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Prag, 1218
„Bischof Friedhelm? Da vorn. Er ist im Beichtstuhl.“ Der Mönch wies dem netten jungen Mann den Weg durch das Nebenschiff zu dem hölzernen Beichtstuhl im vorderen Teil der Kirche. Die dicken, romanischen Säulen verdeckten den Blick auf den Altar, aber es gab da auch nicht viel zu sehen. Es war kein Gottesdienst, und die wenigen Anwesenden waren entweder Mönche oder arme Sünder, die ihre Verirrungen dem geistigen Vater, der wieder einmal zu Besuch war, beichten wollten. Vielleicht hofften sie, daß er sie nicht verstehen könnte- auch wenn bekannt war, daß er dem Böhmischen nicht fremd war. Die langjährige Freundschaft zum ehemaligen Bischof Marzik hatte auch nach dessen Tod einige Vorteile gebracht- schließlich war der Bischof ein einflußreicher Mann im Vatikan. Und eigentlich waren sie ja alle Deutsche- nur hatten sie eine andere Sprache, was nicht ungewöhnlich war.
„Mein Sohn- was bedrückt dich?“ Der Bischof wandte sich in freundlichem, wenn auch gelangweiltem Ton an sein Gegenüber.
„Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll, Vater. Vielleicht damit, daß ich mich so fühle, als sei etwas in mir, daß da nicht hingehört. Etwas, daß nur da ist, weil ein Mann der Kirche einen Fehler begangen hat.“ Aeon wartete absichtlich, sodaß der Bischof ihn schließlich ansah, als ihm bewußt wurde, was der junge Mann gesagt hatte.
„Was meint ihr?“ Der Bischof klang unbehaglich. Aeon genoß diese Situation. Er hatte endlich den Richtigen gefunden- den, der sich seit Jahren vor ihm verstecken konnte- auch wenn derjenige es vielleicht nicht einmal wußte. Aber mit Sicherheit hatte er einen Namen gehört- und wußte ihn zuzuordnen.
„Wißt ihr- es gab da einen Mann, den ich traf. Er hieß, glaube ich- Kruschov. Sicherlich habt ihr noch nie etwas von ihm gehört. Oder vielleicht doch- er wurde damals auf dem Besitz des alten Bischofs von Prag niedergemetzelt.“
„Wer seid ihr?“ flüsterte der Bischof ängstlich. Nun kam es alles heraus. Dieser Mann hatte eine Ahnung davon, was sie damals getan hatten, Das sie einen Mord angeordnet hatten. Weil der Magier etwas wußte, was sie geheim halten wollten. Das Mädchen. Dieser Dämon. Sie hatte ihm nur Probleme gemacht- und nun, nach all den Jahren würde sie doch noch frei werden und die Welt vernichten, wenn dieser Mann wirklich alles wußte.
„Nun- seht mich an, Vater- wer bin ich?“ Aeon lachte leise und verwandelte sein Gesicht in das Wesen, was ihm anfangs selbst Angst gemacht hatte. Die roten Adern, die an seinen Schläfen entlangliefen, pulsierten durch seine innere Freude auf die endgültige Rache. Er war ein Wesen wie sie- mit hohen Wangenknochen, durchdringendem Blick und hoher Stirn, die in Knochenwülsten nach hinten verlief und die Mähne von leuchtend silbernem Haar in einer Art Schweif hielten. Die bläuliche Haut ließ ihn kalt und unnahbar wirken. Aber so wie bei ihr war der Menscheneinfluß nicht zu verleugnen. „Ich sage es euch- ich bin der Teufel- und ich bin gekommen, euch zu holen!“ Er lachte wieder leise ob der angstverzerrten Fratze des Bischofs, die maskenhaft erstarrt war, selbst als er sich zurückverwandelte.
„Nein! Das kann nicht sein! Ihr irrt euch- ich habe nichts damit zu tun!“ wehrte sich der Bischof verzweifelt. Einer der Fünf- das mußte es sein- aber welcher? Oder war er gar ein weiterer Dämon- neu erstanden durch diesen Zauber, den die Hexe leider nicht mit ins Grab genommen hatte?
„Ach- wißt ihr- wir von da unten irren uns nie. Also hört auf, zu zittern und laßt uns lieber reden- aber nicht hier. In der Sakristei. Lauft schon mal los. Oder soll ich euch helfen?“ Dem Bischof schwandte sein letztes Stündchen und er erhob sich mechanisch. Deutlich spürte er die Anwesenheit des Dämons hinter sich. Was sollte er nur tun? Wenn dieser Dämon in die Kirche gelangen konnte, würden ihn keine Machtinsignien davon abhalten können, ihn zu töten. Er mußte es wohl tun- er würde den Kampf mit seinen eigenen Taten aufnehmen müssen- mit seiner Vergangenheit. Auch wenn er diesen Dämon nicht erschaffen hatte, spürte er, daß dieser ihn dafür verantwortlich machte. Und das war nicht alles, was er wollte- er wollte Rache- aber nicht für sich.
Feste Marzik 3. Mai 2217
„Zeth- der Alte hat angerufen- sie sind sich nicht mehr sicher über den Zustand der Figur. Wir sollen vorsichtig sein.“ Der Teamleiter der Bergungsaktion funkte es zu den Hilfskräften am Eingang des alten Verlieses durch.
„Klar- wieso auch einfach?“ fluchte Zeth und ging zu dem Teamleiter. „Habt ihr alles geklärt?“ fragte er leise, damit niemand es hören konnte.
„Ja. Sie wird ins Labor gebracht. Ehe der Alte entdeckt, daß sie bei uns ist, wird sie erwacht sein und uns gehören.“ Frank grinste breit und machte weitere Anweisungen. Die Helfer durchbrachen soeben die Mauer und achteten darauf, daß kein Stein nach innen fallen konnte und die Figur womöglich beschädigen. Überall waren Wurzeln, die sich ihren Weg ins Innere gebahnt hatten. Es war nicht einfach, das ganze Gewächs zu beseitigen, um in die Tiefe zu gelangen.
Zeth nahm seine Lampe und leuchtete in das Dunkel hinab. Deutlich erkannte er sie.
„Schönes Stück- würde sagen- ein Meister seines Faches.“ bemerkte ein Helfer.
„Das ist ein Dämon, keine Steinmetzfigur.“ bemerkte Frank trocken.
„Oh. Hübscher Dämon.“ Der Helfer zuckte mit den Achseln. Es war ja eigentlich egal- er war aus Stein- also konnte er ihnen wohl auch nichts tun. Die Sache mit dem Beschwören, Wiedererwecken und was auch immer machten andere Leute- er war fürs Grobe zuständig.
