Romane & Erzählungen
Die Akte Schubert - Komplette Fassung

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"Die Akte Schubert - Komplette Fassung"
Veröffentlicht am 04. Oktober 2009, 154 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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Über den Autor:

Ich bin PhanThomas, aber Leute, die mich kennen, dürfen mich auch gern Thomas nennen. Oder ach, nennt mich, wie ihr wollt. Denn ich bin ja ein flexibles Persönchen. Sowohl in dem, was ich darzustellen versuche, als auch in dem, was ich schreibe. Ich bin unheimlich egozentrisch und beginne Sätze daher gern mit mir selbst. Ich bin eine kreative Natur, die immer das Gefühl hat, leicht über den Dingen zu schweben - und das ganz ohne Drogen. Man ...
Die Akte Schubert - Komplette Fassung

Die Akte Schubert - Komplette Fassung

Beschreibung

Dies ist eine Fortsetzungsgeschichte, die ich hiermit noch einmal in einer vollständigen Fassung zur Verfügung stelle - einfach für den Fall, dass sie sich jemand zum Lesen ausdrucken mag.

»Ich liebe dich!«

Ohrenbetäubender Lärm donnerte durch die Nacht und krachte ihm Unheil verkündend entgegen. Er hatte sich im Wagen zusammengekauert. Eine Flucht war jetzt ziemlich unmöglich. Die Kiste hatte sich mit einem Laternenpfahl angelegt und diesen übel zugerichtet. Doch letztlich hatte der alte Ford Escort eben doch verloren. Kugeln durchschlugen die Windschutzscheibe, ließen sie zersplittern und zischten über ihre Köpfe hinweg. Bisher waren sie weitestgehend unverletzt geblieben, doch der Kugelhagel ebbte nicht ab.

Das rabenschwarze Haar hing ihm wild und verschwitzt in die Stirn. Sie kauerte laut lachend auf dem Rücksitz, während die Geschosse wie schneidender Wind an ihr vorbeizogen. Er drehte sich zu ihr um. Den Mund hatte er zu einem wilden, wölfischen Grinsen verzogen. Seine glasigen Augen funkelten, als würden im nächsten Moment tödliche Blitze aus ihnen hervorzucken. Er musterte sie, so als hätte es sie noch nie zuvor so betrachtet. Wie schön sie war, gerade jetzt, wo Schweiß und verwischte Schminke ihr Gesicht überzogen, schien sie noch tausendfach schöner zu sein. Ihre Blicke trafen sich im Innenraum des durchsiebten Autos und ließen die ohnehin spannungsgeladene Luft knistern. Sie musste nichts sagen, musste keine Andeutungen machen. Ihr zarter, blutroter Mund formte ein sanftes Lächeln, das ihm ganz genau sagte, was sie von ihm erwartete. Er nickte verstehend und warf ihr eine Kusshand zu.
 
»Ich liebe dich!«, sagte er. Seine Stimme klang vor Aufregung krächzend wie die einer Krähe.
Dann warf er sich laut brüllend aus dem Wagen und schoss. Das Magazin der Beretta enthielt noch fünfzehn Kugeln, und er wusste, dass sein Finger so oft den Abzug durchdrücken würde, bis das Klicken der leeren Waffe ihm das Ende ihres Abenteuers verkünden würde. Noch immer feuerten die Polizisten auf den zerstörten Wagen, doch nun begegnete er ihrem Donner mit seinem eigenen.

Ein Polizist, der einen ziemlich stattlichen Bauch vor sich her trug, hatte sich leicht geduckt hinter der Tür eines der vier Streifenwagen postiert. Bevor er auch nur den Hauch einer Chance hatte, auf die aus dem Wagen stürmende Zielperson zu reagieren, schlug eine Kugel in seinen Fuß ein und zerschmetterte in diesem sämtliche Knochen. Der Beamte gab einen eher überraschten als schmerzverzerrten Schrei von sich. Er verlor das Gleichgewicht und stolperte seitwärts, direkt aus der Deckung heraus und kassierte für diesen Fauxpas sofort die Rechnung: Ein Geschoss traf ihn ins Auge, fraß sich mit Blitzgeschwindigkeit durch sein Gehirn und trat auf der Rückseite des Schädels wieder aus. Der Mann fiel wie ein Stein zu Boden.
 
Sein Kollege und bester Freund, seit sie zusammen die Schulbank gedrückt hatten, verlor augenblicklich die Fassung. Ungläubig betrachtete er seinen Partner, den er doch wie seine Westentasche kannte und der nun bewegungslos auf der schwarzen Straße lag. Vorsichtig neigte er sich nach vorn, um seinen Freund in Sicherheit zu ziehen. Eine äußerst schmerzliche Dummheit, wie er gerade noch feststellte, als eine Kugel seinen Arm direkt im Ellbogen durchschlug. Er stürzte nach vorn und stützte sich mit dem gesunden Arm auf der asphaltierten Straße ab, als ein weiteres Geschoss seinen Hals durchbohrte, um sein Schicksal zu entscheiden. Noch einige Minuten lang sollte er spüren, wie Blut in seine Luftröhre schoss und ihm das Atmen unmöglich machte, bis sich die Welt um ihn endlich schwarz färbte.
 
Derweil zischten weitere Kugeln durch diese höllische Nacht, die vom Blaulicht in fahles Licht getaucht wurde. Waffen wurden nachgeladen. Schreie mischten sich in den Pistolen- und Gewehrdonner, wenn er einen weiteren Polizisten erwischte, um ihm die Lichter auszublasen.
 
Und oh ja, schießen konnte er fürwahr. Sie hatte es ihm auf ihre innige Art beigebracht, hatte ihm gezeigt, wie er die Waffe ebenso zärtlich behandelte wie er sie zu behandeln verstand, damit die Kugeln ihre Ziele sicher trafen. Wie viele Patronen hatte er jetzt abgefeuert? Acht? Neun? Es würden nicht mehr viele übrig sein, doch für ein paar mehr dieser hartnäckigen Bullenschweine würde es wohl reichen. Hinter sich konnte er sie laut lachen und jubeln hören. Sie feuerte ihn an, wollte mehr von ihm.
 
Er richtete sich auf, brüllte und schoss. Sein Finger drückte den Abzug erneut durch, und eine weitere Kugel verließ krachend den Lauf der Waffe. Sie traf einen Polizeibeamten namens Jens Heinemann direkt in die Mütze und zog ihm im wahrsten Sinne des Wortes einen Scheitel. Gott hatte ihn verschont, und er sollte seinen Bowlingfreunden noch in fünf Jahren von diesem schicksalsträchtigen Abend erzählen. Erneut wollte der Zeigefinger den Abzug betätigen, um Heinemann ein hübsches Loch auf der Stirn zu verpassen, als zwei Geschosse die Schulter des Schützen durchschlugen, der noch immer vom lauten Johlen der Frau auf dem Rücksitz des Wagens aufgestachelt wurde.
 
Er hätte damit rechnen können, hätte damit rechnen müssen, dass es eine schlechte Idee war, die Deckung völlig zu aufzugeben. Doch machte das letztlich überhaupt einen Unterschied? Wohl nicht. Und zudem hatte das Adrenalin ihn betäubt. Sie hatte ihn betäubt, hatte ihn in einen Rausch versetzt, den es nach Liebe und Blut zugleich dürstete.
 
Und dann kassierte er die Rechnung. Die Wucht der Einschläge riss seinen Arm nach hinten, und die Waffe flog in hohem Bogen aus seiner Hand. Er geriet ins Straucheln und fiel schließlich unkontrolliert zu Boden. Den Sturz konnte er nicht bremsen und schlug mit dem Schädel auf dem harten Asphalt auf. Dann färbte die Welt sich erst milchig grau und schließlich zunehmend schwarz. Er spürte, dass sich immer mehr Menschen um ihn herum versammelten. Das war’s. Es war vorbei. Doch was hatte er gelebt wie nie zuvor? Was hatte er geliebt wie in seinem gesamten Leben noch nicht?

Erstes Intermezzo - Beginn einer Geschichte

Der Verhörraum, oder was das hier war, hatte eine unangenehme Stille inne. Er erinnerte ihn an die sterile Atmosphäre eines OP-Saals. Das Licht der Neonröhren strahlte gnadenlos grell und kalt auf ihn herab. Nach den unendlich langen Tagen in seiner miserabel ausgeleuchteten Zelle schmerzte dieser Kontrast so sehr, dass er die Augen zu Schlitzen zusammenkniff. Sein Arm mit der vor kurzem noch geübten Schusshand lag in einem dicken Gips, unter dem ihn mal Schmerzen und mal ein aufdringliches Jucken plagten. Schlaf fand er so kaum, und nicht nur deswegen war sein Nervenkostüm ziemlich gereizt. Die Geschosse der Polizisten hatten nicht nur seine Schulter zertrümmert, sondern auch den Oberarmknochen durchschlagen. Mit seiner gesunden aber unbrauchbaren linken Hand klopfte er ungeduldig auf den Tisch. Der Kerl vor ihm notierte irgendwelchen Kram in seine vorgedruckten Bögen. Das Geräusch, das die Miene des Kugelschreibers dabei auf dem Papier verursachte empfand der Mann mit dem Gipsarm als penetrant laut. Kein Wunder, wenn man doch gerade aus der stummen Einsamkeit einer engen Zelle geholt worden war.

»Wie geht es ihrem Arm, Herr Schubert?«, fragte der Mann, ohne von seinem Bogen aufzuschauen. Während er schrieb, bewegte er immer wieder seine Oberlippe von links nach rechts, als würde er versuchen, sich mit seinem dichten Schnauzbart an der Nase zu kratzen. Der Mann, den der Schreiber gerade Schubert genannt hatte, starrte wie gebannt auf die Glatze seines Gegenübers, die im grellen Licht glänzte wie eine polierte Bowlingkugel.

»Wie würde es Ihnen gehen, wenn jeder Knochen in Ihnen zerfetzt wäre?«, fragte Schubert und lehnte sich im Stuhl zurück.

»Sie haben gute Heilungschancen, sagen die Ärzte. Polizisten können Sie damit allerdings wohl nicht mehr über den Haufen schießen«, sagte Mister Schnauzbart und schrieb weiter. Das Geräusch des Kugelschreibers ging Schubert gehörig auf den Keks.

»Komiker, was?«

Eine lange Stille trat ein, nur unterbrochen durch den lauten Stift.

»Ich würd gern eine rauchen«, sagte Schubert.

»Tut mir leid. Hier drinnen ist das Rauchen nicht gestattet. Die Brandschutzvorschriften, et cetera, pe pe. Sie bekommen nach unserer Unterhaltung eine Pause, in der Sie rauchen können.«

»Können Sie das Scheißding mal zur Seite legen?« knurrte Schubert.

Endlich legte der Mann seinen Füllfederhalter zur Seite und blickte Schubert in die Augen. Sein Blick war kalt und berechnend. Doch Schubert konterte diese Geste ohne Probleme. Er wollte sich von diesem Kerl nicht ins Bockshorn jagen lassen. Er würde locker und lässig bleiben, hart wie Granit. Den Mann vor ihm schien diese Haltung für einen Augenblick wütend zu machen.

»Viele der Männer, die Sie getötet haben, hatten Familie. Haben Sie überhaupt eine Vorstellung davon, was Sie angerichtet haben?«
 
»Wird das hier eine Moralpredigt? Sind Sie hier mein Pfarrer oder was wird das?« Schubert grinste, doch sein Gegenüber hatte ihn durchschaut und sich selbst wieder in den Griff bekommen. Schubert konnte förmlich sehen, wie er sich wieder entspannte.

»Nein, ich bin Psychologe. Henning. Walter Henning mein Name.«

»Kann nicht sagen, dass es mir eine Ehre wäre. Aber dennoch: Thomas Schubert.«

»Ich weiß natürlich, wer Sie sind, Herr Schubert«, sagte der Psychologe, der sich als Walter Henning vorgestellt hatte. »Trotzdem danke.«

»Was wird das hier für eine Nummer? Müssen wir uns diesen Quatsch antun? Was bringt der Mist hier? Das ist doch Zeitverschwendung«, knurrte Schubert. Er sah sich um, als suchte er nach dem Kleiderständer, um seine Jacke zu greifen und die Party zu verlassen.

 Walter Henning begann, leise zu lachen. Schubert hörte deutlich, dass es ein erzwungenes Lachen war. Genauso erzwungen wie er sich nun bewegte: Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf und lehnte sich zurück, als säße er in seinem Lieblingssessel vor dem Fernseher und hätte gerade ein kaltes Bier geöffnet. Schubert empfand das als so lächerlich. So einstudiert. Gleich würde er den Mund aufmachen und irgendwas Dummes von sich geben. Und so war es dann auch.

»Sie halten Sich für eine ganz große Nummer, was? Passen Sie auf, warum erzählen Sie mir nicht Ihre Geschichte? Die interessiert mich. Ganz ehrlich. Ich meine, wie kommt ein Mann wie Sie, ein Mann aus gutem Hause, mit sicherem Job, ja, mit fester Existenz dazu, pistolenknallend die halbe Bundesrepublik unsicher zu machen? Ein Mann, der sich vorher nie etwas zu Schulden kommen lassen hat?«

Schubert beugte sich über den Tisch und runzelte die Stirn. »Das würden Sie gern wissen, was? Sagen Sie mir lieber, wo Patricia ist! Ich will sie sehen. Jetzt sofort! Und Ihnen werden ich einen Scheiß erzählen.« Er merkte selbst, dass er nervös wurde. Er musste sich zusammenreißen. Die Kerle würden Patricia als Druckmittel benutzen, wenn er nicht aufpasste.

Henning zog die buschigen Augenbrauen hoch. »Herr Schubert, wenn Sie meinen, hier Ihr Spiel spielen zu müssen, tun Sie‘s ruhig. Wir spielen alle unser Spiel, nicht wahr? Meines zum Beispiel beinhaltet, dass ich jede Menge Zeit habe.«

»Sie sind ein großer Mann. Echt. Kann ich jetzt gehen?« Thomas Schubert warf dem Psychologen einen entnervten Blick zu.

»Wenn Sie das möchten, klar. Aber eines sage ich Ihnen. Rauchen dürfen Sie erst, wenn Sie sich ein bisschen mit mir unterhalten möchten. Und auch sonst wird‘s für Sie keine weiteren Annehmlichkeiten geben, bis Sie sich kooperativ zeigen.«

»Hey, so haben wir nicht gewettet«, schrie Schubert. Er versuchte, von seinem Stuhl hochzuspringen, wurde von den beiden Beamten hinter ihm jedoch sofort wieder zurück auf den Stuhl gedrückt.

