Beschreibung
Was einem auf einem alten Bahnsteig so alles passieren kann...
Fast geräuschlos glitt der letzte Nachtzug aus der Halle. Der Bahnsteig war leer, bis auf einen einzelnen Mann. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und starrte dem Zug nach, dessen rote Schlusslichter rasch kleiner wurden.
Innerlich ärgerte er sich, dass niemand an der Haltestelle ausgestiegen war. Ein später, müder Reisender war eine leichte Beute, besonders in dem verwinkelten Untergrundbahnhof, wo man jemanden in eine dunkle Ecke drängen konnte, ohne aufmerksame Blicke auf sich zu ziehen.
Der Mann schnaubte wütend. Jetzt musste er sich auf offener Straße ein Opfer suchen, wo das Risiko entdeckt zu werden um einiges größer war. Vielleicht sollte er es im Park versuchen. Dort standen die Bäume dicht beieinander und es gab kaum funktionierende Laternen.
Gedankenverloren nickend trat er seine heruntergebrannte Zigarette aus und wollte gerade den Bahnsteig verlassen, als das Geräusch hastiger Schritte an seine Ohren drang. Schnell versteckte er sich hinter einem geschlossenen Kiosk und spähte um die Ecke.
Eine junge Frau kam die Treppe zum Bahnsteig herunter gerannt. Ihr hüftlanges, blondes Haar floss unter einer blau-braun gestreiften Strickmütze hervor und flatterte wie ein Schleier aus Gold hinter ihr her. Ihre Handtasche aus schwarzem Leder schlug ihr im Takt ihrer Schritte gegen den Oberschenkel. Obwohl tiefer Winter herrschte, war ihre marineblaue Jacke weit geöffnet.
Die Frau kam mit langen Schritten näher und blieb vor der Anzeigetafel stehen. Im kalten Licht der Tafel konnte der Mann ihre vollen, geschwungenen Lippen erkennen. Ihre Augen waren von einem hellen, strahlenden Blau. Einzig ihre Haut hielt ihn davon ab, sie für eines jener Models zu halten, die Werbung für Strandmode machten. Im Vergleich zu deren Sonnenstudiobräune erschien die Frau ihm schon fast bleich.
Von seinem Versteck aus konnte der Mann sehen, wie der Blick der Frau über die Anzeigetafel hastete und sich verfinsterte. Ein leiser Fluch wehte von ihr zu ihm herüber. Anscheinend hatte sie den vor kurzem abgefahrenen Nachtzug nehmen wollen.
Ein grimmiges Lächeln zuckte um die Lippen des Mannes, als die Frau ihm den Rücken zuwandte und den Rückweg zu der Treppe antrat. Die Frau kam genau im richtigen Augenblick! Sie war das ideale Opfer; mit ihren hochhackigen Lederstiefeln konnte sie nicht davonlaufen und in dem verlassenen Bahnhof würde sie niemand hören, falls sie schreien sollte.
Der Mann rückte seinen Hut zurecht, sodass sein Gesicht in dessen Schatten verborgen blieb, und zog sich den knielangen Mantel enger um die Schultern.
So schnell und leise er konnte, überbrückte er die Distanz zu der jungen Frau und packte sie an der Schulter. Grob schob er sie in eine finstere Nische und in der gleichen geübten Bewegung, mit der er sie herumriss, zog er sein Messer aus dem Gürtel und hielt es der Frau an die Kehle.
„Sobald du auch nur die kleinste Bewegung machst, schlitz’ ich dir die Kehle auf“, zischte er ihr ins Gesicht. „Du hast die Wahl: Entweder gibst du mir sofort all dein Geld, oder ich-“
Pfeilschnell schoss die Frau auf ihn zu, packte ihn an den Aufschlägen des Mantels und riss ihn herum. Von ihrer erstaunlichen Schnelligkeit überrumpelt, lockerte sich sein Griff um das Messer. Klappernd schlug es auf dem Boden auf.
Wie gelähmt sah der Mann, wie sich die Lippen der Frau zu einem zuckersüßen Lächeln verzogen. Ihre schmalen Hände schienen sich in die Klauen eines Raubtiers verwandelt zu haben. Schmerzhaft bohrten sich die Fingernägel in seine Haut. Ihr Blick war glühend, als würde ein Feuer in ihr brennen.
Der Frau entwich ein animalisches Knurren. Sie fletschte die Zähne.
„Was zum-“
Wie eine angreifende Viper schnellte der Kopf der Frau auf ihn zu. Scharfe, weiße Fangzähne schlugen sich in den Hals des Mannes. Aus seinem überraschten, wütenden Aufschrei wurde ein schmerzerfülltes, flehendes Wimmern. Seine Arme sanken schlaff herab, als hätte ihr Biss ihn aller Energie beraubt.
Nach einer Weile löste die junge Frau den Mund von der Kehle des Mannes, an der eine dünne Blutspur aus zwei punktförmigen Wunden rann. Als der Mann reglos zu Boden sackte, wich sie einen Schritt zurück.
Eine rosafarbene Zunge leckte ihr über die Lippen, als sie das Messer beiseite kickte. Sie beugte sich zu dem leblosen Mann herunter und küsste ihn leicht auf die bleichen Lippen.
„Ich danke dir“, schnurrte sie.
Um den Mund der Frau spielte wieder ein süßes Lächeln, als sie sich umdrehte und mit klappernden Stiefelabsätzen langsam davonging.