ARG(E) daneben
Die Wirtschaftskrise war schon fast ein Jahr alt. Und sie hatte mich kalt erwischt - Mich und meine sechs Kollegen. Wir arbeiteten für einen kleinen Betrieb der mit Schrauben handelte, bei uns konnten Kunden Schrauben in allen Größen und allen Gewinden bekommen. Ich hatte das Kleinlager unter mir, es war eine Metallbude in der lose Schrauben aufbewahrt wurden, für Kunden die gerade mal eine, oder ein Dutzend Schrauben benötigten und zwar pronto!
Nun die Banken spekulierten wieder mächtig an den Börsen und ließen den Mittelstand so ziemlich austrocknen. Das Ende vom Lied war, dass ich nach zehn Jahren bei Schrauben- Karl keinen Job mehr hatte. An dem Selbigen bin ich eigentlich nur durch Zufall geraten, als ich mein Abitur auf dem zweiten Bildungsweg machte und einen Teilzeitjob suchte. Irgendwie blieb ich bei Karl. Studium war nicht und so dachte ich mir, halt den Spatz in der Hand und lass die Taube auf dem Dach. (Ist eigentlich schon jemanden aufgefallen, dass es kaum noch Sperlinge gibt?)
Im Sommer durfte ich dann mit vielen anderen mein Brot beim Arbeitsamt abholen. Wobei das ja auch nicht wirklich einfach ist. Mein Chef hatte mich im letzten halben Jahr wieder als Teilzeit mit allen Bezügen eingestellt, er meinte so könne er unsere Jobs erhalten. Hat nicht funktioniert und ich bekam statt ALG 1, ALG2 – Sozialgeld. 345 Euro im Monat, plus Miete. Meine Wohnung war nicht der Regel entsprechend und so musste ich in eine kleinere ziehen, die dann 30 Euro billiger war, aber durch die Fensterritzen und die schlechte Isolierung zahle ich dafür 50 Euro mehr Heizung als in der alten. Aber in der heutigen Zeit ist man ja schon froh, dass man nicht aus Willkür auf der Straße steht. Aber lasse wir das, ich bin keiner der jammert.
Schon bei der Überreichung meiner Papiere und dem Anmeldeformular wurde ich von einer sehr forschen Dame gefragt, warum ich denn nicht studiert hätte, wenn ich schon Abitur gemacht habe? Die erste Antwort, die wohl einfachste war: Ich bekam kein BAFÖG aus Altersgründen und Mama und Papa konnten nicht dafür aufkommen. Sonst fühlte sich auch niemand dafür verantwortlich und da ich einen gut bezahlten Job hatte und eigentlich auch gar nicht mehr wusste, was ich denn studieren solle, ließ ich es bleiben und lebte zehn Jahre in den Tag hinein. Fuhr in Urlaub. Algerien, Tunesien, Ägypten, Kuba, Honduras und Mexiko. Im letzten Jahr wurde es dann nur Spanien, war aber auch ganz nett. Ich schweife wieder ab. Ich fand es trotz Abitur gar nicht so leicht die Fragen auf den Bögen zu beantworten und viele waren auch auf mich nicht zutreffend. Ich passte einfach nicht ins Raster und blieb irgendwo stecken. Als wir es dann endlich geschafft hatten (Also ich und die Herrschaften von der ARGE.) bekam ich noch die Auflage mich bei mindestens zehn Stellenangeboten zu bewerben, was mir jetzt auch nicht viel ausmachte, da ich erst einmal nicht arbeitsscheu bin und die Ausgaben für Bewerbungen auch wieder bekam.
Aber nada!