»Au, meine verdammte Schulter. Lasst den Scheiß!« Er ärgerte sich über sich selbst. Schon wieder waren seine Nerven mit ihm durchgegangen. Die trieben einen hier drinnen in den Wahnsinn. Und ob das beabsichtigt war!

Henning seufzte. »Sie können ihn zurückbringen. Herr Schubert, wir machen morgen weiter.« Er klappte seine Kladde mit den beschriebenen Bögen zu und erhob sich.

Die folgenden Tage hätten eine erstklassige Kopie dieser ersten Unterhaltung sein können. Thomas Schubert verlangte es nach Zigaretten, nach Frischluft und nach Büchern. Vor allem jedoch verlangte es ihn nach Patricia. Nach seiner Patricia, die zur größten Liebe seines Lebens geworden war. Doch das sprach er nicht mehr laut aus.

Am vierten Sitzungstag schließlich erklärte Thomas Schubert sich bereit, zu reden. Wiederum wurden ihm Zigaretten versprochen, sowie Zugang zur Gefängnisbibliothek und gelegentliche Freigänge auf dem Hof - unter ständiger Aufsicht selbstverständlich. Und Henning würde Wort halten, denn Vertrauen war wichtig. Es war das wichtigste von allem, wenn man bis zur Wurzel vordringen wollte.

Und so begann Schubert. Und er begann am Anfang, so wie dieser lästige Psychoheini Henning es wollte.

»Du wirst fahren!«

»Thomas? Hallo, Erde an Thomas.« Langsam schob sich eine ziemlich dicke Gestalt wie eine Sonnenfinsternis in Schuberts gedankenverlorenen Blick. Den schweren Kopf hatte Schubert auf seine aufgestützten Arme gebettet. Der Kaffee in seiner Tasse war bereits kalt geworden. Jetzt, wo Egger von ihm stand, kam er so allmählich zu sich. Eggers Eigengestank aus altem Schweiß und dem darüber aufgetragenen Parfum wirkte wie Riechsalz. Er selbst schien seinen Geruch nicht wahrzunehmen. Wahrscheinlich waren die Sinneszellen in seiner Nase bereits weggefault. Schubert hob seine Augen, deren Lider so schwer waren, als hätte sie jemand mit Angelhaken durchstoßen, an denen Bleigewichte hingen. Zehn Kilo. Darf‘s ein bisschen mehr sein?

»Oh, hey Eggbert«, brummte Schubert mit belegter Stimme. »Was gibt‘s?«

»Ausgeschlafen? Das Meeting wäre um halb zehn gewesen.« Er schaute auf seine protzige Armbanduhr und brachte seine Tut-mir-ja-leid-Geste, in dem er den Kopf leicht schräg legte und die Lippen zusammenzog. »Ich hätte dich geholt, aber in diesem Zustand? Wäre ziemlich peinlich für dich geworden, denk ich mir. Ach ja, jetzt ist es übrigens halb elf. Wollte ich nur sagen.« Dann drehte er sich auch schon wieder um. Was sollte der Mist jetzt, dachte Schubert. Im Gehen sagte Egger: »Ach ja, denkst du an die Kopien, um die ich dich gestern gebeten hab? Und noch was: Gegen eins müsstest du an den Schalter. Ilona hat sich krank gemeldet. Und ich hab keine Zeit.«

»Ja, ist okay. Tut mir leid wegen dem Meeting. Ich- ich hab letzte Nacht nicht gut geschlafen«, sagte Schubert und gab sich wenig Mühe, die Frustration in seiner Stimme zu verbergen.

Die Depressionen waren bei ihm wie Jahreszeiten. Sie kehrten regelmäßig wieder, und man hätte nach ihnen getrost den Kleiderschrank bestücken können. Pünktlich zum Oktober ging es abwärts, die lange Kohlenrutsche hinab in den Keller. Und dort unten, wo niemand außer Schubert selbst sich je aufhalten würde, waren die Wände mit unbequemen Fragen beschmiert. All diese W-Fragen, die Existenzfragen, die einem klar machen wollten, dass dieses ewig gleiche Getue, Tag für Tag, nicht viel Sinn haben konnte. Routine mochte eine fantastische Sache sein, so lange sie Sicherheit bedeutete. Doch was war, wenn sie einfach nur ein beschissenes Leben bedeutete? Was war, wenn sie bedeutete, dass man den ganzen Tag in einer ekelhaft synthetisch stinkenden Höhle placken musste, die von Neonröhren beleuchtet wurde und in der Elektrosmog einen wahrscheinlich früher, als einem lieb war, an Krebs sterben ließ, nur um abends in eine nicht weniger muffig stinkende Wohnung zu kommen, in der nur die tickende Uhr an der Wand auf einen wartete? All das war schon schlimm genug, doch mussten diese Gedanken Schubert ausgerechnet auch noch den Schlaf rauben. Wie bitte sollte man da noch erholt und aufmerksam sein? Na und, dann hatte er halt das beschissene Meeting verpennt.

Egger musste man das nicht erklären. Der kannte keine regelmäßig wiederkehrenden Depressionen. Zum Ausgleich hatte ihm Schubert den Rang des größten Arschlochs des Universums verliehen. Und zwar dauerhaft und auf Lebenszeit. Herzlichen Glückwunsch. Ihr Preis ist ein fetter Arsch und ein Haufen Freunde, die Ihre Visage so lange lieben, wie Ihre Brieftasche Bares auskotzt. Diese Inkarnation von einem Mannschwein glaubte, nur weil sie sich Filialleiter nennen konnte, wäre sie so etwas wie ein Gott hier in diesen Räumlichkeiten. Ein Krösus, der jeden herumkommandieren konnte und der besonders Schubert gern zeigte, dass er ihn für einen inkompetenten Idioten hielt. Obwohl er wahrscheinlich wusste, dass Schubert alles andere als das war. Aber worauf sollte er sich sonst einen runterholen?

Schubert stand auf. Die Kopien hatte er längst fertig. Eine geschlagene Stunde hatte er gestern mit den Unterlagen am dem nervtötend rauschenden Kopiergerät gestanden und Seite für Seite durchgezogen.Wo waren die Dinger jetzt?

»Helen?«, rief er, und wie auf Kommando schob sich eine kleine, ältere Frau mit blond gelocktem Haar und viel zu dick aufgetragener Schminke hinter einer Trennwand hervor.

»Was denn?«, fragte sie und fuhr sich mit der rechten Hand durch ihr zotteliges Haar. Sie konnte das den ganzen Tag tun, und derzeit konnte Schubert diese Angewohnheit schon nicht mehr mit ansehen.

»Hast du den dicken Papierstapel gesehen, der hier auf dem Tisch lag?« Mit dem Finger deutete er auf den Platz, an dem der Stoß Blätter liegen sollte.

»Ach so, das ganze Belegzeug?«

»Ja, genau das. Hast du das weggeräumt?«

»Hmmm?« Himmel, war ihre Stimme immer schon so schrill, dachte Schubert. Klingt ja fast wie durch eine Gießkanne geröhrt. Wieder fuhr diese unerträgliche Frau sich durch‘s Haar. »Das war doch so Uralt-Zeug. Das hab ich heute Morgen durch den Schredder gejagt. Sollte doch eh weg, oder nicht?«

»Ja, ist gut. Danke«, rief Schubert. Und schon war sie wieder hinter ihrer Trennwand verschwunden. Schubert seufzte. Und wieder einmal hatte das Leben ihm einen prächtigen Haufen dampfender Kacke in den Weg gelegt, den er sich jetzt genüsslich vom Schuh kratzen konnte. Wenn er den Nachmittag über am Schalter verbrachte, würde er erst am Abend nach seinem eigentlichen Feierabend dazu kommen, neue Kopien zu erstellen. Und Egger würde ihm den ganzen Tag damit auf den Wecker fallen. Verdammt, eigentlich konnte der Kerl seine Kopien auch selbst ziehen. Denn wenn er nicht gerade wie ein Patriarch durch die Filiale spazierte, um den Leuten auf die Finger zu klopfen, dann hockte er hinten in seinem separaten Büro und starrte so lange lethargisch auf seinen Monitor, bis das Outlook eine neue Mail für ihn ausspuckte, die er wiederum an irgendjemanden delegieren konnte, der sowieso schon genug zu tun hatte.

Gott, ich halte das nicht aus, dachte Schubert. Er spürte, dass sein Herzschlag sich wieder beschleunigt hatte. Ein Gefühlscocktail, der aus Wut und Resignation bestand, durchflutete ihn. Eigentlich müsste ihn das alles so trunken machen, dachte er, dass er ausrasten würde. Doch das tat er nicht. Schubert rastete so gut wie niemals aus. Tat er es doch einmal, dann flogen zwar gewaltig die Fetzen, doch wie oft war in seinem Leben das schon vorgekommen? Ließ sich wahrscheinlich an zehn Fingern abzählen. Schubert erinnerte sich ohnehin nicht besonders gut daran.

Nur, wenn er weiter die Klappe hielt und die Peitschenhiebe ertrug, wie lange sollte er das alles dann hier noch aushalten? Bis der Frühling wiederkam, der ihn mit Glückshormonen anschiss, bis er merkte, dass all die Liebeleigefühle ins Leere gingen und schließlich vor die Wand krachten? Oder bis zum Sommerurlaub, den er in der alten Heimat bei seiner gealterten Mutter verbrachte, nur um dann ein wenig erholt wieder ins überfüllte Köln zurückzukehren, wo die gleiche, alte Scheiße wieder von vorn begann? Schubert merkte, wie das Bild vor seinen Augen sich weiß färbte. Vielleicht, so dachte er, wäre es jetzt doch an der Zeit, so richtig auzurasten. Er würde Egger in den Arsch treten, bis er tatsächlich wie ein Schwein quiekte und Helen den Kopf auf den Tisch dreschen, bis sie sich bereit erklären würde, die geschredderten Kopien mit ihrer Spucke wieder zusammenzukleben. Aber würde das etwas bringen? Würde es irgendwas ändern?

Schubert musste sich keine weiteren Fragen stellen. Tatsächlich sollte es lange dauern, bis er überhaupt wieder ähnliche Fragen stellte. Denn Gott ließ sich mit seinen Antworten heute nicht allzu viel Zeit. Er schickte sie, wunderbar verpackt und in laut schreiender Form, direkt durch die Tür in die Bank. Sofort stellten sich die Farben in Schuberts Blick wieder ein. Er stand auf, um zu sehen, was diesen Radau verursachte, und was er sah, raubte ihm die Luft.

Ein Meter und siebzig - vielleicht auch mehr - Lebendgewicht in vollendeter Form war soeben zur Tür hereingestürmt. Zuerst fiel Schubert der grell rote Lippenstift auf, dann das glatte, lange Haar, das wie eine Fahne im Wind hinter dieser Frau her wehte. Hatte er jemals eine so schöne Frau gesehen? Er wusste es nicht. Sofort waren all die finsteren Gedanken, die noch eben wie riesige Felsbrocken auf ihm gelastet hatten, zu Staub zerfallen und hinfort geblasen worden.

Was hielt sie da in ihrer Hand? War das- war das ein Eispickel? Ein Küchenmesser? Schubert hätte in diesem Augenblick wegsehen und sich in Sicherheit bringen sollen. Doch stattdessen starrte er sie noch immer perplex an. Konnte so viel Schönheit mit einer Waffe in eine Bank gestürzt kommen? Konnte ein so wundervolles Gesicht wirklich so viel Wut ausstrahlen?

Schubert nahm nicht wahr, dass er der einzige in der Bank war, der sich noch nicht panisch in Sicherheit gebracht hatte. Sie alle hockten unter Tischen hinter Schaltern und Trennwänden. Egger natürlich in seinem Büro. Kundschaft war ohnehin keine anwesend. Nur Schubert stand mitten im Raum, ein gutes Stück hinter dem Schalter und glotzte diese Frau mit offenem Mund an. Und jetzt sah sie ihn, bemerkte, dass er sie sehr genau betrachtete. Und sie kam auf ihn zu.

Schubert hatte nicht verstanden, was die Frau gebrüllt hatte, bis er tatsächlich den Eispickel unter seinem Kinn spürte. Sein rechter Arm wurde nach hinten gedreht. Wie viel Kraft diese zierliche Person besaß, dachte er blitzartig.

Jetzt endlich, und damit zu spät, war er wieder bei sich. »Bi- bitte, beruhigen Sie sich. Was wollen Sie? Las- lassen Sie mich los. Bitte!«

»Maul halten, Junge. Du hilfst mir jetzt, deine Kollegen hier ein bisschen zu melken.« Sie ließ ein diabolisches Lachen erklingen. Schubert kam sein eigener Gedanke in dieser Situation ungeheuer bescheuert vor, doch konnte er ihn nicht vermeiden: Was klang diese Stimme nach Milch und Honig? Hatte er je eine so wundervolle Stimme gehört? Wahrscheinlich nicht.

»Los, kommt aus euren Löchern, sonst habt ihr einen Kollegen am Stiel. Macht schön die Geldbörsen auf und legt den Zaster hier rein«, schrie die Frau und warf einen leeren Stoffsack, den sie auf dem Rücken getragen hatte, vor sich auf den Boden. »Ach, und wenn ihr dabei seid, Schmuck und Uhren sehe ich auch ganz gern.«

Und war etwas anderes zu erwarten gewesen? Natürlich kam keiner von Schuberts Kollegen herbeigeeilt. Er spürte, wie sich der Druck des Eispickels unter seinem Kinn erhöhte. Eher vor Schreck als vor Schmerz, schrie er auf. Dann endlich kam Helen aus ihrem Versteck gekrochen. Sie war hinter ihrer Trennwand in Deckung gegangen. Vorsichtig legte sie ihre Brieftasche in den Sack, dazu ihre dicken, goldenen Ohrringe und ihre Armbanduhr.

»Den Ring auch«, sagte die Schönheit hinter Schubert.

»Aber das ist mein Ehering.« Hatte er Helen je so wimmern gehört? Beinahe hätte er einen Anflug von Genugtuung verspürt. Das ist für die geschredderten Kopien.

»Leg den scheiß Ring in den Sack, sonst mach ich aus dem Süßen hier einen Schaschlik. Und aus dir auch.«

Jetzt weinte Helen. Die Tränen hatten wahrhaft Probleme, sich durch die dicke Schminke zu arbeiten. Sie nahm ihren Ring ab, küsste ihn und legte ihn in den Stoffsack. Und wie ein geprügelter Hund krabbelte sie zurück in ihr Versteck.