„Seile runterlassen. Und vorsichtig- ich will nicht, daß sich die Dame beschwert, wir hätten ihr einen Fingernagel abgebrochen!“ Frank sah in dem Moment den unruhigen Ausdruck in Zeth´ Augen. Er war angespannter als sonst. Sie arbeiteten schon lange zusammen für den alten Herrn- aber diesmal ging es wohl um mehr. Diese Figur- der Dämon bedeutete etwas Gigantisches. Ihn in seiner Macht zu haben mußte für Zeth sehr wichtig sein- schließlich hatte er etwas angeordnet, daß nur auf Eines hinauslaufen konnte- den Betrug an Katuri, dem Auftraggeber. Lucilla sollte in das Labor gebracht werden- ein geheimes Labor, von dem Katuri nichts wußte, und in welchem Zeth unter anderem Tests machte, wie man Dämonen vermehren könnte- ganz legal von höchster Stelle abgesegnet. Katuris offensichtliches Desinteresse für die Methoden der modernen Welt waren ihnen schon immer von Nutzen gewesen, wenn es um ein wenig Mehr für sie und ein bißchen Weniger für den Obersten der Dämonenhändler ging.
Zeth ließ sich nach unten und stand nun vor der Figur, die ihm die Macht bringen würde, die er begehrte.
„Lucilla Fertoit. Schöne, gefährliche Hure des Kardinals Raymond de la Plague. Willkommen im Jahre 2217. Ich hoffe, sie hatten einen angenehmen Schlaf.“ Er trat ganz nah an sie heran und sah ihr ins Gesicht. Etwas Faszinierendes ging von ihr aus. Sie war wunderschön, wie sie da hockte und auf ihre Befreiung wartete.
„Zeth?“ flüsterte Frank, der ihm gefolgt war, leise und deutete angespannt auf ihre Hand. Ein dünner Blutfaden rann aus ihrem Unterarm. Es war warmes, lebendiges Blut. Zeth war sichtlich irritiert, wollte sich aber vor den Arbeitern nichts anmerken lassen und bückte sich, um es wegzuwischen. Er band vorsichtshalber sein Taschentuch darum und deutete an, daß das nur ein Scherz sei, um Katuri zu ärgern. Wenn es darum ging, den ernsthaften alten Herrn zu veralbern, und seine ehrfurchtsvoll gehüteten Dämonen zu verschandeln, waren alle dabei.
„Alles klar- bringen wir sie nach Hause. Los geht´s.“ Zeth wollte locker klingen- und es gelang ihm auch ganz gut- nur Frank merkte, wie es in seinem Chef wirklich aussah. Er hatte Angst vor ihr- wenn sie schon am Erwachen war, konnte das Probleme geben. Was, wenn sie beim Flug erwachte- es war zwar ein Speedfly, der sie in weniger als 2 Stunden nach Toky brachte- aber das war lange genug, um aufzuwachen und alles auf den Kopf zu stellen, um anschließend in herrenlosem Flugzeug irgendwo über der russischen Tundra abzustürzen. Und darauf legte keiner von ihnen Wert.
„Ich sag dem Chef Bescheid.“ bemerkte Frank und machte sich auf das Donnerwetter gefaßt. Sie hatten angedeutet, daß sie sich melden würden, wenn sie sie hätten- und nun müßte er Katuri erklären, daß sie sie nicht vorgefunden hätten. Der Flug war von ihnen organisiert worden- und Katuri vertraute ihnen zu 100 Prozent. Er würde nicht gleich herausfinden, daß es den Transport wirklich gegeben hatte. Einziges Problem war dieser Inspector, der anscheinend alles wußte und Katuri in den letzten Monaten beraten hatte. Die Freundschaft der Beiden war Zeth ein Dorn im Auge- schließlich hatte er seine gute Stellung verloren und wurde nun nur noch herumgescheucht, während die Beiden sich lustige Tage im bequemen Toky machten. Aber diesmal hatten sie die Rechnung ohne ihn gemacht!
Toky 4. Mai 2217
„Dad- der Vollidiot ist schon wieder da.“
„Miaki! Er hat erstens einen Namen und zweitens ist Gary ein Freund der Familie und drittens hat er mehr Grips, als ich das von meinen Kindern jemals erwarten könnte!“ Makushi konnte die Meinung seiner Kinder nicht teilen. Gary war wie er- aber das war wohl das Problem- sie waren in den Augen der Jugend alte Männer. Obwohl Gary doch 15 Jahre jünger als er war.
„Okay- Mister Personality Gary Milton. Heute in Kackgrün mit klassischem Mausgrau- Stylingnote null. Hey- Gary- in welchem Jahrhundert waren die Klamotten eigentlich in? 16.?“
„Wenn du deinen kleinen, gestylten Rübenkopf mal in etwas anderes stecken würdest als in die HumansStyle, dann würdest du vielleicht verstehen, das modische Verrenkungen wie dein rosarotes Mini- Petticoat nicht alles sind im Leben.“ Gary beugte sich zu ihr und tat besserwisserisch. Nein- die Kleine war eigentlich okay- sah man mal von ihrem Kleinhirn ab, daß sich genau um drei Dinge drehte- Jungs, Klamotten und wie man B bei A am schnellsten ausziehen konnte. Aber wenigstens lag sie damit im einigermaßen legalen Bereich- was nicht hieß, daß er ihre Freizügigkeit und vor allem Freizüngigkeit auf diesem Gebiet befürwortete. Da machte er sich um das männliche Pendant in der Familie eher Sorgen. Judic war eine Gefahr für sich selbst und jeden, der ihm zu nahe kam.
„Was?“ Makushi brüllte den Helfer per Satelit wütend an. Es gab wohl schlechte Neuigkeiten.
„Das klingt nach Ärger.“ murmelte Miaki und verzog sich gleich erstmal. Sollte der Schlauberger das ausbaden- er hatte es auch angezettelt. Und wenn Dad böse war, ging man ihm aus dem Weg.
„Das kann nicht sein. Wie soll sie da raus gekommen sein? Es war kein Scherz von irgendeinem Wichtigtuer- ich habe doch nicht Jahre meines Lebens dafür investiert, daß ihr mir jetzt sagt: Hoppla- da war kein Gargoyle! Ich will sie hier sehen- tut was. Es muß sie geben!“ Er schlug mit der Faust auf den Verbindungsknopf.
„Sie war nicht da? Das ist nicht möglich.“ Gary verstand gar nichts mehr. Etwas in ihm sagte, daß da etwas faul war- sie mußte da sein- woher er das wußte, war ihm nicht klar- aber es gab keine andere Möglichkeit.
„Gary- denk genau nach- woher ahntest du damals, daß ich das Buch brauche? Woher, daß du mir den Tipp mit dem Vatikan geben mußt? Da warst du ganz anders- du warst erst wie Gary, als wir uns in der letzten Zeit angefreundet haben. Ich hätte damals schwören können, einen Dämon vor mir zu haben.“ Fremde waren ihm schon immer suspekt gewesen- aber Gary war eine Liga für sich- er gab es nur ungern zu- aber er war seiner Intelligenz verfallen. Endlich Jemand, der ihm noch etwas Neues erzählen konnte. Aber Gary dürfte nie von seinen Vorlieben erfahren, die er selbst erst vor wenigen Jahren entdeckt hatte. Wer würde schon akzeptieren, daß der Dämonenhändler Nummer eins nicht nur an Frauen Interesse zeigte? Schon für seine Kinder würde er schweigen- denn Bi zu sein war in dieser Welt gleichbedeutend mit Massenmörder- oder so ähnlich. Und Gary schien keinerlei Ambitionen zu irgendeiner Form von Gefühl zu zeigen- nicht einmal gegenüber sich selbst!