So vergingen die Monate und eines Tages flatterte eine Einladung in meinen Briefkasten. Man wolle mit mir über berufliche Weiterbildung reden und wie ich ansonsten gedenke meine Situation zu ändern. Ich folgte der Einladung und setzte mich zum ersten Mal in den Warteraum, der mir zugedachten Abteilung, wo ich Kunde war. Ich war ein Kunde. Mann, in anderen Länder hätte man sich wohl gefreut beim Amt als Kunde zu gelten, hier bringt es einem nichts. Wie im Handel ist auch bei der ARGE die Philosophie, dass der Kunde König sei, nicht angekommen. - Was man ja noch beim Arbeitsamt nachvollziehen kann. Ich zog eine Nummer, sah dass ich noch zwanzig Menschen (Kunden!) vor mir hatte und setzte mich auf einen der Plastikstühle. Zwei der im Raum befindlichen waren wie ich, noch einiger Maßen adrett gekleidet und hielten, ebenso wie meine Wenigkeit, Papiere in Folien in den Händen. Die anderen lungerten mehr herum, als dass sie sich auf eine neue Tätigkeit vorbereiteten.
An den Wänden hingen mehrere Zettel mit Stellenangeboten, bei denen man sich Telefonnummern abreißen konnte. Ich riss ein gutes halbes Dutzend ab bis ich fest stellte, dass es sich immer um die selbe Rufnummer handelte. „Oder kommen Sie in den 7. Stock, Zimmer 711 und stellen sich persönlich vor.“ stand daneben. Es war schon seltsam, dass ich der Einzige war, der diese Schnipsel in den Händen hielt, stopfte diese schnell in meine Hosentasche und setzte mich wieder auf den Stuhl. Neben mir saß ein Türke, der sein Gesicht in seine Hände gelegt hatte und schwer atmete, fast seufzte. Die beiden mit den Papieren in der Folie, saßen sehr verkrampft da und zupften hier und da an ihrer Garderobe, man merkte ihnen an, dass sie nicht hier sein wollten. Ein Jugendlicher, mit Immigrantenhintergrund, wo er her kam konnte ich nicht genau definieren, hatte sich die Stöpsel eines MP3-Players in die Ohren gestopft und hörte sehr laut Hip Hop aus Berlin. Zwei Mädchen beide schwanger rieben sich die Bäuche und grinsten dümmlich. Zwei Männer in den Dreißiger unterhielten sich feigsend und nahmen die ganze Situation nicht sehr ernst.
„Ich hab ein Buch geschrieben!“ meinte der dickere.
„Jo, Hemingway stellst du ja auch nicht einfach ans Fließband!“ der kleinere.
„Hi, Hi Picasso schneidet auch keiner ein Ohr ab!“
„Ja, kleines Ohr ist schnell beschrieben – Die Spinner! Als wenn ich noch Zeit hätte einen Job zu suchen...“
Sie lachten. Ich wusste nicht wirklich warum, aber wollte dem Gespräch nicht weiter folgen und schaute in die Schar der Leute die da sonst noch saßen. Eine wirklich sexy Lady mit Piercing und Bauch frei, die mir die ganze Zeit Blicke zuwarf, zwei Russen von dem der eine auf gebrochenem Deutsch erklärte, dass er in Bulgarien Urlaub gemacht habe und nun Ärger bekommen werde, der andere bewegte wegwerfend die Hand und meinte, dass sie ihm deswegen schon nicht den Kopf abreißen würden. Eine ganze Gruppe junger Männer die breitbeinig da saßen und degeneriert die Wände anstarrten und ein Typ um die Vierzig dessen Gesicht die Farbe von guten Grauburgunder angenommen hatte. Er atmete schwer und roch stark nach Schweiß. Die Frau neben ihn beäugte ihn angewidert.
Aus einer Tür kam ein Schlipsträger heraus, mit einigen Unterlagen. Er blickte abgestoßen in unsere Menge, als seine Augen auf dem Trinker hängen blieben. „Herr Berger, Sie sehen ja wieder aus? Mann! Das geht aber nicht jedes...“
„Ach komm halt' s Maul Maier! Hab die ganze Nacht gesoffen wie ein Loch und gefickt wie ein Stier! Is ja kein Urlaub hier! Also mach die Schnutt zu du Kasper. Sag mir lieber warum meine Alte kein Geld mehr von euch kriegt! Und warum muss ich hier immer warten?“
Der Mann mit dem Anzug klemmte sich die Unterlagen in die Achselhöle und meinte: „Na, dann kommen Sie mal mit, dann haben wir das erledigt.“
Murren aus den Mündern der Anwesenden, was ich mit fragenden Augen benotete.