»So, ihr habt gesehen, wie‘s geht. Los jetzt, dann passiert keinem hier was. Versucht nicht, mich hinzuhalten, sonst gibt‘s hier eine Sauerei. Ich weiß, dass ihr den scheiß Alarm längst ausgelöst habt. Beeilt euch!«

Und endlich kamen sie hervor wie die Ratten aus ihren Löchern. Oskar und Jochen, die gestriegelten Sachbearbeiter im besten Alter, wie sie glaubten, stifteten ihre goldenen Krawattennadeln und das Bisschen Bargeld, das sie bei sich trugen. Gertrud, das Filialgroßmütterchen, die einzige Person, die Schubert wirklich mochte, einfach, weil sie sich um ihre Kollegen sorgte und sie gern bemutterte, kam zaghaft herbei.

»Du nicht. Du kannst gehen«, sagte die Frau, die Schubert in ihrer Gewalt hatte. Es war, als hätte Gertrud auch ihr ab und an ihr mütterliches Ohr zum Ausweinen angeboten.

Schubert spürte, wie sie den Eispickel wieder etwas stärker in die empfindliche Haut unter seinem Kinn bohrte. Er schrie auf.

»Rasiert wie ein Babypopo, was?« Sie lachte. Schubert konnte ihren frischen Atem riechen. Er zog die Luft tief ein. »Sind hier noch andere?« hörte er sie fragen.

Klar, Egger ist noch da. Bohr ihm das Ding in seinen fetten Hintern. »N-nein«, sagte Schubert. Doch das Zittern in seiner Stimme verriet ihn offenbar.

»Lüg mich nicht an, sonst hattest du heute einen kurzen Arbeitstag«, sagte die Frau. Sie klang jetzt nicht, als würde sie spaßen. Wenn sie noch stärker zudrückte, würde das Ding seine Haut durchbohren.

»E-Eggbert. B-bitte«, rief Schubert. Ein Geräusch aus dem Büro. Klar, Egger würde nicht hervorkommen. Egger war nicht nur ein Schwein, er war ein feiges Schwein. Hastige Geräusche drangen aus dem Büro. Ein Stuhl kippte um, dann kam Egger zum Vorschein und warf die Tür zu. Das Schloss begann zu klappern. Dieser Arsch wollte sich tatsächlich einschließen.

Schubert spürte sofort, wie die Frau von ihm abließ. Er sah, wie sie an ihm vorbeihechtete, die Tür aufriss und auf Egger zuging, der sich nach hinten auf seinen Tisch gelehnt hatte. Er wollte um Hilfe schreien, doch mehr als ein »Hil-« kam nicht aus seinem Mund. Sie hatte ihm den Eispickel direkt ins Auge gerammt. Schubert, der das leider ziemlich genau mit angesehen hatte, wäre nicht einmal auf die Idee gekommen, zu flüchten. Der Gedanke war ihm so fern wie der Nordpol seinem eisigen Bruder im Süden. Sie drehte sich um und kam wieder auf ihn zu. Egger brach zusammen und klatschte auf den Boden. Er rührte sich nicht. Schubert konnte sehen, wie sich eine Blutlache um seinen Kopf herum bildete. Irgendwo hinter sich hörte er Helen hysterisch schreien. Sie klingt wie ein Pferd, dachte er.

»So kann‘s dir auch ergehen, wenn du nicht tust, was ich dir sage«, sagte die Frau, die Egger umgebracht hatte. Sie wischte den Eispickel an ihrer Jeans ab. Diese Schenkel, dachte Schubert, und erst dann wurde ihm wirklich klar, dass diese Frau gerade Egger umgebracht hatte. Er mochte ein Arschloch gewesen sein, aber hatte er das verdient? Schubert verlor die Kontrolle über seinen Körper. Sein Mund klappte auf. Wie ein nasser Sack stand er im Raum. Die Schultern hingen resigniert nach unten, und um ein Haar wäre er einfach zusammengeklappt.

»Los geht‘s, hast du verstanden?« fragte die Frau. Schubert sagte nichts. »Hey Arschloch! Ob du verstanden hast, hab ich gefragt.«

»W-was? Äh, ja. Ich hab S-sie verstanden. B-bitte, tun Sie mir nichts«, sagte Schubert. Er wich einige Schritte vor ihr zurück, obwohl er sich eigentlich eher von ihr angezogen fühlte. War das nicht eine Ironie? Jahrelang hatte er so gut wie keinen Kontakt zu einer »echten« Frau gehabt, und nun begegnete ihm die Überfrau. Und ausgerechnet sie war eine Räuberin, eine Mörderin, die ihm vermutlich auch die Lichter ausblasen würde, wenn er sich nicht endlich zusammenriss.

Die Frau beugte sich herab, nahm den Sack mit den Wertsachen auf und warf einen hastigen Blick hinein. Schubert fiel auf, dass sie Egger nicht beraubt hatte.

»Ziemlich magere Ausbeute, was?«, sagte sie. Dass Sie gerade jemanden getötet hatte, war ihr ganz offensichtlich reichlich egal. Sie blickte sich nicht einmal um, während das Blut bereits aus dem Büro herauslief.

Dann warf sie Schubert einen nachdenklichen Blick zu. Er hätte am liebsten in diesen tiefgrünen Augen gebadet. »Wie bist du hier?«, fragte sie.

»W-was?«

»Wie du hier bist? Hast du ein Auto?«

»J-ja. Hab ich. Steht draußen. Ist aber nur ein alter Punto.« Warum hatte er das jetzt gesagt? Was interessierte sie, welche Art Auto er fuhr? Das hier war kein Date.

»Scheiß egal, du kommst jetzt mit. Sonst endest du wie die Sau da drinnen«, sagte sie und hob in einer drohenden Geste den Eispickel.

»WAS?«, schrie Schubert.

»Du kommst mit, hab ich gesagt. Wir müssen hier weg. Und ich kann nicht fahren. Also wirst du fahren. Los jetzt, beweg deinen Arsch.«

Und Schubert bewegte seinen Arsch. Er würde in der nächsten Zeit ziemlich oft seinen Arsch bewegen, auch wenn er das jetzt noch nicht wusste. Er glaubte, seine letzte Stunde hätte geschlagen, und in gewisser Weise stimmte das auch. War sein Flehen nicht erhört worden? Und jetzt würde sich tatsächlich alles ändern. Anfangs verständlicherweise mehr, als Schubert lieb sein konnte.

Zweites Intermezzo - Geteilte Gedanken

Im dem sterilen Verhörraum, der kein Verhörraum war, sondern eigentlich ein Sprechzimmer, dessen Einrichtungsexperten offenbar den rustikalen Kamin mit dem flauschigen Vorleger sowie die gemütliche, dunkelfarbene Couch vergessen hatten, lehnte Walter Henning sich vor und verkniff die Augen zu einem ungläubigen Blick.

»Sie wollen mir damit sagen, Sie haben nicht einen weiteren Moment lang Fluchtgedanken gehegt? Ich meine, da droht jemand, Sie umzubringen, wenn Sie nicht tun, was er Ihnen sagt. Und Sie kommen gar nicht erst auf den Gedanken, abzuhauen? Hatten Sie denn keine Angst um Ihr Leben?«

Schubert setzte ein leichtes Lächeln auf. Er blickte nicht auf, die Arme hatte er verschränkt.

»Was ist so komisch daran?«, fragte Henning.

»Was so komisch ist? Kann ich Ihnen gern erklären. Erstens können Sie sich diese Nummer sparen. Ich meine, tun Sie doch nicht so, als würden Sie nicht begreifen, was ich Ihnen hier erzählt habe. Wir ziehen diesen ganzen Kram hier jetzt ab, seit -«, Schubert überlegte für einen Moment, »- drei, vier, sind es vier? Seit vier Tagen reden Sie stundenlang auf mich ein. Und jetzt erzähl ich Ihnen tatsächlich, was Sie hören wollen, und dann kommen Sie mir mit diesem Das-ist-ja-unglaublich-Mist. Nun, ich beginne langsam, Sie zu mögen. Und wenn es nur ist, weil Sie sich bei Ihrer Psychoonkel-Nummer so trottelig anstellen. Seien Sie einfach ehrlich, dann bin ich es auch, solange ich dafür ab und an meine kleinen Pausen kriege. Okay?«

Henning hatte die Arme nun ebenfalls verschränkt und lachte mit geschlossenem Mund. »Ja, ist okay. Ganz, wie Sie wollen. Was ist zweitens?«

»Wie?«

»Zweitens. Sie haben gesagt, dies wäre erstens. Was ist dann zweitens?«

»Ach so.« Schubert kratze mit der gesunden Hand über seine Schläfe. »Zweitens ist davon abhängig, ob Sie tatsächlich nicht so ganz verstehen, weshalb ich nicht daran dachte, mich zu verdrücken.«

»Nein, so ganz verstehe ich das wirklich nicht«, sagte Henning wahrheitsgemäß.

»Hm, na gut.« Schubert sah zur Zimmerdecke und suchte nach einem passenden Einstieg. Dann fragte er: »Sind Sie verheiratet?«

Henning zog die Stirn kraus, schien sich dann jedoch an ›Erstens‹ zu erinnern, und so lockerte sein Gesichtsausdruck sich wieder auf. »Seit fast zwanzig Jahren«, sagte er und nickte dazu, als würde er versuchen, zu verstehen, wie tatsächlich schon zwanzig Jahre ins Land gezogen sein konnten, seit er irgendwo zu einer glücklich lächelnden Frau »Ja« gesagt hatte.
 
»Glückwunsch. Ich sagte Ihnen ja bereits, dass es bei mir in Sachen Frauen niemals wirklich glatt lief. Wollen Sie wissen, wie viele es waren? Ja? Halten Sie sich fest! Ich hatte ganze zwei Freundinnen in meinem scheiß Leben. Meine letzte, echte Beziehung, wie sie es nennen würden, liegt über zehn Jahre zurück. Ich hatte mit ganzen drei Frauen Sex, bis ich auf Patricia traf. Und eine von diesen dreien war eine Nutte. Klasse, was? Tja, und dann sitzt plötzlich dieser wahr gewordene Männertraum neben mir. Perfekt in jeder Hinsicht, von der Optik bis zum Duft. Sie konzentriert sich nur auf mich, redet mit mir und mit niemandem sonst. Die einzigen Frauen, die das sonst taten, waren entweder meine Mutter oder Gertrud, die Hobbyseelsorgerin aus der Bank.« Henning hatte ein zerknirschtes Gesicht aufgesetzt. »Jetzt schauen Sie mich nicht so an, als hätte ich gesagt, Scheiße würde wie Milchreis schmecken. So war’s nun einmal leider«, sagte Schubert.

»Tut mir leid. Das ist mein Gesicht, und dafür kann ich nichts. Ich gucke einfach so, ohne dass ich’s merke«, sagte Henning und Schubert musste lachen.
 
»Sie sind wohl echt ein Komiker. Vielleicht im Zweitjob, wenn Sie Ihre Kladde da mal zur Seite gelegt haben, was?«, sagte Schubert.

Henning lachte leise und nickte. »Man kann mich ab und an auf einer kleinen Bühne sehen, ja«, sagte er und wendete seinen Blick ab, als würde er sich dafür schämen.

»Ach was. Sie? Poetry Slam oder was?« Schubert schlug mit der linken Hand auf sein Knie und lachte.

»So etwas in der Art, ja«, sagte Henning. Dann schien er sich plötzlich daran zu erinnern, dass er hier nicht mit Freunden beim Bier in der Kneipe saß, und sein Gesicht nahm wieder einen ernsteren Ausdruck an. Meine Güte, der Kerl hier war ein Mörder. Ein charmanter vielleicht, aber das machte die Toten nicht weniger tot, nicht wahr?

»Sie waren also einfach nur hin und weg, was?«, fragte Henning. Er begann wieder, im Akkord irgendwelche Sätze, die eher aus unleserlichen Kürzeln zu bestehen schienen, in seine Unterlagen zu kritzeln.

»Wenn Sie das für’s Protokoll brauchen? Könnte man zumindest so sagen«, antwortete Schubert. Wieder einmal sah er sich etwas hektisch um. »Können wir- können wir vielleicht eine Pause machen?«

Henning hob den Kopf. »Hm? Oh.« Er sah auf seine Armbanduhr. Es war kurz vor sechzehn Uhr. Sie saßen hier nun seit geschlagenen vier Stunden. »Ja, wir machen ohnehin gleich Schluss. Ich würde noch gern wissen, worüber Sie geredet haben, während Sie unterwegs waren. Und warum Sie sich dazu entschieden haben, ausgerechnet bis Stuttgart zu fahren. Ist schließlich kein Katzensprung.«

»Ich? Entschieden?« Schubert hob den Kopf und gab ein schallendes Lachen von sich. »Sie Witzbold! Ich hatte in dem Moment, wie Sie eigentlich wissen sollten, noch recht wenig zu sagen. Patricia wollte dorthin. Ich ganz bestimmt nicht! Sie meinte, wir müssten sehen, dass wir möglichst bald sehr weit weg kämen, weil uns die Bullen wohl ziemlich schnell auf den Fersen wären. Warum es ausgerechnet Stuttgart sein musste, sagte sie mir nicht. Ich fragte sie ja sogar danach, weil ich in Stuttgart geboren bin und bis zu meinem zehnten oder elften Lebensjahr dort mit meiner Mutter verbracht hatte, bevor sie in Köln ihre neue Stelle bekam. Patricia lachte nur und sagte, ich solle lieber fahren, statt dumme Fragen von mir zu geben.«

»Sie haben also gar nicht weiter mit ihr geredet?«, fragte Henning und hob dann abwehrend die Hände. »Oh, entschuldigen Sie bitte. Ich wollte Sie nicht unterbrechen. Reden Sie nur weiter.« Er setzte seinen Stift auf das vorgedruckte Papier und schrieb weiter.

»Doch, haben wir«, sagte Schubert. »Ich fragte sie, warum sie das getan hatte und dergleichen. Mir war ja nicht entgangen, dass sie lediglich die Bankangestellten und nicht die Bank selbst ausgeräumt hatte. Sie lachte wieder und meinte, dass sie mit den registrierten Scheinen ohnehin nichts anfangen könne. Und wissen Sie, was sie dann tat?«

»Nein, woher auch? Erzählen Sie es mir«, sagte Henning in mechanischem Tonfall, während er anscheinend jedes Wort mitschrieb.

