Kurzgeschichte
Herbst im Wald

HERBST IM WALD

Seit einiger Zeit machen mein Mann und ich nach dem Frühstück einen Morgenspaziergang in den nahen Wald.

Leise rauschen die buntgefärbten Blätter an den Bäumen. Ein Specht hämmert ohne Unterlass, und ein Eichelhäher lässt seinen Warnruf erschallen. Aus dem Unterholz flieht ein aufgescheuchtes Reh, während Eichhörnchen unbekümmert und emsig Vorräte für den nahenden Winter sammeln. In spielerisch anmutender Akrobatik springen sie von Ast zu Ast, von Baum zu Baum.

Franz und ich bleiben stehen und sehen diesem Treiben ein Weilchen zu. Wir lassen die friedliche Atmosphäre dieses Ortes bewusst auf uns wirken.

Dann gehen wir langsam weiter.

Unter unseren Füßen raschelt herabgefallenes Laub. Die Baumkronen bilden ein buntes Dach, durch das in schrägen Streifen die Sonne fällt, den Wald verzaubert und bizarre Muster auf die Wege malt. Spinnennetze, die in den Zweigen hängen, funkeln wie feinstes Silberfiligran, sobald ein Sonnenstrahl sie trifft.

Ich liebe es, mich auf einen Baumstumpf oder in das Gras zu setzen und dem tanzenden Licht zuzusehen. Die majestätische Größe dieser Waldesruh nimmt mich gefangen. Abschalten! Die Ruhe spüren, die Stille hören, unterbrochen nur von den Geräuschen, den Stimmen des Waldes.

Ganz sachte schweben welke Blätter zu Boden. Der herbe Geruch des vermodernden Laubes steigt in unsere Nasen und erinnert uns an die Vergänglichkeit aller Dinge und das Vergehen in der Natur.

Herbst im Walde! - Das Herz wird ein bisschen wehmütig im Angesicht des sanften Sterbens rundum. - Und doch sieht man schon man schon wieder junge Knospen an Büschen und Bäumen, die auf den nächsten Frühling warten.

Tod? - Nein! Es ist ja nur ein Schlafen, ein Ausruhen, ein Kräftesammeln.

Man fühlt die göttliche Ordnung in allen Dingen, im Wald, in der Natur und in einem selbst. Da werden unsere Sorgen recht klein und unbedeutend. Friede und Dankbarkeit erfüllen uns.

Manchmal nehmen wir uns in stummen Einverständnis bei der Hand und sprechen kein Wort. An den gelösten Zügen meines Mannes kann ich sehen, dass auch er der eigenen Stimmung des Waldes erlegen ist.

Wenn wir durch eine Lichtung ins Freie treten, liegt ein weites Feld vor uns. Am Waldesrand stehen einige Bänke, die uns zu einer kurzen Rast einladen. Hin und wieder wechseln vom Acker Rehe in das Dickicht hinter uns. Vor uns liegt verträumt in einer Niederung unser kleines Städtchen.

Langsam lösen wir uns und wandern zufrieden nach Hause, um unser Tagwerk zu beginnen.

( C )   I.  H.   2002