„Der kam erst kurz vor Ihnen hier an!“ erklärte die Frau ungefragt.
Ich nickte.
DING!!!DONG!!!
Die Nummer auf der Anzeigetafel wechselte und mein Trommelfell wollte sich verabschieden. Jede Dorfdisco, die sich erdreistete, ihre Anlage auf die Lautstärke dieser Anzeigetafel zu stellen, würde ihre Lizenz verlieren.
„Verdammt!“ schnaufte ich und rieb mir die Ohren.
„Is ja kein Urlaub!“ Einer der Schriftsteller verfiel in schrilles Gelächter.
Ich stand auf und begab mich auf die Toilette. Das Mädchen mit dem Piercing stand ebenfalls auf und wollte sich wohl auch erleichtern. An der Türe zupfte sie mir an meiner Jacke. Ich drehte mich um und schaute sie fragend an.
„Für fünfzehn Euro lutsche ich dir das Hirn aus dem Kopf!“
Ich verstand nicht.
„Guck nicht so blöd! Ich brauch die Kohlen. Und wenn du keine hast, motz' dich nicht so auf, Kerl!“ Kopfschüttelnd ließ sie mich stehen und ich ging pinkeln.
Was war denn passiert? Noch vor einem Jahr hatte ich einen Job ging in Bars und Restaurants, führte hier mal eine Frau aus und ging da mal in ein Tanzlokal. Nun war ich damit beschäftigt einen neuen Job zu suchen, löslichen Kaffee zuhause zutrinken und die Tageszeitungen durchzuwühlen. Wieso hatten diese Leute ihren Sinn im Leben verloren und vegetierten so vor sich hin? Es gab Durststrecken, aber nach jedem Tunnel kam wieder Licht. Ich wusste, ich würde nicht so werden, ich würde die Auszeit nutzen und mich weiterbilden. Ich würde schon wieder einen Job finden, wenn die Krise vorbei war. Ganz sicher! Ich war positiv. Positive Menschen kommen immer weiter.
Als ich wieder in dem Warteraum trat, saß auf meinem Stuhl ein Riese. Sein Gesicht sah aus, als hätte er die ganze Nacht mit Brad Pitt im Fight Club verbracht. Sein Nacken hatte die Ausmaße eines Bisons, seine Hände waren Schaufeln, deren Finger aufgerissen waren und sein linkes Auge leuchtete tief violett. Nur noch der Platz neben ihm war frei. Ich setzte mich und streifte seine Schulter und schaute ihn entschuldigend an. Der Koloss lächelte, ihm fehlten eine Menge Zähne und seine blutverkrusteten Lippen vibrierten als er flüsterte: „Nicht schlimm!“
Ich nickte.
DING!!!DONG! Die nächste Nummer!
Der Riese zuckte kurz, aber heftig, dabei fiel ich fast von meinem Stuhl. Der Kleinere der Autoren lachte und rief : „Ring frei!“
Mein Sitznachbar hielt meinen Sturz auf und und lächelte verlegen. „'Tschuldige.“
Seine Stimme klang stark nach der Stimme von Edgar Ott, der unter anderen Benjamin Blümchen spricht. „Ich lass mir jeden Abend für fünfzig Euro die Schnauze polieren. Das Ding hier klingt fast wie unser Gong“
Wieder dieses kindliche Lächeln.
„Schon okay, nichts passiert!“ sagte ich und versuchte mich aus der Umarmung zu befreien.