»Sie öffnete das Fenster und warf den Beutel mit den gestohlenen Wertsachen raus. Einfach so. Das war irgendwo auf der A3. Und sie lachte dabei ausgelassen wie ein kleines Mädchen auf der Schaukel.«

»Hab davon gehört. Der Beutel wurde später gefunden.«

»Glaub ich gern. Ich schrak natürlich auf und fragte, ob sie verrückt geworden sei. Dann fiel mir ein, dass ich lieber vorsichtig bei dem sein sollte, was ich sagte. Wahrscheinlich fühlte ich mich einfach schon viel zu sehr zu ihr hingezogen und konnte nicht mehr klar denken.« Schweigen trat ein und Schubert sah gedankenverloren auf den Tisch vor sich. Er zog die Luft tief ein und seufzte. Dann sprach er weiter: »Sie hatte mich längst in ihrem Bann. Ich- ich war schon in diesem Augenblick verschossen, würde ich sagen. Und sie? Sie nahm es mir noch nicht einmal übel, dass ich gefragt hatte, ob sie verrückt geworden sei. Sie meinte einfach nur, dass ihr der ganze Mist so oder so egal sei. Es ginge doch nur um den Spaß, um den Ausbruch aus der Gesellschaft, einfach das zu tun, was man wollte und wofür man normalerweise einige schmerzhafte Schläge auf die Finger bekommen würde. Sie wissen schon, die ganze Palette eben. Ich fragte sie, ob auch dazu gehöre, Leute umzubringen, und sie sagte, dass das schon mal vorkommen könne und dass manche Arschlöcher da draußen es ohnehin nicht besser verdient hätten. Ich dachte dann an Egger und fand plötzlich, dass sie gar nicht so falsch lag. Sie erzählte viel über ihre Ansichten, über ihre Gedanken. Und mit jedem Wort fesselte sie mich mehr. Ich fing an, sie zu verstehen, ich würde sogar sagen, ich begann, ihre Einstellung für mich zu akzeptieren. Na ja, ich war wahrscheinlich ohnehin anfällig, weil sie doch eigentlich genau die Überzeugungen vertrat, die sich mit meinen Vorstellungen von einem besseren Leben deckten.«

Henning setzte den Stift ab und unterbrach ihn abermals. »Ach so? Welche Vorstellungen hatten Sie denn?«

»Hab ich das nicht schon erwähnt? Wissen Sie, ich glaube, das Schlimmste an meinem alten Leben war einfach die Gewissheit, dass ich ein beschissenes Zahnrad in einem System der Reichen und Mächtigen sein würde, bis ich wegen Abnutzung verschlissen wäre und man mich austauschen müsste. Tja, und nun kam diese Frau daher, der ich ohnehin alles geglaubt hätte, und sie traf mit ihrem Gerede von einem besseren Leben genau ins Ziel. Ich denke, damit begann die Fassade meines bisherigen Lebens zu bröckeln, und ich erkannte, dass darunter etwas Besseres lag.«

»Klingt nachvollziehbar, wenn auch nicht vernünftig, doch ich glaube, die Vernunft war genau Ihr Problem, oder?«, hakte Henning nach.

»Wenn Sie das so sagen? Ich denke, schon, ja. In gewisser Weise stimmt das. Diese Frau wich einfach in jeder Hinsicht von dem ab, was ich an der Gesellschaft so verachtete. Bis auf eine Sache.« Schubert begann, zu kichern. Er räusperte sich und sagte: »Patricia musste mindestens genauso oft auf die Toilette wie jede andere Frau. Ich glaube, das war der einzige Punkt, der mich davon abhielt, in ihr eine echte Göttin zu sehen. Keine Ahnung, wie oft ich auf Raststätten halten musste, während wir unterwegs waren.«

»Sie blieben doch nicht etwa allein im Auto zurück, während sie auf der Toilette war?«, fragte Henning. Er war nun dabei, seine Unterlagen zu Stapeln zu sortieren und in seiner Kladde zu verstauen.

»Meistens schon. Es sei denn, ich musste auch pinkeln«, sagte Schubert und zuckte mit den Schultern.
 
»Nach Fluchtgedanken muss ich wohl nicht noch einmal fragen«, sagte Henning und stieß die Luft aus, als hätte gerade eine schwere Last abgesetzt.
 
»Das haben Sie richtig erkannt. Und falls Sie sich fragen, warum Patricia mir vertraut hat, nun, ich würde sagen, gerade einem Mann sieht man ziemlich schnell an, wenn er sich so richtig über beide Ohren verknallt hat.« Schubert lächelte, und Henning gab ein verstehenden Nicken von sich.

»Das war’s dann jetzt. Sie kriegen Ihre Pause, und wir machen morgen weiter.«

Die Polizisten, die am Eingang des Zimmers Wache hielten, kamen, um Schubert nach draußen zu führen. Kurz bevor sie den Raum verlassen hatten, hielt Schubert plötzlich an. »Ach, Henning? Eine Frage hätte ich auch noch«, sagte er und drehte sich um. Henning, der noch dabei war, seine ausgebreiteten Unterlagen fein säuberlich zusammenzupacken, blickte auf und runzelte unsicher die Stirn, als hätte Schubert ihn unvorbereitet erwischt.
 
»Ja, bitte?«

»Warum bin ich hier?«, fragte Schubert.

»Was?«

»Warum bin ich hier? Ich bin doch nicht blöd. Das hier ist kein Gefängnis, das ist eher so etwas wie ‘ne Klapse.«

Henning erzwang sich ein Lachen, was Schubert selbstverständlich registrierte. »Ach so«, sagte er. »Weil Sie ein Sonderfall sind. Sie haben keine Bonbons im Aldi um die Ecke geklaut oder einer Großmutter die Handtasche weggenommen. Das hier sind ganz andere Dimensionen.«

»Aha.«
 
 
 
Während Thomas Schubert, begleitet von zwei bewaffneten Wachen, die ihn wie aufmerksame Eltern beaufsichtigten, über den verlassenen Hof ging, dabei rauchte und Kieselsteine durch die Gegend trat, stand Walter Henning beobachtend auf dem Gang am Fenster und dachte über die vorherige Unterhaltung nach. Bauer, der Leiter der Einrichtung hatte sich soeben zu ihm gesellt und sah nun ebenfalls nach draußen.

»Und, läuft’s jetzt besser?«, fragte Bauer.

»Es wird. Ich glaube, er wird so langsam wieder der alte«, sagte Henning. Bauer warf ihm darauf einen fragenden Blick zu. »Wie meinen Sie das?«, fragte er.

»Nun, ganz einfach. Als ich ihm zum ersten Mal begegnete, dachte ich, ich hätte einen Macho vor mir, wie er im Buche steht. Einen zweiten Andreas Baader, wenn man so will. Dieser Thomas Schubert war so abgebrüht und gleichzeitig so aufmüpfig wie ein kleines Kind. Und jetzt scheint er sich doch tatsächlich zu normalisieren. Ich glaube, er entwickelt sich wieder zu dem, der er mal war. Und ich würde Einiges darauf verwetten, dass  man ihn in zwei, drei Wochen wieder an einen Bankschalter stellen könnte, und die Leute würden denken, was für ein netter Mann. Ein wenig schüchtern vielleicht, aber doch irgendwie angenehm nett und  zuvorkommend. Ich empfinde ihn jetzt schon als sehr sympathisch. Wirklich erstaunlich.«

Bauer sagte nichts und drehte den Kopf wieder zum Fenster hin. Draußen ging Schubert weiter seine Runden. Er sprach nicht, während er rauchte. Die Augen hatte er gedankenverloren auf den Boden gerichtet.

»Halt jetzt einfach die Klappe, ja?«

Die Waffe lag kalt und schwerer als erwartet in Schuberts Hand. Eine Beretta, hatte Patricia ihm erklärt. Aber hatte er es nicht ohnehin irgendwoher gewusst? Wahrscheinlich schon. Er saß auf der Bettkante des kleinen Doppelzimmers, das sie soeben in der Stuttgarter Olgastraße für eine Nacht angemietet hatten. Am nächsten Tag würden sie wahrscheinlich weiterziehen müssen, ganz gleich, ob sie wollten oder nicht. Von links nach rechts drehte er die Waffe, darauf achtend, wie das warme Licht der Lampe über ihm vom Metall des Pistolenlaufs reflektiert wurde. Hatten sie das alles wirklich getan? Wie hatte er nur in einen solchen Schlammassel geraten können, in nur so kurzer Zeit? Vor drei Tagen noch, hatte er in Hemd (das er noch immer trug) und Krawatte in der Bank gesessen und sich Eggers Klugscheißerei angehören müssen. Und dann war Patricia wie aus dem Nichts erschienen, als hätte Gott persönlich sie entsandt, hatte ihn aus seinem tristen Leben des arbeitenden Pöbels herausgerissen, ihn zu sich genommen, ihn an ihrer Seite akzeptiert. Und nun war er wohl ihr Sklave. Er war ihr verfallen, gehörte ganz ihr. Sie wusste das, und er spürte, dass sie es genoss. Doch gehörte sie nicht auch ein Stück weit ihm? Oh doch, das tat sie. Schubert konnte auch das spüren. Da war diese Verbundenheit, die er nicht in Worte kleiden konnte.

Im Nebenzimmer hörte er das Plätschern des Wassers. Patricia duschte, und wie sehr wünschte er sich, in diesem Augenblick zu ihr gehen zu können, ihren nackten, nassen Körper zu berühren, über die samtene Haut zu fahren, sie zu küssen, ihren Duft in sich aufzusaugen. Vielleicht schon bald. Nicht heute, doch bald ganz sicher, dachte Schubert. Ja, auch das spürte er.

Gedankenverloren blickte er in den Lauf der Waffe. Meine Güte, dachte er. Wie hatte er das nur tun können? Vor knapp vierundzwanzig Stunden hatte er mit dieser Waffe tatsächlich gemordet. Er erinnerte sich daran, wie surreal er den Augenblick empfunden hatte, in dem Patricia Egger den Eispickel ins Auge gestoßen hatte. War es bis zu diesem Moment nicht unmöglich gewesen, dass er, Thomas Schubert, ein Niemand, irgendwo im Nirgendwo, ein schlecht geöltes Glied in der Kette der Gesellschaft, jemals einen Mord mit ansehen würde? Und nun war er selbst zum Mörder geworden. Zum Mörder für diese Frau, für Patricia, die er zu lieben glaubte, zu lieben wie nichts und niemanden jemals zuvor.



Die Dunkelheit hatte sich bereits wie eine dicke Wolldecke über den Himmel ausgebreitet, als sie auf den Rastplatz gefahren waren. Zu lange hatten sie sich unterwegs in Motels aufgehalten, geredet, Gedanken ausgetauscht, gelacht und zusammen in einem Bett geschlafen. Nie miteinander, doch was hatte das schon zu bedeuten? Nun waren sie nur noch wenige Kilometer von Stuttgart entfernt - später als gedacht, schließlich hatten sie einige Schleichwege eingeschlagen, drei mal das Auto gewechselt. Doch besser spät als nie, nicht wahr? Was sie letztlich tun sollten, wenn sie erst dort wären, hätten sie nicht sagen können. Wahrscheinlich das, was sie ohnehin bereits taten.

Auf dem Rastplatz hatte es eine hübsche Tankstelle gegeben. Keine Kundschaft und ein reichlich verschlafen aussehender Tankwart im gemütlichen Alter, dessen Fitness auf den ersten Blick zu wünschen übrig ließ. Patricia hatte gegrinst. Ihre Augen hatten feurig gefunkelt. Und er hatte gewusst, was sie wollte. Sie würden heute wohl nicht für das Benzin bezahlen müssen, wahrscheinlich eher noch mit ein wenig Kleingeld zusätzlich von hier verduften. Schubert hatte ihr gesagt, dass er das nicht für eine gute Idee hielt. Die Überwachungskameras, eventuelle Kundschaft, die nach ihnen eintreffen würde. All das würde die Polizei ziemlich schnell auf ihre Spur bringen, oder nicht? Und die Bullen würden ihnen so oder so schon längst dicht auf den Fersen sein. Doch dann hatte Patricia ihn wieder sanft geküsst, seinen Realitätssinn betäubt, wie sie es bereits zuvor einige Male getan hatte, bevor sie ahnungslose Reisende auf den Rastplätzen, an und abseits der Autobahnen, bedroht und bestohlen hatten und dann lachend und scherzend geflüchtet waren. Patricia war ihm mit ihren Fingern sanft wie eine Feder über die Stirn gefahren, dann über seine raue, mittlerweile unrasierte, Wange und schließlich über seinen nicht mehr protestierenden Mund. Sie hatte ihm bittende Blicke zugeworfen, die Lippen leicht geöffnet gehabt und so das erwartungsvollste Gesicht zur Schau getragen, das man sich vorstellen konnte. Wie hätte er da noch widersprechen sollen?

Schließlich hatten sie in die Tankstelle ohne weiteres Wenn und Aber betreten, hatten geschrien, Flaschen, Zeitschriften und all den anderen käuflichen Schund aus den Regalen gerissen. Patricia hatte den verdutzten Tankwart bedroht, ihn dazu aufgefordert, das Geld rauszurücken, während Schubert weiter Chaos gestiftet hatte. Dann plötzlich - er hatte gerade einige Whiskeyflaschen zu Boden geworfen - hatte er ihren schrillen Schrei vernommen. Er war zu ihr gerannt und hatte wie in Zeitlupe sehen können, wie der Tankwart die Hand hob, in der er die Beretta hielt. Er hatte sie auf Patricia gerichtet, dabei gezittert und aufgeregt irgendetwas gestammelt. Schubert hatte nicht verstehen können, was es gewesen war. Wie in Rage war er nach vorn gestürzt, hatte sich geradezu über die Theke geworfen. Und wie ein Footballspieler hatte er den Tankwart von den Beinen gerissen. Zusammen waren sie nach hinten gestürzt, und hatte sich dabei nicht ein Schuss gelöst? Oder war nur etwas heruntergefallen und auf dem Boden zerschellt? Schubert hätte es in diesem Augenblick nicht genau sagen können.

Die Wand hinter dem Tankwart, die den Verkaufsbereich vom Büro trennte, hatte den Sturz gebremst. Die Berette war unter der Wucht des Aufpralls aus der Hand des Tankwarts gerutscht und über den Boden geschlittert. Darauf hatte er versucht, Schubert mit der Faust ins Gesicht zu schlagen, ihn jedoch nur gestreift. Schubert hatte sofort zurückgeschlagen. Verdammt, dieser Kerl hätte Patricia schließlich beinahe ein Loch in ihr wunderbares Gesicht geschossen. Wieder und wieder hatte Schubert zugeschlagen, bis der Tankwart sich kaum mehr geregt hatte.

»Nimm die Pistole, los!«, hatte Patricia geschrien. Er hatte nicht gezögert, war blitzartig zu der Waffe hinübergerannt, so als hätte der Tankwart jederzeit wieder zu sich kommen können.