„Ich weiß es nicht. Ich weiß überhaupt nichts mehr. Ich kann mich ja nicht einmal daran erinnern, jemals ein Kind gewesen zu sein! Ich war einfach eines Tages da.“ Er schlug mit der flachen Hand gegen die Scheibe. Was immer er war- es hatte etwas mit ihr zu tun. Und wenn er nun doch Aeon-?
Das konnte nicht sein. Was brachte es ihm, daß er nicht wußte, was früher war?
„Auch wenn du es nicht einsiehst- du bist Aeon- oder irgendetwas ist in dir, was ihm entspricht. Er bricht vielleicht erst aus, wenn sie wieder da ist.“ Freundschaftlich legte er die Hand auf seine Schulter. „Wir werden sie finden. Da ist noch nicht das letzte Wort gesprochen.“ Schnell nahm er die Hand wieder weg, als sein guter Freund ihn seltsam musterte. Hatte er ihn etwa durchschaut?
„Ist sie nicht wunderschön?“ Zeth betrachtete die Statue, die man ihm auf den Tisch gestellt hatte und die nun bald erwachen würde. Vorausschauend auf einen möglichen Ausbruchsversuch standen mehrere Helfer mit Elektroschockern und Lasern da. Sie kannte alte Waffen- aber wie würde sie mit den Neuen fertigwerden? Ihre Verwirrung würde zumindest reichen, um sie erstmal in Gefangenschaft zu bringen.
„Kleines, dummes Ding. Hast dich einfach so in einen Kardinal verliebt. Tsts- das tut man doch nicht. Aber du wirst jetzt für die Richtigen arbeiten.“ Er betrachtete sie eingehender- sogar ihre Wimpern waren versteinert, auch wenn es fast so aussah, als wäre es keine feste Hülle mehr, die sie umgab, sondern etwas Schwindendes, daß ihre Haut überdeckt hatte.
„Zeth?“ Frank wirkte plötzlich unruhig. Aber sein Chef reagierte nicht. Er starrte ihr weiter in das verschlossene Gesicht.
„Eigentlich schade, daß der alte Herr dich so nicht sehen kann.“
„Zee-thh!“ zischte Frank neben ihm. „Ihre Hand!“ Er starrte auf die Finger, die sich langsam öffneten und schlossen.
„Oh.“ Es war das Letzte, was er sagen konnte. Die eiskalte Klaue packte ihn am Hals und hassverzerrte Augen starrten ihn direkt an. Er spürte, wie sie sich aufrichtete und er in die Luft gehalten wurde. Mit einem unmenschlichen Fauchen warf sie ihn von sich und gegen die Scheibe. Dann breitete sie augenblicklich ihre Schwingen zu voller Größe aus und stürmte los- der Freiheit entgegen. Sie wollte abspringen und in den Nachthimmel entfliehen- aber die bruchsichere Scheibe gebot ihrem Ausbruch ein jähes Ende. Sie knallte mit voller Wucht dagegen und sank zusammen. Ihre Nase blutete kurz, und als sie sich aufrichten wollte, sah sie sich von seltsam gekleideten Menschen mit langen Stöcken umgeben. Sie stießen zu und etwas Kribbelndes durchlief ihren Körper. Sie sackte zusammen, als das rote Licht auf sie traf und ihr Fleisch verbrannte.
Prag 1218
„Was ist sie? Was bin ich?“ Aeon packte den Bischof am Schlafittchen und drückte ihn gegen die Wand.
„Was du bist, weiß ich nicht.“ Oder besser gesagt- ich weiß es- aber ich werde es dir lieber nicht verraten- noch nicht.
„Was ist sie?“ knurrte der junge Dämon ihn an.
„Eine Kriegerin. Im Namen Gottes.“ quetschte Friedhelm hervor.
„Warum sieht sie so aus?“ Er würde nie dieses Gesicht vergessen- dieses Leid, was man ihr angetan hatte. Aber warum er lebte und sie aus Stein war- es gab wohl nur noch Einen, der ihm das sagen konnte.
„Du meinst, warum sieht sie so aus und du nicht? Der Zauber war wohl nicht der Rechte- wer weiß.“ Der Bischof gewann wieder Boden unter den Füßen und fühlte sich etwas sicherer. Vielleicht wollte dieser Verrückte nur reden. Seit wann reagierte er eigentlich so unverfroren auf die Saat der Hölle? Er mußte sie alle ausrotten- aber innerlich wußte er, daß dies hier nicht der rechte Augenblick war- dafür war dieses Biest zu stark. Wer immer ihn geschaffen hatte- und es war wohl zweifelsohne Kruschov, der über das nötige Wissen verfügt hatte, wollte, daß er lebte. Die Anderen von ihnen waren nicht mehr auffindbar- vielleicht waren sie gestorben. Dumm genug dafür waren sie- schließlich konnten sie nie richtig mit der ihnen gegebenen Macht umgehen. Friedhelm wußte nicht alles darüber, nur so viel, daß Kruschov nicht zum ersten Mal einen vollkommenen Krieger erschaffen hatte. Doch Levia hatte versagt. Er war so dumm gewesen, sich am Tage zu verwandeln- und zerschellte auf dem harten Pflaster in tausend steinerne Stücke, als er von der Turmspitze stürzte. Aber dieser Vorfall war als Unfall beim Bau der Kirche abgetan worden. Einer der Wasserspeier sei heruntergefallen. Zu dumm nur, daß er nicht wußte, wo die steinernen Überreste hingebracht wurden- denn er hatte eine böse Ahnung. Er hatte sich Raymonds Kopf gut angesehen. Marzik hatte ihm nie verraten, wer die unschöne Sache für sie erledigt hätte-aber der glatte Schnitt sprach eine eigene Sprache. Es war das Schwert eines Kriegers gewesen, daß ihn geköpft hatte. Eines erfahrenen Kriegers. Wer immer es gewesen war- er lebte wohl noch und könnte gefährlich werden, wenn Friedhelm nicht einen Weg fand, sich vor ihm zu schützen.
„Ausserdem ist sie eine Frau. Ich bin mir sicher, daß es nur daran liegt, daß es ihre innere Häßlichkeit zeigt.“dachte er weiter laut nach. Das war es wohl- sie war eine Frau- und Gott wollte nur Männer in seinen Diensten. Sie taugte nicht dazu- sie war unrein- von der Lust besudelt und deshalb zu diesem Wesen geworden. So konnte man es durchaus glauben, wenn man nicht wußte, daß der Zauber beeinflußbar war. Aber sein Gegenüber wußte rein gar nichts von all dem- da war er sich sicher. Ein verwirrter, junger Gargoyle, den Kruschov als letzte Tat erschaffen hatte -sozusagen.
