in seinem Heimatdorf macht. Er wirft Jana, die ihn noch nicht bemerkt hat, einen flüchtigen Blick zu und bleibt einen Moment stehen. Dann dreht er ab und läuft geradewegs in ihre Richtung, begrüßt sie mit einem Händedruck und zwei freundschaftlichen Küssen auf die Wangen. „Hallo Jana, schön dich wieder zu sehen. Wie geht es dir?“
„Hallo Pirmin, freue mich! Weißt du, heute geht es mir richtig gut. Ich hatte viele dunkle Tage, aber ich habe in Jesus einen Freund gefunden, der mich begleitet. Erzählst du mir von ihm?“ Pirmin beginnt zu erzählen, ringt nach den passenden Worten aus dem Evangelium und gibt sich alle Mühe.

Jana beginnt zu lachen: „Ach Pirmin weißt du, auf was ich mich am meisten freue? – Wenn  ich einst im Himmel wieder auf Stöckelschuhen gehen darf!“
Nun muss auch Pirmin lachen: „Jana, genau das wollte ich dir doch eigentlich erzählen...“