Anschließend hatten sie die Kasse nach Geld durchsucht. Auch das Hinterzimmer. Viel mehr als dreitausend Euro hatten sie jedoch nicht zusammenbekommen. Dennoch genug für einige weitere Tage, in denen sie als Gesetzlose durch die Gegend ziehen würden wie Bonnie und Clyde. Bonnie und Clyde, der Vergleich hatte Schubert auf Anhieb gefallen, als er ihm in den Kopf gekommen war, und er gefiel ihm auch jetzt.

Unter der Theke hatten sie einige Schachteln Patronen für die Beretta gefunden. War das überhaupt legal? Schubert war sicher gewesen, dass die Polizei sich sehr wohl für den Umstand interessiert hätte, dass ein übervorsichtiger Tankwart ein halbes Waffenarsenal hier lagerte.

Trotz des kleinen Zwischenfalls mit dem Tankwart war die ganze Sache bis zum Schluss gut gelaufen. Doch dann, ausgerechnet dann, hatte der Kerl ein ausgezeichnetes Timing bewiesen und war zu sich gekommen. Er hatte genuschelt, um Hilfe gerufen und irgendwelche wirren Sätze von sich gegeben, während er sich aufgerappelt hatte. Patricia hatte große Augen bekommen. Schubert hatte wieder dieses Funkeln in ihrem Blick entdeckt, als sie ihn am Arm ergriffen und leise gesagt hatte: »Bitte, erschieß ihn! Knall ihn ab! Du musst das tun.«

»WAS?« Die Frage war mehr als Schrei aus Schuberts Mund gekommen. Er konnte sich doch wohl nur verhört haben. »Das- das kann ich nicht-«

Doch Patricia hatte ihn eindringlich angesehen, das elfengleiche Gesicht so ernst, so verletzlich. »Er hätte mich fast getötet«, hatte sie gesagt. Schubert hätte schwören können, dass sie den Tränen nahe gewesen war.

In Schuberts Kopf hatte jetzt eine große Rallye begonnen. Vernunft trifft Wahnsinn, ein Wettrennen, ein Rennen um den großen Preis. Er hatte sich gefühlt, als würde sein Verstand sich selbst in zwei Teile zerreißen. Und immer wieder hatte sie auf ihn eingeredet. »Erschieß ihn! Los, bitte! Er wird uns verraten. Knall das Schwein ab!« Sein Blick war von ihr zu dem Tankwart gependelt, der nun irgendwelche hastigen Bewegungen hinter seiner Theke ausgeführt hatte. Vielleicht einen Notrufknopf gedrückt? Patricia hatte Recht gehabt. Dieser Typ würde alles erzählen, doch das wäre egal. Sie hatten sich nicht die Mühe gemacht, nach den Überwachungsbändern zu suchen, falls diese sich überhaupt hier befunden hatten. Doch das Arschloch hatte versucht Patricia zu erschießen. Einfach so, wegen ein paar dämlichen Kröten, die er nicht rausrücken wollte.

Schubert hatte gespürt, dass in diesem Moment ein Schalter in ihm umgelegt wurde. Sie hatte ihn umgelegt. Zähnefletschend war er auf den Tankwart zugestürmt, hatte die Waffe auf ihn gerichtet und abgedrückt. Drei Kugeln hatte er abgefeuert. Die erste hatte den Mann in die Brust getroffen, und er hatte Schubert mit einem schmerzverzerrten Warum-ausgerechnet-ich-Blick angesehen. Die zweite Kugel war daneben gegangen und hatte ein kleines Stück aus der Wand gerissen. Die dritte schließlich hatte Schubert zufällig genau zwischen die Augen des Kerls abgefeuert. Wie ein Sandsack war der Tankwart zu Boden gestürzt. An der Wand dahinter hatte sich ein dunkler Fleck aus Blut, Gehirnmasse und Schädelsplittern ausgebreitet. Schubert hatte nicht hingesehen. Er war zu Patricia zurückgegangen, hatte nicht gewusst, ob er lächeln oder sie entsetzt ansehen sollte. Und nun spürte er einen Schmerz in der rechten Schulter.

Dann waren sie geflüchtet. Und hatte Patricia dabei nicht wieder wie ein aufgeregtes, kleines Mädchen gelacht? Oh ja, das hatte sie. Welch liebliches Geräusch.



Schubert legte die Waffe auf den Nachttisch neben dem Doppelbett. Er atmete tief durch und ließ sich zurück sinken. Man würde nun auch nach ihm suchen. Bald würde man nicht nur von der verrückten Bankräuberin berichten, sondern vom verschollen Mörderpärchen. Schubert hörte wieder das Plätschern des Wassers im Badezimmer, hörte, wie Patricia sich wusch, sich all die Verbrechen abwusch, bis sie wieder makellos rein sein würde. Sie war perfekt. Und er war an ihrer Seite. Das verschollene Mörderpärchen. Schubert lächelte. Der Gedanke bereitete ihm Freude.

Als er sich nun im Zimmer umsah, fiel sein Blick auf den kleinen Fernseher, der auf der Anrichte hinter dem Fußende des Bettes stand. Ob man in den Nachrichten bereits über sie berichten würde? Ziemlich sicher, oder nicht? Er schaute auf seine Armbanduhr. Kurz nach zwanzig Uhr. Vielleicht war es keine gute Idee, doch-

Schubert schaltete den Fernseher ein, bevor er weiter darüber nachdenken konnte. Mit der Fernbedienung zappte er sich durch die Kanäle und blieb beim ARD hängen. Politikgedöns und Wirtschaftsblabla säuselten an ihm vorüber. Irgendwo bauten sie eine Straße, die nicht fertig wurde. Einige Idealisten sprachen sich mit bunt bemalten Laken gegen das Bildungssystem aus. Undsoweiterundsofort. Wen interessierte der ganze Scheiß überhaupt? Wen wohl? Den alten Schubert beispielsweise. Der hätte sich all den Mist reingezogen wie eine alte Frau, die nichts besseres zu tun hat, als den ganzen Tag am Fenster zu hängen, um den neusten Klatsch und Tratsch mitzubekommen. Doch den neuen Schubert interessierte all das beileibe nicht mehr. Warum auch sollte ihn der ganze Müll dieser Welt noch interessieren, nun, wo er die absolute Überfrau an seiner Seite hatte? Eben.

Gerade war er dabei, langsam ins Land der Träume hinüberzudriften, als die Wörter Bank und Köln ihn wie Spannfedern zurück ins Bewusstsein rissen. Er starrte wie gebannt auf den Bildschirm. Sein Herzschlag hatte sich beschleunigt. Seine Augen waren aufmerksam auf die Lippen des Sprechers gerichtet. ...einmal mehr darauf hinweisen, sich in Acht zu nehmen, falls Sie sich derzeit in Baden-Württemberg aufhalten und mit dem Auto unterwegs sein sollten. Nachdem bereits am Morgen des sechsten August -

Plötzlich färbte der Bildschirm sich schwarz. Schubert richtete sich überrascht auf. Patricia stand neben ihm. Die Fernbedienung hielt sie in der Hand.

»Was soll das? Das war über uns?« fragte Schubert protestierend. Patricia, die nur ein Badetuch um sich geschlungen hatte, legte ihm einen Finger auf die Lippen.

»Willst du das alles denn wirklich wissen? Hm? Willst du hören, wie sie Dinge über dich und mich erzählen, die uns unnötig aufregen, weil sie überhaupt nicht stimmen? Willst du das?«

Schubert musterte ihren kaum verhüllten Körper. »Vielleicht will ich das«, sagte er so leise, dass er fast hypnotisiert klang.

Patricia kicherte. »Ich aber nicht«, sagte sie in so zärtlichem Ton, dass keine weiteren Einwände mehr den Weg über seine Lippen fanden. Sie stieß ihn mit den Händen sanft nach hinten auf das Bett.

»Was-«, begann Schubert. Doch weiter kam er nicht. Elegant hatte sie das Handtuch zu Boden sinken lassen. Er merkte nicht, wie sein Mund immer weiter nach unten klappte, als wäre sein Kiefer plötzlich ziemlich ausgeleiert. Sein Blick wanderte über ihre makellose, weiße Haut, geführt von ihren perfekten, gleichmäßigen Kurven. Sie hatte den Rücken durchgestreckt, die Hände in die Hüfte gestützt und wow, wie brachte sie damit diese festen, kleinen Brüste zur Geltung, die ihm frech entgegen ragten. Falls Schubert zuvor tatsächlich nur geglaubt hatte, die schönste Frau der Welt an seiner Seite zu haben, spätestens jetzt wusste er es sicher. Weiter und weiter wanderten seine Augen über ihren Körper, den sie ihm darbot, als wäre sie zur Skulptur erstarrt. Seine Blick fuhr langsam über ihren Bauchnabel, weiter abwärts, über das Wunderwerk, das man bei anderen Frauen vielleicht eine Fotze oder sonst wie abwertend nennen konnte, über den oberen Teil ihrer straffen Schenkel, den er vom Bett aus noch sehen konnte.

»Halt jetzt einfach die Klappe, ja?«, sagte sie und schenkte ihm ein verschmitztes Lachen. Schubert hätte ohnehin nichts mehr sagen können. Seine Sprachfähigkeit hatte er vorerst eingebüßt. Geschmeidig wie eine Raubkatze kletterte Patricia auf ihn. Er packte sie an der Hüfte, zog sie näher an sich. Und, oh Gott, hatte er jemals etwas so Wundervolles mit seinen Händen ertastet?

Schubert hatte wahrlich nicht damit gerechnet, und doch, in dieser Nacht liebten sie sich. In dieser und noch in zwei weiteren.

Drittes Intermezzo - Die Flamme erlischt

Walter Henning seufzte. Sein Gesicht machte auf Schubert einen nachdenklichen Eindruck. Doch hinter dem dicken Schnäuzer, verborgen hinter der vorgehaltenen Müdigkeit, konnte Schubert ziemlich deutlich dessen scharfe Aufmerksamkeit entdecken. Denn da war dieser Glanz in seinen Augen. Ein berechnender, ein wissender Glanz.

»Was denken Sie?«, fragte Schubert, der die Ellbogen auf den Tisch gestützt hatte.

»Hm?« Henning tat so, als würde er aus einer Träumerei erwachen. Weshalb spielte er dieses Spiel, fragte Schubert sich. Wie viele Sitzungen hatten sie in diesem Raum hier bereits hinter sich gebracht? In jedem Fall genug. Und wie oft hatte Schubert ihm schon deutlich gemacht, dass er hinter seine Fassade schauen konnte, wenn er es wollte? Eigentlich oft genug. Also warum das Theater?

»Nun, Herr Schubert, ich will ehrlich mit Ihnen sein. Ich habe ein Problem. Sie erzählen Ihre Geschichte hier annähernd so, als würden Sie von Ihrem schönsten Urlaub berichten. Von einer Städtereise. Ein bisschen Sightseeing im hübschen Deutschland. Und man könnte meinen, im nächsten Moment legen sie die tollsten Fotos auf den Tisch. Meine Güte, Sie haben in Stuttgart, wie viele Geschäfte überfallen? Fünf? Sechs?«

»Nun ja, ich glaube, insgesamt haben wir acht mal zugeschlagen. Ja.« Schubert schaute betreten nach unten. Doch das ließ Henning erst recht in Rage geraten. Er schlug mit der Faust auf den Tisch.

»In der Königsbaupassage haben Sie Angst und Schrecken verbreitet. Auf der Königstraße auch. Und am Bahnhof schließlich ebenso. Ganz abgesehen davon, dass Sie dort drei Polizeibeamte umgebracht haben. Man, kapieren Sie das nicht? Ich hab das Gefühl, Sie fallen in Ihren alten Trott zurück, so, als wären Sie eben von der Arbeit nach Hause gekommen. Als man Sie vor einem Monat zum ersten Mal in diesen Raum hier gesetzt hat, da hatte ich das Gefühl, Billy the Kid wäre soeben zum Leben erwacht. Und jetzt sitzen Sie hier wie ein schüchterner Schuljunge. Hallo? Sie haben Menschen getötet! Reden Sie DARÜBER mit mir. Ich möchte, dass Sie mir, verdammt noch mal, die Gründe-«

»Und ich will Patricia sehen«, unterbrach Schubert seinen Vortrag. Doch er wirkte nicht annähernd so aufgebracht wie Henning. Wie ein nasser Sack hockte er auf seinem Stuhl, und der Ton in seiner Stimme verriet eher Hoffnungslosigkeit als Leidenschaft. Dieser Mann entglitt Henning. Wenn diese Entwicklung weiter so voranschritt, würde Schubert sich bald nicht einmal mehr an die Geschehnisse erinnern. Er redete schließlich jetzt schon, als würde er die übrig gebliebenen Fetzen ergrauter Erinnerungen an eine Geschichte zitieren, die er ihm in seiner Jugend erzählt worden war. Und dieses Entgleiten, diese Machtlosigkeit, ließ Henning in Panik geraten. Eine Panik, die ihn so wütend machte.

»Schubert, Mann! Wie oft soll ich Ihnen noch sagen, dass das hier kein Erholungspark ist? Kein Wunschkonzert. Haben Sie irgendwo ein Schild gesehen, auf dem ›Willkommen auf dem Ponyhof‹ steht?« Henning sah, dass sich Tränen in Schuberts Augen sammelten. Jetzt musste er einen Gang zurückschalten. So würde er nicht vorankommen.

»Sie können hier keinen Besuch empfangen. Das wissen Sie doch«, sagte Henning und gab sich alle Mühe, das Temperament im Klang seiner Stimme zu drosseln.

»Ja, ich weiß«, antwortete Schubert. Seine Stimme hatte nun fast schon einen Flüsterton angenommen. »Fragen Sie einfach, was Sie wollen, ja? Ich möchte das hier hinter mich bringen und allein sein.«

Henning blätterte in seinen Notizen, tat so, als suchte er nach seinem Fragenkatalog. Wieder dieses Getue.