„Jetzt hört mir mal gut zu- ich will, daß ihr sie befreit! Sie ist mit Sicherheit zu Unrecht das geworden, was sie ist!“ Junges, dynamisches Blut- der Bischof mußte sich ein Lachen verkneifen. Dieser Krieger kämpfte doch gegen Mächte, die er nicht einmal kannte!
„Ach- wißt ihr denn, wer sie ist?“ Die Karten gingen an ihn- nun konnte er bestimmen, wohin diese Unterhaltung führen konnte.
„Nein. Aber das tut nichts zur Sache.“
„Ich denke schon, daß es wichtig ist, daß du es erfährst. Ich nehme an, Kruschov hat dich geschaffen. Zu dumm, daß dein Meister nun tot ist. Er hätte dir vielleicht etwas anderes erzählt- irgendein Märchen, daß du sie beschützen sollst oder was auch immer. Er konnte dich vielleicht erschaffen- aber er und alle anderen, die der Magie mächtig sind, können ihren Zauber nicht aufheben. Gott hat sie gestraft, nicht wir Menschen.“
„Wer ist sie?“ flüsterte Aeon leise. Er wollte nicht glauben- aber er tat es. Wenn sie wirklich so schlecht war, konnte diese Strafe nur richtig sein.
„Eine Hure. Nichts weiter als eine Hure, die sich auf teuflische Weise und mit dessen Einfluß Macht über einen Kardinal verschafft hat. Sie hat ihn zu Dingen verführt, die du dir nicht einmal vorstellen kannst. Was immer du in ihr siehst- sie hat dadurch schon Einfluß auf dich gewonnen. Sie hat den bösen Blick- sie kann dich verhexen. Stell dir vor, sie hat den Kardinal getötet- nur durch ihren Wunsch dazu. Und wenn sie jemals freikommen wird, dann errichtet sie die Herrschaft des Teufels auf Erden.“ Ach- ihr Leichtgläubigen, dummen kleinen Seelen- es war so einfach, dem Volk Angst zu machen- und dieser Dämon sog alles auf und hielt es für wahr. Er war nur erwählt worden, weil Kruschov ihn hatte lenken wollen- aber dazu war es nicht mehr gekommen und nun irrte der Blinde durch die Welt und suchte seinen wahren Vater.
„Ein Wiederspruch in sich.“ bemerkte Aeon wie nebenbei. Friedhelm fuhr herum.
„Was?“
„Ihr sagtet erst, sie sei eine Kriegerin im Namen Gottes. Jetzt ist sie eine Hure des Teufels. Auf welcher Seite steht ihr eigentlich? Ich hoffe, beim jüngsten Gericht könnt ihr euch entscheiden- denn Gott fällt in solchen Dingen mit Sicherheit eine Entscheidung, die euch das Tanzen im Feuer lehren könnte!“ Er war doch nicht so dumm- sondern verdammt gerissen. Das hatte Friedhelm nicht erwartet.
„Willst du Dämon mir mit der Hölle drohen? Du bist wie sie- schlecht im Keim und absolut verachtenswert. Was war deine Sünde? Gott straft euch alle! Ihr seid besessen vom Fleisch, schmutzig von der Lust. Eure Strafe ist die ewige Verdamnis.“ geiferte er wie besessen.
„Wißt ihr was? Eure Ausführungen über Gott und seinen Willen langweilen mich. Ich kenne ein paar Dinge, die mir mit Sicherheit mehr Spaß machen werden- wie es um euch steht, kann ich nicht beurteilen.“ Er zog gekonnt sein Schwert und hielt es dem Bischof ans Kinn. Ein diabolisches Funkeln erstrahlte in seinen Augen. Was immer Kruschov geschaffen hatte- es war stärker als all die, die vor ihm kamen- und es würde überleben können. Das war beängstigend. Aber es war auch möglich, daß er es nur für mächtig hielt, weil er die Anderen nie gesehen hatte.
„Dafür wirst du in der Hölle schmoren.“ zischte der Bischof.
„Ouch- wie ich das hasse! Ihr könnt euch wohl nicht festlegen, oder? Ich bin schon verdammt, daß habt ihr mir eben gesagt- da droht ihr mir noch damit? Habt ihr nichts Besseres zu bieten? Kommt schon- etwas richtig Böses? Wie wäre es mit Folter?“ Er grinste und stach etwas zu, sodaß dem Bischof das Blut vom Kinn lief. Aber der blieb ruhig. Innerlich hatte er wohl schon seinen Vertrag mit dem Ziegenbock unterschrieben.
„Wie hat er dich genannt?“ fragte Friedhelm bestimmt.
„Was?“ Aeon wich etwas verwirrt zurück. Was tat das denn zur Sache?
„Wie heißt du? Wie heißt das Wesen, daß Kruschov aus dir gemacht hat?“ Sie gaben ihnen immer Namen- bis auf Lucilla, die auch danach noch so hieß, hatten sie biblische Namen erhalten. Das war Bedingung für den Einsatz für Gott- sonst konnten sie sich von der Kirche abwenden. Aber da sie nie eine Christin war, stand ihr kein Name zu.
„Aeon.“ Er verstand nicht ganz. Er kannte das Wort nicht- es war nur ein Name für ihn. Der Bischof schien kurz zu erschrecken, dann faßte er sich wieder. Ein seltsamer Name, der nur einen Grund haben konnte- er war für die Zukunft bestimmt, wenn sich die Sprache weiter wandeln würde. Also würde aus Eous wohl Aeon werden. Kein christlicher Name. Ein Biest wie sie- aber vollkommen und mit einer Bezeichnung, wie sie Gott ins Gesicht schlug!
„Der Morgenstern. Ein netter Name. Was hat er dir gesagt? Wofür hat er dich erweckt?“ Er bemerkte die inneren Zweifel, die in dem Dämon aufkamen. Nun konnte er wieder Boden gewinnen.
„Sie müsse tausend Jahre schlafen. Und ich sie schützen. Was hat das zu bedeuten?“ Er senkte langsam das Schwert. Etwas wurde ihm bewußt. Der Bischof hatte erkannt, wofür er entstanden war. Der Morgenstern ging immer wieder auf- er war unsterblich.
„DAS ist doch wirklich noch viel besser als die Hölle! 1000 Jahre leben und über sie wachen. Du hast sie gesehen, oder? Wie sieht sie nun aus?“ Der Bischof triumphierte erneut. Keine Schwertspitze konnte so sehr weh tun wie das, was ihm bevorstand. Auch wenn er sich noch fragte, was Kruschov davon hatte, sie zu verwandeln, denn der Schlaf der Krieger bedeutete die Versteinerung- das hatte er durch Levia begriffen. Aber selbst davon wußte Eous noch nichts.
„Sie ist eine Statue.“ flüsterte er geschockt. Kruschov hatte ihm mehr angetan, als er geahnt hatte.