Am Ende des Ganges ging eine weitere Türe auf und eine Frau mit afrikanischen Wurzel verließ mit einem Kinderwagen den Raum. Sie hatte Tränen in den Augen. „Was soll ich denn machen? Mein Mann ist ge.... - tot! Bei der Arbeit! Niemand hilft uns! Ich bin Deutsche! Hier geboren ich habe Rechte und sie sagen, solange die Aktenlage...Mein Mann ist tot...“
„Bleiben Sie bitte ruhig Frau Schlüter. Um Ihren Mann tut es mir Leid, aber wenn Sie nicht Ihrer Bürgerpflicht nachkommen, dann kann ich Ihnen auch nicht mehr helfen. Gehen Sie bitte...“
DING!!!DONG!!!! Die nächste Nummer.
Wie ein Berserker stand der große Mann neben mir auf, stürzte an den Kinderwagen vorbei und packte sich den Sachbearbeiter. Seine riesige, rechte Faust verbeulte das Gesicht seines „Gegners“ und Blut lief aus der Nase und dem Mund.
„Sollst du so mit Frauen um gehen?“ fragte der Schlagende, als würden sie sich nett bei einem Kaffee unterhalten. „Sie ist eine Mutter und hat ihren Mann verloren!“
„Hilfe!“ schrie der Schlipsträger.
Ohne darauf zu achten dreschte der Hüne weiter auf sein Opfer ein. Die beiden Schriftsteller lachten und meinten, dass heute ja wieder mal was los sei. Irgendwo hatte ein Kollege des Geschlagenen wohl einen Knopf gedrückt. Wachpersonal in schwarzen Hosen und weißen Hemden tauchte auf und schrien den Mann an, sein Opfer los zu lassen. Der Boxer sah sie erstaunt, dann wütend an. „Wir sind Menschen! So behandelt man keine Menschen!“
Die Männer von der Security näherten sich langsam dem bärähnlichen Riesen. Einer hatte einen Elektroschocker dabei, zweifelte aber wohl ihn einzusetzen. „Hör zu Großer! Die Polizei kommt jetzt. Sie werden dich mitnehmen und du wirst jetzt schön ruhig werden!“
„Warum denn?“ Er ließ sein Opfer los. „Wir wollen doch nur … einen … Leben!“
Er sackte auf die Knie und Tränen rannen seinen Wangen herunter. Dann sprang er auf und hämmerte den Mann mit dem Schocker neben mir an die Wand. Sein Kollege griff ihn von hinten an, legte seinen Arm um den Stiernacken und zog den Riesen von seinem Kollegen weg. Das Ganze dauerte keine Minute. Schritte erklangen und die Polizei war schon da um die beiden Männer von der Security zu unterstützen. (Wenn irgendwo, irgendwas passiert braucht es Stunden, bis die Cops kommen, hier schien der Staatsapparat mal zu funktionieren.) Sie legten ihm die Acht an und führten ihn raus.
Viele der Wartenden verließen den Warteraum, einige wurden nach Namen und Anschrift gefragt, für eine spätere Zeugenaussage. Mich fragte keiner. Ich blieb.
Die Nummern liefen ohrenbetäubend herunter, vor mir waren nur noch die beiden Schreibenden, der Dicke stand auf und fragte das Fräulein hinterm Tresen, ob man auch mit der anderen Nummer ran käme, da nur noch drei Personen von über zwanzig warten würden.
„Man muss sich schon an die Regeln halten!“ meinte sie nur knapp.
Als die Beiden dann zu ihren Vermittlern geschickt wurden, war dann endlich ich dran.
„Tut mir Leid Herr Wegmann, aber Ihr Vermittler ist Heute verletzt wurden, so schnell konnten wir Ihren Termin natürlich nicht absagen ...“
„Ich war hier, warte ja schon seit einer Stunde ...“
„Tut mir Leid!“ Sie schaute nicht einmal von ihrem Computer auf. „Sie hören wieder von uns!“
DING!!!DONG!!! Die nächste Nummer. Wahrscheinlich die des Riesen...