»Nun gut. Entschuldigen Sie bitte meinen Gemütsausbruch. Ich- ich habe schlecht geschlafen«, sagte Henning. Ohne auf eine Antwort zu warten, begann er mit seinen Fragen: »Sagen Sie, diese Serienüberfälle in der Innenstadt. Worum ging es Ihnen da? Geld wollten Sie nicht erbeuten?«

»Ach was. Geld hatten wir doch mehr als genug. Das sollten Sie wissen. Wir zogen durch billige Hotels, verbrachten in keinem mehr als eine Nacht. Und für diese Absteigen reichte das, was wir bei uns hatten, locker aus. Nein, es ging um den Spaß.«

»Um den Spaß dabei, Leuten Angst zu machen? Menschen zu töten?«

»Nein«, sagte Schubert mit wackeliger Stimme. Er schüttelte seinen Kopf, als wollte er alles leugnen. »Nein, nein. Ach, Sie verstehen es ja doch nicht. Es war Patricia. Sie- Sie musste mich nur ansehen, sie hatte dieses verschmitzte Lächeln, als wollte sie mir sagen, dass ich ihr unbedingt den großen Bären auf dem Rummel schießen sollte. Sie steckte mich einfach an. Wissen Sie, sie hat mir gezeigt, wie es ist, wenn man lebt. Aber wenn ich Ihnen das jetzt lang und breit erkläre, sagen Sie mir eh, dass ich Ihnen das schon erzählt habe, nicht wahr?«

Henning überging die Frage. »Wie man lebt. So. Haben, ähm, Sie diese Polizisten getötet, Herr Schubert? Oder war es diese Frau?« Wie wild notierte er sich alle möglichen Dinge in seinen unzähligen Bögen. Schubert schaute ihm ab und an auf die Finger, konnte die Schrift jedoch nicht entziffern.

»Hören Sie auf, sie so zu nennen. Bitte. Patricia ist kein Möbelstück. Und ja, ich war es. Ich hab geschossen. Patricia stürzte sich auf sie, lenkte sie ab und ich schoss, bevor sie sie erschießen konnten. Und, nun, ich war eben immer schneller.«

Henning blickte wieder auf, sah Schubert in die Augen. Mit der Zunge leckte er sich über die Oberlippe. Dann fragte er weiter: »Und das Schießen? Das haben Sie also von ihr gelernt, ja?«

Ein kurzes Lächeln huschte über Schuberts Gesicht, bevor es wieder den betreten frustrierten Ausdruck annahm, den Henning in den letzten Tagen fast nur noch zu sehen bekam.

»Sie sagte, ich wäre ein Naturtalent. Sie zeigte mir eigentlich nur, wie ich mit der Waffe umzugehen hatte. Sie sagte, ich müsste die Pistole nur so behandeln, wie ich sie berühren würde. Das tat ich. Und sie hatte Recht. Es ging wirklich leicht.«

Henning nickte verstehend. »Und auf Menschen zu schießen? Das machte Ihnen dann nichts mehr aus?«

Schubert schwieg. Er hob seinen Kopf und starrte in das grelle Licht der Neonröhren an der Decke. »Ich- ich weiß es wirklich nicht mehr.Vielleicht machte es mir anfangs etwas aus. Doch ich glaube, ich habe nicht mehr darüber nachgedacht. Wissen Sie, das- das Adrenalin. Das und die Angst, dass sie Patricia erschießen würden. Ich hab- nun, ich hab einfach abgedrückt. Aber das alles sehe ich wie hinter einem Schleier. Tut mir leid.«

»Bereuen Sie, was Sie getan haben, Herr Schubert?«, fragte Henning sichtlich interessiert.

Wieder benötigte Schubert einige Augenblicke für seine Antwort. Henning zeigte dies jedoch nur, dass er sehr wahrscheinlich ehrlich meinte, was er sagen würde.

»Ja, doch. Ich meine, ich bereue nicht, mich auf Patricia eingelassen zu haben. Denn was waren all die Jahre zuvor wert, all die grauen Jahre, im Gegensatz zu diesen aufregenden Tagen? Aber die toten Menschen. Doch, das-« Schubert holte tief Luft und stieß einen langen Seufzer aus. »Das tut mir wirklich aufrichtig leid. Das hätte nie passieren dürfen. Ich denke, ich war wie in- war in«

»In Trance?«, half Henning ihm auf die Sprünge.

»Ja, so könnte man es wohl sagen«, schloss Schubert an. »Und ich würde es ungeschehen machen, wenn ich könnte. Doch das kann ich nunmal nicht.«

»Sie würden es ungeschehen machen? Auch, wenn das bedeuten würde, dass sie an ihrem letzten Arbeitstag nie, also, niemals gegangen wären?«, fragte Henning. Er blickte in seine Kaffeetasse, die leer war. Zeit für eine kleine Pause, dachte er.

Wieder musste Schubert für einen kurzen Moment schmunzeln. Dann schaute er Henning in die Augen. »Nein, dann nicht.«

Henning nickte.


Walter Henning dehnte das Interview auf eine weitere halbe Stunde aus. Er stellte seine Fragen, wollte, dass das Gespräch seinen Verhörcharakter behielt. Ließ er Thomas Schubert allzu viel Freiraum, driftete er immer wieder in die gleichen Reden über seine Passion ab. Henning hatten diese Ausflüge seines Patienten anfangs ungemein fasziniert. Doch boten sie keine wirklich neuen Erkenntnisse mehr. Und so hielt er es für klüger, knappe, auf den Punkt gebrachte Antworten herauszukitzeln, die dem Puzzle um die Akte Schubert einige weitere, wenn auch kleine, Teile hinzufügten.

Henning sah auf seine Armbanduhr, so als hätte er tatsächlich die Zeit vergessen. »Herr Schubert, was halten Sie von einer Pause? Meine Kaffeetasse ist leer und ausgetrocknet. Und Sie möchten vielleicht ein wenig verschnaufen. Ich denke, anschließend können wir uns auch kurz fassen. In allerspätestens anderthalb bis zwei Stunden muss ich ohnehin zu einem Termin.

»Klingt gut«, sagte Schubert und bemühte sich um ein ehrliches Lächeln. Einmal mehr wurde Henning klar, dass hier der Bankangestellte Thomas Schubert vor ihm saß. Da brannte keine verheerende Flamme mehr in diesem Mann. Nur ab und an glimmte der ein oder andere Funke auf. Längst kein Buschfeuer, nicht das, was Henning sich gewünscht hätte, doch man musste eben mit dem arbeiten, was man zur Verfügung hatte.

»Wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte Schubert plötzlich, als Henning sich gerade erhoben hatte, »würde ich anschließend selbst noch einmal einige Fragen stellen.«

Henning wirkte etwas überrascht, obwohl er versuchte, eine natürliche Ruhe zu bewahren. »Nun ja, das kommt darauf an. Was liegt Ihnen denn auf dem Herzen?«

Schubert schwieg. Er rieb sich mit der Hand an seinem stoppeligen Kinn und dachte nach. Dann blickte er, so selbstsicher, wie es ihm nur möglich war, direkt in Walter Hennings Augen und sagte: »Machen Sie endlich reinen Tisch. Was soll das alles hier? Sie sagen, ich sei ein besonderer Fall. Warum? Weshalb diese Isolation? Und was soll diese Zelle? Meinen Sie, ich hätte nicht schon bemerkt, dass die Wände gepolstert sind? Und sagen Sie nicht, die normalen Zellen wären alle belegt.«

Henning hielt seinem Blick bewusst stand. In Anbetracht der Tatsache, so dachte er, dass er Schubert allmählich verlor und eher das Gefühl hatte, auf der Stelle zu treten, war es vielleicht wirklich an der Zeit, einen Schritt weiter zu gehen. Schubert würde anschließend genug Zeit bekommen, zu sich zu kommen. Er würde sich vielleicht sogar noch einmal aufbäumen, den Revolvermann aufleben lassen, der nun in den letzten Atemzügen lag. Anschließend könnte er sich beruhigen und wer weiß? Vielleicht würde der nächste Termin endlich neue Erkenntnisse und einige Einsichten von Wert bringen.

Und so nickte Henning. »Ist gut. Ich denke während der Pause darüber nach, doch ich denke, das sollte gehen.«

Augenblicklich entspannte Schubert sich und nickte zurück. Und während Henning auf dem Weg zum Kaffeeautomaten darüber nachdachte, wie Schuberts Bitte am geschicktesten nachkommen könnte, wurde sein Patient von den bewaffneten Wachmännern auf den Hof begleitet, wo er seine obligatorische Runde ging und nachdenklich schweigend zwei Zigaretten rauchte.

»We got fun and games.«

Thomas Schubert steuerte den Escort unauffällig aus der Stadt. Wie ein umherziehender Jahrmarkt bei der Abreise versuchten Patricia und er, sich ohne großes Aufsehen davonzuschleichen. In Stuttgart hatte es schließlich genug Aufregung gegeben. Mittlerweile wimmelte die Innenstadt vor wachsamen Polizeipatrouillen in Alarmbereitschaft. Vermutlich hatten sie sogar die ein oder andere Straßensperre eingerichtet. Daher versuchte Schubert gar nicht erst, über die Autobahn zu fahren. Eine schnelle Abreise würde sehr wahrscheinlich ein ebenso schnelles Ende bedeuten. Patricia hatte vorgeschlagen, nach Köln zurückzukehren. Sollte ihnen dort ebenso der Boden unter den Füßen zu heiß werden, würden sie nach Hamburg weiterziehen. Oder Berlin. Oder nach Scheißegal-Stadt, denn schließlich standen alle Tore dieser Welt sperrangelweit für sie offen, solange sie auf ihren Allerwertesten aufpassten und schnell genug die Kurve kratzten, wenn es brenzlig wurde.  

Schubert warf einen Blick auf den Beifahrersitz, während er, die zulässige Höchstgeschwindigkeit beachtend, über die Landstraßen Baden-Württembergs fuhr. Bei Patricia konnte er sich eben nie so ganz sicher sein, was sie im nächsten Moment anstellen würde. Sie war wie unberechenbares Wetter. Mal ließ sie die schönste und hellste Sonne erstrahlen, und nur wenig später verwandelte sie sich in einen wahnwitzigen Sturm. Ein fraugewordene Tageszeitenklima. Doch liebte er sie nicht gerade deswegen so sehr? Oh ja, das tat er.

Patricia hatte sich scheinbar dazu entschlossen, den Nachmittag mit ihrem mild gestimmten Gemüt zu beglücken. Sie durchwühlte das Handschuhfach, zog einige Zettel heraus und ließ sie fallen, suchte weiter und fand schließlich eine kleine Stofftasche, die offenbar mit CDs gefüllt war. Als sie die Sammlung der von Hand beschrifteten CDs durchging, legte sich ein kindliches Lächeln auf ihr Gesicht.

»Der Typ, dem wir die Rostlaube hier abgenommen haben, mag sich vor Angst fast in die Hosen geschissen haben, aber eines muss man ihm lassen. Er hat einen ziemlich geilen Musikgeschmack«, sagte sie und strahlte ihre Sonnenstimmung aus.

»So? Was haben wir denn im Angebot?«, fragte Schubert, der den Blick wieder auf die Straße gerichtet hatte.

»Eine Menge rockiges Zeug. Lass dich überraschen, Schatzi«, antwortete Patricia und zog eine CD aus einem der Fächer. Sie schob sie in den CD-Player des Autoradios und stupste die Play-Taste an. Nach einigem Vorgeplänkel riss Axl Rose seine Fingernägel-auf-Tafel-Stimme in die Höhe und kreischte ein herzliches ›Welcome to the jungle‹ durch die Lautsprecher. Schubert grinste.

»Oha. ›Appetite for Destruction‹, stimmt‘s? Ja, das passt. Das kannst du gleich auf Repeat stellen, Süße«, sagte er und gab Patricia einen leichten Klaps auf den Oberschenkel. ›We got fun and games.‹ Spaß hatten sie, oh ja.


Axl Rose plus Band hatten etwa anderthalb Runden im CD-Player gedreht, als Schubert den Escort an einem größeren Parkplatz vorbeifuhr.

»Fahr da mal rauf«, sagte Patricia und zeigte zu den stehenden Autos hinüber.

»Warum willst du halten? Sag nicht, du willst schon wieder ein Auto klauen. Oder brauchst du eine Pinkelpause? Hm, oder hast du‘s so nötig, dass ich‘s dir gleich hier besorgen muss«, fragte Schubert und grinste.

Patricia warf ihm einen gespielt entnervten Blick zu. Dann lachte auch sie. »Nein, Jungchen. So gut bist du auch wieder nicht. Ich dachte einfach nur, wir holen uns ein paar neue Nummernschilder. Wir haben echt Glück, dass die Bullen uns noch nicht gefunden haben.«

Schubert spürte, wie ihn ein plötzlicher Schauer durchfuhr. Er riss die Augen auf und holte hörbar Luft. »Puh«, sagte er. »Meine Fresse, bin ich blöd!« Wütend schlug er mit der Hand aufs Lenkrad. »Da hätte ich doch, verdammt noch mal, selbst drauf kommen müssen.«

»Ach, dafür hast du doch mich«, hauchte Patricia ihm ins Ohr und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Augenblicklich löste sich Schuberts Spannung, und er sank in seinen Sitz zurück.

»Okay, dann lass uns das tun«, sagte er und fuhr auf den Parkplatz. ›Take me down to the paradise city where the grass is green and the girls are pretty‹ röhrten die Roses aus den Lautsprechern.


»Weshalb muss ich eigentlich immer die ganze Drecksarbeit erledigen?«, fragte Schubert, während er die Kennzeichen eines baugleichen Ford Escorts aus Heidelberg abschraubte, den Patricia beim Rangieren auf dem Parkplatz entdeckt hatte.

Patricia, die mit überkreuzten Beinen an das Auto gelehnt stand, das Schubert gerade bearbeitete, und ihm dabei zusah, stieß ein lautes Lachen hervor. »Weil ich das schon oft genug getan habe. Du musst doch auch was lernen, wenn du bei mir bleiben willst«, sagte sie.

»Warum redest du eigentlich nie darüber? Ich meine, über das, was vorher war?«

»Vielleicht tue ich das ja eines Tages. Vielleicht tue ich‘s auch nicht. Vielleicht habe ich ja weniger erlebt, als du denkst. Wir sollten uns nicht alles übereinander erzählen«, sagte sie und warf richtete einen verträumt wirkenden Blick in den Himmel, an dem weiße Cumuluswolken wie friedlich schlafende Schafe hingen.

»Falls du Angst hast, ich könnte den Bullen zu viel über dich er-«

Patricia unterbrach ihn, indem sie laut prustete. »Nein, Schätzchen«, sagte sie und grinse ihn an. »Das würdest du nicht tun, das weiß ich.«

»Weshalb dann? Weshalb bist du so verschlossen? Manchmal habe ich das Gefühl, ich meißle bei dir an einem gigantischen Granitblock herum.«

»Vielleicht solltest du dieses Gefühl auch behalten. Was machst du denn, wenn ich zulasse, dass du so viel von meiner Schale abträgst, dass du in den Kern blickst, nur um festzustellen, dass ich ein Granitblock bin, der mit nichts weiter als Granit gefüllt ist?«

»Besteht denn diese Gefahr?«, fragte Schubert und blickte Patricia fest in die Augen. Er spürte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte. Den Schraubendreher ließ er unbeachtet sinken.