„Ach- wie dumm. Er hat dir doch sicherlich so Einiges versprochen? Nun stell dir doch einmal vor, was du von all dem haben wirst, was du wolltest. Wenn alle Menschen sterben werden- und nur du bleibst übrig. Trauriges Leben- wirklich. Tausend Jahre. Das ist wirklich laaange. Und in der Zeit wird die Hure einfach schlafen. Dummes Weib! Ich wäre böse auf sie- wirklich. Weil sie eine Hure ist und sich vor Gott versündigt hat, wirst du leiden- so lange. Hast du das verdient? Aber wer weiß- vielleicht ist das Gottes Rache für etwas in deinem Leben. Denk darüber nach. Liebst du Frauen? Ich verspreche dir- du wirst sie hassen- weil sie schuld sind an deinem Leben. Sie sind Schlangen. Und sie werden dein Untergang sein. Selbst deine Mutter war nur eine Hure. Alle Frauen sind Huren! Und Lucilla ist die Größte von allen!“ Er hätte sich auf die Zunge beißen können.
„Lucilla?“
„Oh- vergiß das ganz schnell. War nur eine von Vielen.“
„Dann gibt es noch mehr von uns?“ hoffte Aeon. Er wollte nicht allein sein. Auch wenn man ihm sein Innerstes nicht so schnell ansah wie ihr, die sich nicht verwandelt hatte- warum auch immer- er wußte, daß er ein Gejagter sein würde- und das die Einsamkeit in Ewigkeit schrecklicher war als alles, was er sich bisher hatte vorstellen können.
„Nein- nein. Vergiß das. Ihr Beide seid schon zuviel für die Welt.“ Er wandte sich nachdenklich ab. Dieses Wesen dürfte nie erfahren, daß das so nicht stimmte- auch wenn sie sich finden würden- da war er sicher. Wenn es die Anderen noch gab, würde er dafür sorgen müssen, daß sie starben. Sie waren keine ernsthaften Gegner, schließlich waren sie Krieger der Kirche und somit auch ihm Untertan- aber dieser Eous und Lucilla- das war etwas Anderes- sie waren die große Gefahr, die eines Tages das System stürzen könnten- denn sie glaubten nicht. Er könnte sie nicht einfach mit ein paar Drohungen und Höllenvisionen ruhig halten- sie waren neugierig- sie wollten Wissen erlangen. Und das machte sie unberechenbar.
„Sag mir- was wirst du nun tun?“ Er schien nachzudenken. Wie konnte er die Kontrolle über ihn und somit über sie erlangen? Es schien etwas zu geben, daß ihn binden konnte- Wissen. Er würde wie sie lernen wollen- also sollte er das. Aber nur so viel, wie es ihm selbst von Nutzen sein könnte.
„Ich weiß es nicht. Abwarten.“
„Wie wäre es, wenn ich dir eine Ausbildung ermöglichen würde, von der du nie zu träumen gewagt hättest? Du könntest lesen und schreiben lernen- das willst du doch sicherlich? Dann hättest du ganz andere Möglichkeiten- wer weiß, was die Zukunft dir bringt.Vielleicht ist das ewige Himmelreich noch nicht ganz vergeben für dich.“ Er nahm den Dämon kameradschaftlich bei der Schulter, auch wenn es ihm innerlich grauste. Er mußte Vertrauen aufbauen. Ihn in seiner Macht zu haben konnte Alles bedeuten- oder den schnellen Tod, wenn Eous ihn durchschaute.
„Warum solltet ihr das tun? Und was ist mein Preis dafür?“
„Ich glaube, du solltest etwas erfahren. Du bist ein Krieger Gottes. Ihr habt einen Pakt mit der Kirche. Mit Gott. Weil euer Leben in falschen Bahnen verlief, erwählte Gott euch aus, um ihm mit eurer Kraft zu dienen. Für euer Seelenheil. Sie war schwach- sie war eine Frau- ein Exempel dafür, daß nur wir stark genug sind, ihm zu dienen. Wenn du nun über deine Zukunft nachdenkst- welches Leben willst du wählen- Das in Furcht vor Ihm, weil du nicht nach seinen Geboten lebst- oder willst du den Pakt erfüllen? Denk darüber nach.“ Der Bischof ging einfach wieder in das Kirchenschiff zurück. Wie naiv diese Wesen doch waren! Er würde ihn für sich gewinnen. Und dann weit weg von allem schaffen, daß ihm falsches Wissen bringen konnte. Ein paar Jahre im Kloster- weit abgelegen von allem Weltlichen, würden ihn schon bändigen. Vielleicht machte er sich gut als Schreiberling- zu etwas würde er schon taugen. Aber Eous würde, solange er, Friedhelm, lebte, kein Schwert führen. Er dürfte keinerlei Möglichkeit bekommen, seine wahre Macht zu erfahren.
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Toky, 2217
„Der Flug geht morgen. Ihr werdet sie zu mir bringen. Gary hat alles mit der Überführung geregelt. Laut unseren Nachforschungen erwacht sie im nächsten Vollmond. Das sind 10 Tage. Endlich! Ich habe so lange auf sie gewartet! Aber diese verdammten Maschinen- egal- nun können wir endlich hoffen!“ Makushi war begeistert. Man hatte ihm nach seiner Entdeckung alle Steine in den Weg gelegt, die es in der Weltbürokratie überhaupt gab. Er wußte gar nicht, daß es ein Gesetz gab, daß die Einführung von Steinstatuen aus dem alten Europa regelte- aber wahrscheinlich war das an dem Tag gemacht worden, als er den Durchblick gewonnen hatte und Gary seine Erkenntnisse per Netz zugesandt hatte. Sie überwachten alles- sogar seine Eßgewohnheiten kannten sie. Das hatte den entscheidenden Vorteil daß Gary, der ja für die Obersten arbeitete, immer wußte, wo er steckte- aber manchmal war ihm dieser Inspector auch zu suspekt. Er setzte sich für seine Sache ein, als würde es ihn selbst betreffen- aber dann erschien es wieder so, als hätte er keinen blassen Schimmer davon, was er da eigentlich tat. Er wirkte wie eine Marionette, die ganz andere Mächte steuerten. In dem halben Jahr, das sie sich nun kannten, hatte Makushi nicht sehr viel über seinen Polizeifreund mit dem besonderen Talent dafür, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, erfahren können. Er war 43, alleinstehend- und kleidete sich seinem Alter, aber nicht seinem Typ entsprechend. Er war irgendwo bei Sherlock Holmes stehengeblieben, wie sich Miaki immer ausdrückte. Aber das machte ihn fast wieder sympathisch- in seinen Augen- in denen seiner Kinder war er uncool und ein Vollidiot.Und dabei war dieser Mann unglaublich intelligent. Er war ein Widerspruch in sich- aber merkte er das auch selbst? Und wenn- wie kam er überhaupt damit klar?
„Gary Milton- wer bist du wirklich?“ murmelte Zeth und scrollte den Bildschirm nach unten. Es war nicht schwer gewesen, in die Polizeiakten zu gelangen und die Liste der Mitarbeiter zu finden. Und nun war er bei M angelangt.
„Bingo.“ Zeth starrte auf die Informationen.
