Kurzgeschichte
Doppelter Herbst

Die kleine Samara saß auf Großmutters Schoß und schwelgte in ihren Geschichten:

Es war Herbst geworden. Ich spazierte gemächlich durch den buntverfärbten Wald, hielt einen Moment inne und schaute in die hohe Krone einer alten knorrigen Buche hinauf. Plötzlich vernahm ich im Rauschen der Blätter die Stimmen der Farben.
Schluchzend: „Ich bin das Grün der Jugend und muss mich immer mehr verabschieden.“
Bestimmend: „Ich bin das Gelb und strahle meine Reife in die Welt hinaus.“
Heiter, besonnen: „Ich bin das Rot der Liebe. Bald werde ich von den Bäumen herunter tanzen, mich überall verteilen, und Nahrung für die Jugend sein.“
„Ja – längst bin auch ich nicht mehr grün“, ging da ein leises Seufzen über meine Lippen. „Bin überreif, trage so viel Liebe in mir. Auch ich will sie verteilen und Nahrung für die Jugend sein.“

„Wie, Oma?“ unterbrach Samara ganz aufgeregt. „Du bist doch keine Nahrung. Ich kann dich doch nicht essen!“
Über Omas Gesicht huschte ein Schmunzeln: „Mein liebes Pfunzelchen, natürlich kannst du mich nicht mit Messer und Gabel essen. Aber wenn ich dir meine Liebe schenke, ist das Nahrung für deine Seele, für dein Leben.“ Die Großmutter drückte Samara an sich und gab ihr einen dicken Kuss auf die Stirn.

Samara strahlte: „Oma in mir wird es ganz wonnig warm! Wie schön, dass der Herbst auch bei dir eingekehrt ist, deine Liebe mich umtanzt und ich dich genießen darf!“