»Glaube ich nicht. Aber vielleicht entdeckst du einige andere Dinge, die du gar nicht entdecken willst. Weißt du, wenn man zu viel über den anderen weiß, dann zerstört das die Liebe«, sagte Patricia und lächelte Schubert zärtlich zu.

»Ist das so?«, fragte er. »Meine Erfahrungen bezüglich Frauen halten sich in Grenzen, wie du weißt. Sonst würde ich nicht so blöd fragen.«

»Ja, das ist so. Wenn du jahrelang verheiratet bist und dein Gegenüber wie deine Westentasche kennst, dann erstickt das jedes Feuer, jede Leidenschaft. Keine Überraschungen bedeuten, dass keine Spannung mehr existiert. Und keine Spannung bedeutet schließlich, dass das große Feuer ausgeht. So ist das nachgewiesenermaßen. Und ganz ehrlich, Schätzchen, ich glaube, so ist das nicht nur mit der Liebe.«

»Womit denn noch?«

Patricia verschränkte die Arme und sah wieder nachdenklich zum Himmel hinauf. »Tja«, sagte sie und holte tief Luft. »Mit allem eben. Du hast es doch selbst durchgemacht. Dein altes Leben war nichts als ein großer Haufen trockenes Herbstlaub, das dabei war, langsam zu verrotten. Und weshalb? Weil du jeden Tag denselben Scheiß durchlebt hast. Hast du dein Leben geliebt? Nein. Aber weißt du, trockenes Laub kann man anzünden, und dann brennt es. Es verbrennt vielleicht schnell, aber ist das nicht allemal besser, als wenn es vergammeln würde? Ich hab das sofort erkannt, als ich dich gesehen habe, und deswegen habe ich ja auch dich ausgewählt. Und jetzt«, sie kicherte, » jetzt brennst du.«

Mit einem Lächeln auf den Lippen beugte sie sich zu Schubert hinunter. Sie fuhr ihm mit den Händen sanft über die unrasierten Wangen und küsste ihn tief und innig. Ein Kuss, der ihren Worten Nachdruck verlieh. Schubert brannte. Und wie!

»Du wirst schon noch genug über mich erfahren«, flüsterte sie ihm schließlich zu. In ihren Augen konnte Schubert ein Glänzen entdecken, das entweder Hoffnung oder Belustigung auszudrücken schien. Vielleicht auch ein wenig von beidem. »Und vielleicht verrate ich dir eines Tages sogar die ganz großen Geheimnisse über mich. Sei ein bisschen geduldiger und lass dich überraschen.« Dann tippte sie ihm mit dem Zeigefinger auf die Nase. »Und jetzt schraub die Dinger endlich ab, damit wir hier wegkommen.«

Schubert blickte auf seine Hand und stellte fest, dass er den Schraubendreher fallengelassen hatte. Er gab ein überraschtes »Oh« von sich, lachte über sich selbst und hob ihn wieder auf.


›Appetite for Destruction‹ hatte eine gute Hand voll Durchläufe hinter sich, als sie Köln tatsächlich erreicht hatten. Schubert wäre damit im Prinzip wieder zu Hause gewesen - in seinem alten Leben. Doch dies war nicht sein altes Leben. Nun war sein Zuhause überall und vor allem immer dort, wo diese Frau hinging.

»Langsam wird das Zeug langweilig. Soll ich eine andere CD einlegen?«, fragte Patricia.

»Hm, hast du die beiden ›Use Your Illusions‹ auch im Angebot?«

»Da kennt sich aber einer aus. Passt so gar nicht zu dir«, sagte sie kichernd. »Nummer eins oder zwei?«

»Dann bitte die Nummer eins. Und was heißt hier, die passen nicht zu mir? Das verbitte ich mir«, antwortete Schubert mit gespielter Empörung. »Das Zeug hab ich in meiner Jugend wie verrückt gehört. Da glaubt man eben noch, man könne die Welt erobern. Und was gäbe es da besseres als Guns N‘ Roses?«

»Hm, und nun eroberst du sie mit mir zusammen. Ist das nicht passend? Okay, dann also Nummer eins.« Patricia wechselte die CD und drückte die Play-Taste. Während wummernde Bässe durch das Auto fegten, lehnte sie sich entspannt zurück. Sie ließ ihren Blick langsam durchs Auto wandern, bis dieser auf dem Seitenspiegel verharrte. Direkt hinter ihnen fuhr ein silberner BMW.

»Der hinter uns kommt aber recht nah ran. Du solltest mal auf die Bremse treten, dann zerbeult er sich die Karre. Geschieht dem Recht.«

Schubert warf nun ebenfalls einen Blick in den Rückspiegel. »SCHEISSE«, brüllte er. »Der Typ hat ein Funkgerät. Das sind verdammte Drecksbullen.« Er schaltete einen Gang runter und trat das Gaspedal durch. Die Reifen quietschten, als der Escort aus dem Schneckentempo heraus beschleunigte.

»Jaaaa, zeig denen, was ‘ne Harke ist«, rief Patricia und lachte, während sie mit den Händen freudig erregt auf ihre Beine trommelte. Da war es wieder, das Tageszeitenklima. Gerade hatte sie ihren alles verwüstenden Wirbelsturm losgetreten, und so würde Schubert diesen Mistkerlen eben wirklich zeigen müssen, was eine Harke ist.

Als er wieder in den Rückspiel sah, konnte er erkennen, dass der Beifahrer im Auto hinter ihnen unentwegt ins Funkgerät sprach. Der Fahrer hatte ebenfalls beschleunigt. Dieses Pack abzuhängen, dachte Schubert, würde wohl kein Problem darstellen. Da hatten sie in den letzten Tagen schon ganz andere Kaliber erlebt. Mehr als Verstärkung rufen, konnten diese Feiglinge ohnehin nicht.

Jetzt ging alles ziemlich schnell. Später sollten die nun folgenden zwei Minuten tatsächlich fast vollständig aus Schuberts Gedächtnis getilgt sein. Er riss das Lenkrad an einer wenig befahrenen Kreuzung nach rechts, zog die Handbremse an und schaffte es so gerade noch, um die Kurve zu driften. Hätte er nur einen Wimpernschlag später reagiert, wäre die Fahrerseite des Escort in eine Ampel gekracht.

»Wo hast du denn das gelernt?«, feixte Patricia und klatschte wild in die Hände.

Schubert war derweil nicht nach Lachen zumute. »Ganz ehrlich?«, fragte er hastig. »Zu viele Computerspiele. Mehr nicht.«

Jetzt lachte Patricia noch lauter. »Na, also DAS passt dann aber doch sehr zu dir. Du Wohnzimmer-Cowboy!«

Schubert beschleunigte auf der Geraden, während er in den Rückspiegel sah. Die Polizisten erwiesen sich als ziemliche Kletten. Auch sie hatten es geschafft, die Kurve zu nehmen und hingen nun noch immer an ihnen. Schubert wagte einen Kontrollgriff an seinen Hosenbund. Er konnte den kalten Stahl der gesicherten Beretta fühlen. Sollte es brenzlig werden, nun, er würde vorbereitet sein.

»Zerschieß ihnen die Reifen!«, rief Patricia ihm zu, die seinen Griff zur Waffe bemerkt hatte.

»Nein, das ist Quatsch. Das klappt nie im Leben. Ich versuche was anderes. Halt dich fest, Baby!« Und mit diesen Worten riss Schubert das Lenkrad herum, dieses Mal nach links. Er brachte den Escort auf die Gegenfahrbahn. Ein Bus hielt auf sie zu, dessen Fahrer nun im Staccato auf die Hupe schlug. Doch Schubert wich nicht aus. Seine Hände hatten sich um das Lenkrad verkrampft. Er spürte den Schweiß zwischen seinen Fingern.

»Jaaaa, du bist der Größte«, rief Patricia ihm zu, die sich, so grotesk es eigentlich war, köstlich zu amüsieren schien.

»Jeeeetzt«, schrie Schubert sich selbst zu und riss das Lenkrad abermals nach links. Der Escort zog haarscharf links an dem schlingernden Bus vorbei, der sich nun mitten auf der Kreuzung befand und vom Fahrer scharf abgebremst wurde. Schubert lenkte noch einmal nach links und bog reifenquietschend in die Kurve ein, die nun von dem Bus blockiert war. Schubert konnte im Rückspiegel sehen, dass nun niemand mehr durchkommen würde. Wenn das die Bullen nicht abwimmeln würde, dann würden sie zumindest an Abstand verlieren, dachte Schubert bleckte höhnisch die Zähne, ohne es selbst zu merken. Patricia jubelte ihm vom Beifahrersitz zu, als wäre sie wahnsinnig geworden. Doch waren sie nicht beide längst wahnsinnig, fragte Schubert sich für einen kurzen Augenblick, bevor er seinen Blick vom Rückspiegel wieder zurück auf die Straße richtete und -

    -    die Blockade erblickte, die von der Polizei direkt vor ihnen errichtet worden war.

»Scheiße, die haben uns. Die haben uns verdammt noch mal in der Falle.« Der Escort hielt nun mit voller Geschwindigkeit auf die Polizeisperre zu, die aus mehreren Einsatzwagen und unzähligen Beamten bestand. Panisch kurbelte Schubert am Lenkrad, griff zur Handbremse und versuchte so, im letzten Augenblick zu wenden. Doch ausgerechnet jetzt hatte er um den Hauch eines Moments zu spät reagiert, und so krachte der Escort unkontrolliert gegen eine Straßenlaterne, die ihn augenblicklich ausbremste und Schubert sowie Patricia nach vorn schleuderte. Die Airbags öffneten sich und drückten sie wieder nach hinten. Schubert war für einen kurzen Augenblick desorientiert, doch die Unmengen an Adrenalin holten ihn sofort ins volle Bewusstsein zurück. Sofort richteten sich seine Gedanken auf Patricia. Ein Blick auf den Beifahrersitz verriet ihm, dass sie ganz offensichtlich unverletzt war. Viel mehr noch, sie lachte! Diese Frau lachte selbst jetzt noch. War das zu fassen?

»Mach, dass du auf den Rücksitz kommst!«, rief Schubert ihr zu. Sie löste ihren Gurt und krabbelte schließlich nach hinten. Noch immer kicherte sie wie ein kleines Mädchen. Schubert unterdessen war das Lachen gehörig im Hals stecken geblieben. Ein weiterer Kontrollgriff verriet ihm, dass die Beretta noch dort saß, wo sie sitzen sollte. Immerhin. Denn jetzt könnte es heiß hergehen.

›Right next door to hell hatte‹ hatte Axl gekreischt, bevor die Straßenlaterne dem Radio den Garaus gemacht hatte. Zu viel Wahrheit für einen Song. Aber wenn es so sein sollte, nun, dann musste ein Mann eben tun, was er tun musste. Schubert sah auf den Rücksitz. Patricia blickte ihn gespannt an. Sie fletschte die Zähne und sagte im schneidenden Ton: »Zeig‘s ihnen! Los!«

Jetzt ergoss sich auch über Schuberts Gesicht ein erwartungsfrohes und zugleich bitterböses Grinsen. Wenn diese Typen es auf ein Gefecht anlegten, dann sollten sie auch eines bekommen. Patricia wollte es so, und wollte er es nicht eigentlich auch? Er löste seinen Gurt und kurbelte das Fenster auf seiner Seite des Autos herunter. Dann zog er die Beretta, entsicherte sie und gab einen Schuss in Richtung der Polizeisperre ab. Dies war der Startschuss. Die Antwort kam sofort.

Viertes Intermezzo - Geklärte Verhältnisse?

Als die beiden Wärter Thomas Schubert in den Verhörraum zurückführten, saß Walter Henning bereits wieder an seinem Platz. Den Kaffee hatte er scheinbar schon während der Pause hinuntergekippt und sich für die restliche Sitzung keine neue Tasse besorgt. Stattdessen lag eine zusammengefaltete Tageszeitung vor ihm auf dem Tisch: ein Kölner Stadt-Anzeiger. Mit der rechten Hand  hielt er die gefaltete Seite der Zeitung fest und knickte sie vor und zurück, während die Finger seiner anderen Hand ungeduldig auf den Tisch klopften. Sein ernster Blick suchte den der Wärter, die ihm unauffällig und verstehend zunickten. Dann führten sie Schubert, der auf Henning einen glücklicherweise gefestigten Eindruck machte, an seinen Platz.

»Und, haben Sie sich die Beine ein wenig vertreten?«, fragte Henning, der sich um einen gelassenen Tonfall bemühte.

»Denke schon, ja. Mehr als spazieren kann man hier in den Pausen ja kaum. Und rauchen natürlich. Könnte also kaum besser sein. Oder den Umständen entsprechend. Ganz, wie Sie wollen. Wenn Sie also nichts dagegen haben, würde ich Sie gern noch einmal-«, begann Schubert, als Henning eine Hand hob und ihn unterbrach.

»Ja, Sie wollen natürlich Ihre Fragen beantwortet haben. Ich denke, wir sollten uns dann auch auf genau das beschränken. Alles andere zu seiner Zeit.«

»Hm, mehr wollte ich jetzt auch gar nicht«, sagte Schubert und lächelte. »Dann legen Sie mal los, Doc. Bin gespannt.«
Henning, dem ganz offensichtlich nicht zum Scherzen zumute war, seufzte schwer. Er blickte auf die vor ihm liegende Zeitung herab und bemerkte, dass seine Finger sich fest um das Papier krampften. Augenblicklich ließ er locker und strich den Rand der Zeitung glatt. Dann sah er zu Schubert, suchte die Nervosität in dessen Blick, die er selbst jetzt gerade so zu verbergen versuchte.

Schubert jedoch hatte bereits einige Male seine Beobachtungsgabe unter Beweis gestellt. »Sie schwitzen«, sagte er trocken und deutete mit der Hand auf Hennings Stirn.

»Was? Oh, ich bin ein wenig, nun ja, unruhig. Vielleicht zu viel Kaffee. Der schlägt mitunter ziemlich auf den Magen.« Ein deutlich erkennbar unechtes Lächeln umspielte Hennings Mundwinkel.

»Aha, wie Sie meinen. Und was wollen Sie mit der Zeitung?« Schubert nickte auf den zusammengefalteten Stadt-Anzeiger und fixierte dann erneut die Schweißperlen, die Hennings Stirn zum Glänzen brachten.

»Nun, also-«, begann Henning und räusperte sich. »Entschuldigung. Die Zeitung hier hab ich für Sie mitgebracht. Ich habe während der Pause hin- und her überlegt, wie ich Ihre Frage beantworten könnte, aber Sie wissen ja selbst, wie das manchmal ist.«

»Sie meinen, es ist schwer, den richtigen Einstieg zu finden?«, warf Schubert ein und zog die Augenbrauen hoch.