Milton, Gary. Police Inspector. Geboren 25. August 2174 Prag. Ausbildung vorzeitig beendet 2190, Sonderausbildungen: MKE Stufe 5, UBE Stufe 7, SE für DH und IESK, Lizenz für SWE und EPG.
Bei SE 6/2194 Tod Eldion, Trevis unter seinem Kommando. Daraufhin psychische Anomalien erkennbar. Diagnose einer affektiven Psychose und Befreiung vom Dienst. Manisch- depressive Haltungen, die schließlich zu suizitären Versuchen führen. Aufenthalt im MRC von Juli 2194 bis 2196. Danach mit Bescheinigung für Schizoides Residuum entlassen und in niederen Dienstgrad gestellt. Seit 94 unter ständiger Aufsicht von Dr. Joseph Kaltenberg. Medikamentöse Behandlung: Antidepressiva 3,5,6,7 und Morphate 3-17. Aufgrund der Ausbildung weiterhin als voll integriertes Mitglied anerkannt, im Normalfall ungefährlich.
Zeth klappte der Kiefer herunter. Er hätte mit allem gerechnet- aber das sie es mit einem Schizo zu tun hatten, der durch ständige Medikamente ruhig gestellt war- es war unglaublich. Aber noch unglaublicher war sein Ausbildungsweg. Mit 16 schon Polizist, und Weiterbildungen, von denen Andere nur träumen konnten! Zeth kannte nicht all diese Abkürzungen- denn normalerweise hatte kein Polizist all das jemals geschafft- aber er wußte, daß die Nummern Ranggrade waren- und das UBE 7 die höchste Stufe der Untergrundbekämpfungseinheit war. Das waren die ganz Harten, die auch schon mal auf Folter oder andere illegale Methoden zurückgriffen. Leute, vor denen er immer Angst haben mußte. Aber wenn Gary 94 schon ausgetickt war, hatte er all diese Ausbildungen in 4 Jahren geschafft, was rein rechnerisch nicht möglich war. Vielleicht hatte nur jemand nachgeholfen und die Akten verfälscht. Es konnte nicht anders sein, denn das ein Schizophrener noch solche Ausbildungen genießen dürfte, bezweifelte er. Wer es bis ins MRC schaffte, war schon etwas mehr als durchgeknallt. Dort wurden nur Fälle eingeliefert, bei denen man sich nicht sicher war, ob sie nicht zur Staatsgefahr werden konnten. Aber sein Boss wußte von dem allen garantiert nichts. Und er würde auch nie nachfragen. Wenn er es ihm erzählte, würde wohl die Antwort kommen- wir sind alle verrückt- was soll´s? Gary war unbemerkt in diese Firma und auch in Katuris Privatleben eingebrochen- und es schien nur eine Frage der Zeit, bis er wieder austickte.
„Hi Dad!“ Der 19jährige knallte die Coke auf den Tisch zwischen seine alten, wertvollen Akten, die Makushi in reinem Instinkt gleich rettete.
„Hallo mißratener Sohn- Hausaufgaben gemacht?“ Judic. Das Problemkind. Dreimal sitzengeblieben, keine Lust auf nichts, Draufgänger, sieben Mal von Gary oder seinen Kollegen wegen Drogenkonsums oder Diebstahls geschnappt worden. Aber immerhin sein Sohn. War wohl besser, daß seine Mutter das nicht mehr erleben mußte.
„Jaaa- Daaad. Hab ein Problem mit Geschichte.“
„Sag es lieber nicht- du wirst wieder sitzenbleiben. Wegen Geschichte? Ich bitte dich. Ich bin Meister in Geschichte, deine Mutter war Professorin dafür- von wem hast du dein Nichttalent dafür geerbt?“
„Sicher, daß ich dein Sohn bin? Nein- war´n Joke. Wollte von dir was wissen. Waren die im Mittelalter echt so verbohrt mit diesem Gotteskram? Die wollen uns erzählen, daß da Jeder vor der Verdamnis Angst hatte. Ist doch echt abgefahren. Die einzige Angst, die ich kenne ist, den neuesten Streifen von Jack Lamont zu verpassen.“ Er zog einen von den Notizzetteln seines Vaters aus dem Stapel und studierte ihn oberflächlich.
„Ähm- auch wenn ich keine Ahnung davon habe, wer Jack ist- und ich nehme an, er ist kein Geschichtskenner, sonst würdet ihr im Cinedrome ja was Anständiges lernen- ja- die Bekloppten des Mittelalters- so, wie du sie vermutlich nennen würdest, hatten Angst vor der Hölle. Das begründet sich in einem höheren Bewußtsein für Gott. Die Welt war noch nicht erforscht, überall sah man den Teufel in Gestalt von Krankheiten, Krieg und Tod.“
„Warum haben die nicht einfach in eines deiner schlauen Bücher gesehen, da steht doch drin, daß alles wissenschaftlich begründet ist.“ Er nahm eines der Bücher und blätterte darin. Er fand eine Darstellung einer steinernen Figur. Eine Art Kobold. Gargoyle stand darunter.
„Sohn? Wann fand deiner Meinung nach das Mittelalter statt?“
„Naja- so vor 200 Jahren? Da gab es doch diesen einen Typen, der mit dem Scheitel.“
„Hitler.“
„Ja- der war doch noch so ein Mittelalter- Typ- oder?“ Er tat unschuldig. Die Miene seines Vaters drückte etwas Undefinierbares aus. Was lernt ihr eigentlich in der Schule, schien er fragen zu wollen. „Hey- sorry, Dad- für mich ist alles alt, was vor meiner Geburt war.“
„Ich empfehle dir, schnellstmöglich ein Lexikon oder dein digitales Kleinhirn in deiner Hosentasche zu Rate zu ziehen und mir nicht noch einmal mit so einer dämlichen Frage zu kommen! Mittelalter heißt so, weil mittleres Alter zwischen den alten Griechen und Römern und der sogenannten Neuzeit, die wir auch schon überschritten haben. Wir leben im Maschinenalter. Alte Römer bis etwa 500 nach Christi, Mittelalter bis 1500, als Columbus Amerika entdeckte. Neuzeit bis 2160, als die Maschine an die Macht kam. Wenn du etwas vom Mittelalter wissen willst, streiche alles, was du hier siehst. Kaum Bücher, keine Computer, keine Airliner, sondern Pferde.“
„Pferde?“
„Frag mich nicht, was Pferde sind- das hattest du gestern zum Abendessen.“
„Oh- ich dachte, das wäre Fleisch gewesen.“
„Ich glaube, so ziemlich alles, was nicht pflanzlich oder im Meer ist und lebt, ist Fleisch- ausser die Macht natürlich.“
„Was ist mit Menschen? Essen wir Menschen?“ Der irritierte Blick seines Vaters ließ ihn stocken. Er wußte es nicht. Sein Vater konnte ihn nicht beruhigen, was den Verzehr der eigenen Artgenossen anging.
„Ich weiß nur, daß es Völker in Europa gibt, die das tun. In den Alpen. Niemand würde es wagen, dort länger zu bleiben, als nötig. Aber was die Maschinen uns hier verkaufen, weiß wohl niemand. Deshalb will ich ja nicht, daß ihr Fleisch eßt.“
„Und ich dachte, daß hätte gesundheitliche Gründe. Aber mal im Ernst- was ist das mit Gott für ´ne Story?“
„Lies unser Gesetzbuch, dann hast du die Extremform davon. Die Maschine wurde von Männern der Kirche entwickelt- sie gaben ihr alle Gesetze ein, die die Religionen der Welt vorsehen. Deshalb wirst du eines Tages auch ans Heiraten denken müssen. Unser Gott ist die Maschine. Mit dem Unterschied, daß ihre Rache eine äußerst Reelle ist- im Gegensatz zu dem, was damals geschah. Man glaubte, daß es Gott sei, der die Übel sandte- aber eigentlich war es Zufall oder etwas, was wir wohl nicht verstehen können. Wenn du dagegen gegen die Gesetze verstößt, wirst du eingefangen, verurteilt und im glücklichsten Fall landest du auf Alcatraz II. Im schlimmsten Fall-.“
„Eliminierung- ich weiß, Dad. Nette Umschreibung für Killen. Scheiß Regierung.“
„Was du nicht sagst. Aber im Endeffekt ist es der Mensch, der Böse ist. Er hat sie geschaffen- er hat sie manipuliert. Nun haben wir das Ergebnis. Ich kann mich leider nicht mehr daran erinnern, wie es war, als die Maschine nicht da war- ich war gerade einmal ein Jahr alt, als sie entstand. Aber es lag daran, daß der Mensch nicht friedlich ist. Demokratie führte zur Anarchie, diese zur Diktatur, wenn jeder die Macht haben will.Traurig aber wahr- wir werden wohl nie eine Regierung finden, die ideal ist, um alle gleich zu behandeln.“
„Was regierte im Mittelalter? Die Kirche?“
„Unter anderem. Sie setzte den Kaiser ein, der wiederum die Könige und diese die Grafen und so weiter. Eine Pyramide. Ganz unten stand der einfache Mann- der alles mit seiner Arbeitskraft stützte. Das kannst du auf jede Zeit anwenden- es wird immer dasselbe herauskommen- wir haben nicht die Macht. Der Versuch, das Ganze umzudrehen, war die Anarchiezeit in Europa- 2120 bis 44, falls du dich erinnerst- nach dem Krieg. Mit dem Ergebnis des totalen Chaos. Wenn jeder nur noch das tut, was er will, kann das nur zu Differenzen führen- und es ist nicht einmal heute ruhig da drüben. Ich habe ehrlich gesagt Angst um Zeth und die Mission- Prag ist immernoch Kampfgebiet der Anarchisten gegen die Maschine.“
„Warum schickst du ihn dann hin?“
„Weil es dort etwas gibt, das vielleicht alles ändern kann.“ Makushi wurde nachdenklich. Konnte sie das? Konnte sie ein ganzes System lahmlegen und eine alte Ordnung wieder herstellen, die so antiquiert war, daß sie fast wieder genial war? Eine Regierung, die von einer friedlichen Macht ausging, die nur in den Köpfen der Menschen existierte?
„Dad? Du bist kein Anhänger von ihr, nicht wahr? Du bist für etwas ganz Anderes.“
„Die Maschine? Schweigen wir lieber darüber. Ich wünschte, es wäre anders gekommen in Europa und Amerika, und sie hätten den Frieden gefunden. Aber das ist verloren. Für immer.“
„Und was ist es? Ein Dämon?“
„Wahrscheinlich so etwas in der Art. Erwarte nichts Menschliches.“
Feste Marzik, 1217
Aeon seilte sich in die Dunkelheit ab. Es roch seltsam vertraut hier unten- als wäre da etwas, das das Biest in ihm kannte. Etwas wie Heimat.
Seine Lederschuhe berührten zerwühlten Boden. Er ließ das Seil los und duckte sich vorsichtshalber, falls er angegriffen werden sollte. Aber da war nichts. Es war ein dunkler Raum mit einem Knochenhaufen in einer Ecke, der mal ein Mensch gewesen war. Und einer Statur direkt hinter ihm, die ihn zusammenfahren ließ, als er sie entdeckte. Vorsichtig ging er darauf zu. Sie sah aus, als wäre sie aus Stein. Eine Art Engel hockte vor ihm- zumindest hatte es Flügel oder etwas Ähnliches. Doch das Gesicht und ihre Krallen sprachen eine andere Sprache. Es war ein Dämon- etwas Unvorstellbares, daß er noch nie gesehen hatte. Es bewegte sich nicht- das war wichtig, sonst wäre er sofort geflüchtet. Doch da siegte etwas ganz anderes in ihm- die Neugier. Die Figur war komplett aus Stein- selbst ihre in Fetzen hängende Kleidung war sehr realistisch nachgebildet. Etwas in ihm ließ ihn die Hand heben und zu ihrem Gesicht führen. Sie war ein Mensch- tief in ihrem Inneren war da eine Seele- etwas Verletztes. Er konnte es spüren. Aeon in dem Jungen begann aus unerklärlichen Gründen mit den Tränen zu kämpfen. Und dann passierte etwas, daß er nicht verstand. Eine einzelne, klare Träne löste sich aus ihrem linken Augenwinkel und glitt auf der glatten, steinernen Haut zu seiner Hand. Die Träne war warm.
„Nein!“ flüsterte er ungläubig. Tausende von Bildern schossen plötzlich durch seinen Kopf und vor seinem geistigen Auge dahin. Eine Burgherrin, ein Kardinal, ein anderer Geistlicher- das Leben eines anderen Menschen. Einer jungen Frau, die liebte. Die lachte und die plötzlich nicht mehr das war, was sie kannte. Blut, Gier, Hass- alles in einem. Er wollte die Hand zurückziehen, aber Aeon ließ ihn nicht. Er sollte alles sehen. Der Geistliche- ein Bischof, auf den sie all ihren Hass konzentrierte- der sie hier eingesperrt hatte. Die letzten Bilder ließen ihn zusammenbrechen. Unvorstellbare Dinge, die hier unten geschehen waren- und der letztendliche Hass auf die ganze Welt. Er weinte unter Zuckungen. Es war zuviel. Alles, was er in seinem Leben jemals gehaßt hatte, war ein Nichts gegen das, was sie erlebt hatte. Als er zu ihr aufsah, entdeckte er noch etwas Anderes an ihrem Arm- eine Wunde, die nicht mehr verheilt war, bevor sie versteinert war. Etwas Blut hatte sich angesammelt und war in einem langen Faden an ihrer Hand nach unten geronnen. Sie hatte sich selbst verletzt- das hatte sie ihn sehen lassen. Sie wollte sterben- und konnte es nicht. Und dann kam ihm eine erschreckende Erkenntnis- er war wie sie- nur- vollständiger- wenn man es so nennen konnte. Er war ein Mensch geblieben, aber tief in ihm tobte dasselbe Wesen. Ein Dämon oder was immer, das ihn unsterblich machte- um sie zu schützen. Er hatte verstanden. Auch wenn er es nicht glauben konnte. Er würde diesen Bischof finden- und dann hoffentlich alles erfahren, bevor er ihm den Hals umdrehen würde- oder aber ihn mindestens eine Ewigkeit wie sie einsperren und ihn mit dem konfrontieren, was er geschaffen hatte.
1000 Jahre später
Tropf. Tropf. Tropf.
Blut bahnte sich den Weg durch Adern, die es nicht mehr kannten. Das Herz machte einen Schlag.
Die Lippen öffneten sich kaum, als der erste Atemzug durch die kalte Kehle lief und die Lunge erreichte.Sie öffnete schlagartig die Augen. Nichts. Kein Gedanke. Kein weiteres Atmen.
Der Mond schien durch den winzigen Schlitz und auf ihr Gesicht. Der Blutfaden, der versiegt war, begann wieder zu rinnen. Und dann war da nichts mehr. Sie schlief wieder, wie sie es 1000 Jahre lang getan hatte.
Toky, 2. Mai 2217
„Maku- ich glaube, wir haben einen Fehler in unserer Berechnung gemacht!“ Gary war ausser sich. Er polterte in des Dämonenhändlers Büro, als wäre er der Chef des Hauses. Was er in dieser Sache auch war, schließlich bot er die nötigen Informationen, die ihm rein zufällig in den Kopf stiegen. Woher er immer wußte, was passieren würde, konnte er nicht sagen- aber er vermutete, es wäre eine vererbte Sache- sowas wie der 7. Sinn. Und etwas in ihm schrie, daß die Zeit gekommen sei- das es bald vorüber sei. Warum er sich so nach dem Tod sehnte, konnte er sich nicht erklären- aber immer, wenn er im Untergrund war, hoffte er, daß es ihn erwischen würde. Doch eine unsichtbare Kraft schien ihn zu beschützen, sodaß mehrere seiner Kollegen schon tot waren, während er munter dahinvegetierte. Scheiß Tabletten- er hätte wohl nicht so viele schlucken sollen, aber die Nervosität war einfach unerträglich.
„Was meinst du? Wird sie nicht erwachen?“ Makushi konnte alles gebrauchen- aber keine schlechten Nachrichten darüber, daß etwas mit ihrem Plan nicht stimmte. Er registrierte, wie Gary versuchte, das Zittern seiner Hände zu verbergen. Was zum Teufel stimmte nicht mit ihm? Er kam ihm manchmal vor wie ein Junkie- aber so unvernünftig würde Gary doch nicht sein, oder?
„Doch- aber ich fürchte- eher. Der Mond- die Berechnung ist von Kruschov. Da gab es nur den einen Mond. Wir haben aber zwei- sozusagen. Alcatraz II könnte von der Vorsehung als Mond angesehen werden. Dann würde sie schon- gestern- erwacht sein!“
„Das ist nicht dein Ernst! Was kann jetzt passieren? Kriegen wir sie da nicht nach Toky wegen der Überführung oder was?“
„Ich würde mir eher Gedanken um dein Team machen! Sie haßt alle Menschen- wer weiß, was sie anrichtet, wenn sie endlich raus kann!“ Woher konnte er das nur wissen? Es war, als hätte er schon einmal in ihren Kopf gesehen- als wenn er wüßte, was sie plante.
„War das die Klausel, die ganz unten stand oder hast du mir das verschwiegen? Was ist sie wirklich- und tu nicht wieder so, als wüßtest du es nicht. Ich frag mich sowieso, welche Interessen du verfolgst. Du sagst, du willst nur, daß sie das Richtige tut. Aber woher weißt du so viel über sie? Wer bist du wirklich?“
„Wenn ich wüßte, was mich seit Jahren treibt, dann wäre es einfacher.“ Gary warf sich in den Sessel am Fenster und starrte durch die großen Glasscheiben nach draussen. Die Airliner flogen über die Luftstrassen und wurden nur von den fliegenden Händlern begleitet, die auf Bestellung an den Fenstern hielten und dich mit dem Nötigsten versorgten. Die Schluchten der Hochhäuser reichten 70 Etagen tief- im Durchschnitt. Makushis Skyscraper war 98 Etagen hoch und überragte somit die umliegenden Häuser um Weiten. Man konnte bis zum Meer sehen- und da die Bibliothek wie alle anderen Etagenräume auch von allen Seiten aus Glas war, konnte man ganz Toky überblicken. Ein Airliner bremste scharf ab- und direkt vor dem Fenster knallte ein rotes Taxi in ihn hinein. Der Fahrer fluchte, was Gary belustigt beobachtete. Da kamen auch schon seine Kollegen von der technischen Flugwache und klärten den Unfall auf ihre Art. Der Fahrer des Taxis wurde sofort gefangen genommen und sein Taxi abgeschleppt. Diese Stadt war ein Moloch, den es zu vernichten nicht viel brauchte- dachte etwas in ihm.
„Vielleicht bist du ja nicht der, der du vorgibst, zu sein.“ Makushi trat neben ihn und sah in die Häuserschlucht hinunter. Da unten- wo kein Tageslicht mehr hinreichte, war das breite Ende der Pyramide- die einfachen Arbeiter. Der Drogenstrich, die Huren, all das, was seinen Sohn so faszinierte. Irgendwo da unten gehörte Gary eigentlich hin, daß wußte Katuri. Er war einer von den Wenigen, die sich dorthin getrauten. Maschinen würden dort nichts bringen, das hatte die Macht einsehen müssen. Nur menschliche Entscheidungsfähigkeit konnte ein leichtes von einem schweren Verbrechen unterscheiden. Und auch schon mal ein Auge zudrücken.
„Ich bin nicht das, wofür du mich vielleicht hälst.“murmelte er nachdenklich. Aeon- das seltsame Wesen, daß sie beschützen sollte. Was war er? Und wann würde er auftauchen? War er wie sie- ein Gargoyle, was fast unmöglich schien, denn dann müßte er immer wieder versteinern, wie es die Sage beschrieb. Öfters hatte er diese Geschichte in den letzten Monaten gelesen, daß Kruschov den Einen geschaffen hätte, um sie zu schützen- aber dann hieß es wieder, er sei tot. Und wie konnte er sich all die Jahrhunderte versteckt haben?
„Aeon?“
„Das wäre lächerlich.“ Er wollte darüber lachen, aber etwas in ihm ließ ihn nachdenklich.Wenn er wie ein Mensch aussah, konnte es jeder sein. Ihm fiel wieder sein Arzt ein: Gary- sie sind nur eine Person. Da ist niemand anderes in ihnen, der Böse ist- das ist eine Wahnvorstellung! Manchmal glaube ich, daß wir eine falsche Diagnose für sie gestellt haben, wenn sie so reagieren. Das ähnelt schon fast einer multiplen Persönlichkeitsstörung- passen sie auf, daß es sie nicht lenkt!
„Das wäre logisch.“