»Ja, genau. Und in gewissen Situationen ist es wohl am besten, die Karten sofort offen auf den Tisch zu legen. Und das-«, sagte Henning und nickte auf die Zeitung, »nun, das habe ich hiermit wohl fast schon sprichwörtlich getan.« Er atmete tief durch und schloss für einen Moment die Augen. Anschließend sah er Schubert mit ernst blickenden Augen an. Schubert derweil erkannte sehr deutlich ein Zittern auf Hennings Lippen, von dem er nicht so recht wusste, ob er es als Angst oder doch eher als Aufregung deuten sollte. Allmählich beschlich auch ihn ein leichter Anflug von Nervosität, den er jedoch zu überspielen wusste.

»Nur mit der Ruhe. Was soll das hier denn werden?«, fragte Schubert und grinste plötzlich. »Wollen Sie mir ein Liebesgeständnis machen?«

»Ganz ehrlich, Herr Schubert. Ich glaube, das wäre mir leichter gefallen. Aber lange Rede, kurzer Sinn. Am besten sehen Sie selbst. Nun, erst mal herzlichen Glückwunsch. Sie haben es bis auf die Titelseite gebracht.« Mit diesen Worten schob Walter Henning seinem Patienten die Zeitung zu. »Falten Sie sie auseinander. Der Artikel ist nicht zu übersehen, wie Sie sehen werden.«

Schubert legte die Stirn in Falten, die sein Unverständnis sichtbar machten und warf Henning einen ebenso fragenden Blick zu. Dann griff er nach der Zeitung, die bereits reichlich zerknüllt war, klappte sie auf und-

Tatsächlich, da war er, der Artikel. Und wie Henning es gesagt hatte, war er nicht zu übersehen, zumal er sogar ein Porträtfoto enthielt, auf dem Thomas Schubert sich mit brav gekämmtem Scheitel und Anzug, inklusive Krawatte wieder fand.

Er begann zu lesen, während Henning ihn ziemlich genau im Blick behielt. Er konnte fast wie in Zeitlupe beobachten, wie ein fragender Blick in völlige Verwunderung überwechselte, in welche sich zunehmendes Entsetzen schlich.
 
 
Bankangestellter läuft Amok!

KÖLN - Ein Angestellter der Sparkasse Köln-Bonn ist am gestrigen Donnerstag in einer Filiale nahe des Hauptbahnhofs in Köln Amok gelaufen. Nachdem er seine Kollegen bedroht und deren Wertsachen an sich genommen hatte, tötete er den Leiter der Filiale mit einem Eispickel, bevor er laut Aussagen der anwesenden Zeugen wild schreiend die Bank verließ. Der Täter ist noch immer auf Flucht.

Der Vorfall ereignete sich am Donnerstag, den 6. August, um die Mittagszeit, wie die Polizei inzwischen bekannt gab. Bisher ist nur wenig über die tatsächlichen Lebensumstände des Täters bekannt, der jedoch offenbar unter schweren Depressionen litt. Von den Kollegen des Amokläufers, die zugleich Zeugen des Geschehens waren, konnte in Erfahrung gebracht werden, dass [...]
 
 
Schubert blickte langsam von der Zeitung auf. In seinen Augen konnte Henning ein zorniges Funkeln entdecken. Die Flamme mochte erloschen gewesen sein. Nun war sie definitiv wieder entfacht worden. Er war sich sicher, nun genau den Thomas Schubert wieder vor sich zu haben, den er anfangs als Patient angenommen hatte.

»Was soll der Mist? Die haben mich verarscht«, sagte Schubert, dessen Stimme vor Wut bebte. Die Zeitung raschelte und riss ein, während er sie zusammenknüllte. »Das hier ist totaler Scheiß. So war das nicht. So war es NIEMALS GEWESEN.« Unter seinem plötzlichen Brüllen zuckten selbst die Wärter hinter ihm für einen kurzen Moment zusammen. Henning warf ihnen einen unsicheren Blick zu, den sie wiederum nickend erwiderten, um dann einen Schritt näher an Thomas Schubert heranzutreten.

»Herr Schubert, es tut mir leid. Ich weiß, dass Sie Ihre Geschichte glauben. Das haben Sie in jedem Augenblick bewiesen. Aber, nun-« Henning rang nach den richtigen Worten, doch gab es hier überhaupt noch richtige Worte? Welche Worte konnten schließlich die passenden für einen Menschen sein, der an seine eigene Realität glaubte, die fernab der Wirklichkeit war?
 
»Herr Schubert, Sie sind sehr, sehr krank.«

»WAS SOLL DAS HEISSEN?«, schrie Schubert und sprang auf. Sofort waren die Wärter zur Stelle, um ihn auf seinem Stuhl zu halten.

»Herr Schubert, Ihre Geschichte, die, nun, die gibt es nur in Ihrem Kopf. Himmel, wie sage ich es am besten? Scheiße. Herr Schubert, diese, also diese Frau, die hat es nie gegeben. Es hat- es hat die ganze Zeit nur Sie gegeben. Sie allein«

Schuberts Mund verzog sich zu einem höhnischen Grinsen. Er begann zu kichern, wurde lauter, bis ein lautes und unmenschliches Lachen den Raum erfüllte.

»Herr Schubert. Es gibt viele Zeitungsartikel, die ich Ihnen zeigen könnte. Es gibt Überwachungsvideos, die beweisen, dass Sie-«

»NEIN! Jetzt hören Sie zu. Das kann nicht sein. Soll das hier ein beschissenes Experiment werden, ja? Den Dreck hier, den haben Sie doch selbst verfasst. Ich bin nicht Ihre verdammte Laborratte, Sie Mistschwein!«

»Ich denke, Sie brauchen jetzt ein wenig Ruhe. Ich kann verstehen, dass Sie aufgeregt-«

»ICH BRAUCH KEINE RUHE!«, schrie Schubert. Sein Gesicht war puterrot angelaufen und Tränen rannen über seine Wangen. An seinem Hals zeichneten sich die angespannten Sehnen ab. Henning wich auf seinem Stuhl zurück, beobachtete dabei aber dennoch Schuberts Reaktionen so genau, wie es ihm noch möglich war. Ja, dieser Mann würde bald verstehen. Es würde seine Zeit brauchen, aber er würde verstehen.

Doch augenblicklich war davon nichts zu erkennen. Nein, jetzt ließ Schubert die Luft brennen. Er kreischte, versuchte sich vom Stuhl loszureißen, auf dem die Wärter ihn noch immer festhielten. Doch auch sie hatten mittlerweile Probleme, diesen Mann im Zaum zu halten, der trotz der Verletzung in seiner Schulter viel mehr Kraft in sich zu haben schien, als man ihm ansah.

»Ich- ich hole sofort einen Arzt. Und ich hole Verstärkung«, rief Henning, der sich nun nur allzu gut vorstellen konnte, wie es geschehen konnte, dass dieser eigentlich völlig unauffällige Mensch so sehr gewütet hatte. »Halten Sie durch«, sagte er und sprang so hektisch von seinem Stuhl auf, dass dieser nach hinten umkippte.

Schubert rang immer heftiger mit den Wärtern. Er warf den Kopf wild von links nach rechts, während er sie wüst beschimpfte und versuchte, sich loszureißen. Dabei stieß er mit den Beinen mehrfach gegen den Tisch, so dass Hennings Kaffeetasse zu Boden fiel und laut scheppernd zu Bruch ging. Dann plötzlich wurde es völlig ruhig, und der Sturm war fürs Erste vorbei. Den Arzt würde Schubert, der das Bewusstsein verloren hatte, nun wirklich benötigen.

»Du glaubst ihnen doch kein Wort, oder?«

Als Thomas Schubert endlich erwachte, dröhnte sein Schädel, als wäre er mit einem Dampfhammer bearbeitet worden. Es dauerte einige Augenblicke, bis die unerträgliche Erinnerung in ihm heraufdämmerte. Henning hatte ihm ziemlich deutlich klargemacht, dass er ungefähr der durchgeknallteste Vollidiot im hiesigen Diesseits war. Und Patricia? Alles Hirngespinste? Konnte es sein, dass er sich selbst angeschmiert hatte? Die ganze Zeit über nur er mit sich selbst? Aber hatte er sie nicht mit all seinen Sinnen wahrgenommen? Ihre Schönheit mit eigenen Augen gesehen? Was war mit dem lieblichen Klang ihrer Stimme? Hatte er nicht die Wärme ihrer Haut gespürt, ihren Duft geatmet, ihre Lippen geschmeckt? In seinem Kopf rasten die Fragen wie verirrte Geschosse von A nach B und durchschlugen mit zerstörerischer Kraft jeden klaren Gedanken. Erschöpft versuchte Schubert, tief durchzuatmen, doch selbst das wollte nicht gelingen. Er fühlte sich, als hätte jemand einen riesigen Felsbrocken auf ihn gelegt.

Dann endlich öffnete er langsam die Augen, nur um einmal mehr in kaltes, grelles Licht zu blicken, dass aus leise surrenden Neonröhren von der Decke auf ihn herabfiel. Mit einiger Mühe hob er seinen Kopf ein Stück weit an und sah sich in dem sterilen Zimmer um. In seinem linken Arm hing eine Nadel, durch die eine Infusion sich ihren Weg in seinen Körper bahnte. Musste offensichtlich irgendein Beruhigungszeug sein. War das nicht witzig? Da behandelten sie jemanden, der sich ein kurzes aber komplettes Leben lediglich eingebildet hatte, indem sie ihm eine Nadel in den Arm donnerten und ihn mit Flüssigdrogen ruhig stellten. Ja, das Leben konnte so einfach sein, wenn man nur wusste, wie.

Mit dem rechten Arm wollte Schubert gerade die Infusionsnadel aus seinem Arm ziehen, als er bemerkte, dass sie ihn offenbar festgebunden hatten. Auch der andere Arm ließ sich nicht bewegen, ebenso wenig wie seine Beine. Mit dem, ihm zur Verfügung stehenden, Bisschen Kraft rüttelte Schubert an den Schnallen. Keine Chance. Ja, sie hatten es sich tatsächlich sehr leicht gemacht. Stellt den Bekloppten in ein leeres Zimmer und lasst ihn pennen, bis er wieder zu sich kommt und klar denken kann. Schubert musste unwillkürlich grinsen. Ein heiseres Kichern schlich durch seinen geschlossenen Mund nach außen, wurde lauter und steigerte sich allmählich in ein hysterisches Lachen.

Es dauerte keine zwei Minuten, bis die Tür aufflog und ein Weißkittel mit Halbglatze und dickglasiger Hornbrille ins Zimmer stürmte. An seiner Seite hatte er zwei Hilfsschwestern, die dem festgeschnallten Patienten unsichere Blicke zuwarfen. Ja, alle haben sie die Zeitung gelesen, dachte Schubert und musste nun noch lauter lachen. Als er zunehmend lauter wurde und wütend zu zappeln begann, hielten die Schwestern ihn am Bett fest. Eine von ihnen begann, seine Schnallen fester zu ziehen, bis Schubert das Gefühl hatte, gleich würden sie ihm die Blutzufuhr endgültig abklemmen. Und noch immer blickten sie drein wie Hänsel und Gretel vor der bösen Hexe. Derweil schraubte der Arzt eifrig an der Infusion herum, drückte die Nadel an Schuberts Hand wieder fest und nickte seinen Schwestern zu. Jetzt, wo augenscheinlich für den behandelnden Arzt alles wieder in Ordnung war und sich alle drei entfernten, rief Schubert in sein eigenes Lachen hinein: »Was denn? Habt ihr Angst vor mir? Ihr feiges Pack! Ihr Dreckschweine! Festbinden könnt ihr mich und sonst nichts, was? Scheiße, verpisst euch doch!«

Die Tür flog zu, und Schubert war wieder allein mit sich selbst und seinem hysterischen Lachen, das wegen der stärkeren Infusion jedoch allmählich abebbte. Ein Gefühl von Erschöpfung legte sich über seinen Körper, und er verspürte eine sehr plötzlich empfundene Resignation. Und während das heisere Lachen mehr und mehr zu ersticken schien, begannen Schuberts Augen, erste Tränen zu vergießen.

»Patricia«, flüsterte er leise und so zärtlich, als würde sie direkt neben ihm liegen, während er versuchte, sie sanft zu wecken. »Patricia.«

All die Zeit über war er doch allein gewesen. Es hatte sich überhaupt nichts verändert, abgesehen davon, dass er sich selbst betrogen hatte. Und während Schubert geglaubt hatte, endlich den Weg ins wahre Leben gefunden zu haben, hatte er sich doch nur leicht abseits des üblichen Irrpfades durch die Büsche geschlagen. Wofür das alles? Dafür, dass er nun hier gefesselt auf einem Bett lag? Noch immer allein und mit vielen Menschenleben auf dem Gewissen? Ja, sein Leben war eine Sackgasse gewesen, doch war es nun? Er hatte seine gesamte Existenz in eine ungedrosselte Rennmaschine verwandelt und sie, während der Fahrtwind ihn trügerisch gestreichelt hatte, ungebremst in die Mauer am Ende eines kurzen Weges gerammt.

Und während sich zu den ersten Tränen weitere und schließlich regelrechte Sturzbäche gesellten, spürte Schubert, wie er dabei war, wieder hinfortzudämmern. Doch statt in in die schwarze Umnachtung zurückzusinken, befiel ihn ein grell weißes Bild. Trotz geschlossener Lider hatte er das Gefühl, als würde er direkt in die Sonne blicken müssen. In einem Reflex versuchte er, seine Hände schützend vor die Augen zu schlagen, doch natürlich war er noch immer gefesselt. Und plötzlich gesellte sich ein schriller Pfeifton hinzu, der Schubert das Gefühl gab, seine Ohren würden im nächsten Augenblick explodieren. Doch gerade, als er den Mund aufreißen und laut schreien wollte, klang das unerträgliche Geräusch wieder ab und verstummte schließlich vollständig. Das weiße Rauschen erlosch ebenso schnell, und nun war es hinter Schuberts geschlossenen Augen wieder so dunkel, wie es doch eigentlich sein sollte.

»Bist du wirklich ein so elender Jammerlappen?«, fragte eine honigsüße Stimme im übermäßig belustigten Tonfall. Schubert musste nicht erst die Augen öffnen, um zu wissen, wer das gesagt hatte. Er roch sie. Patricia. Seine Einbildung. Er roch seinen eigenen, verdammten Wahnsinn.

»Geh doch bitte wieder. Lass mich in Ruhe«, flüsterte Schubert so leise, dass kaum ein Klang aus seinem Mund entwich. Doch natürlich hatte sie ihn gehört, oder nicht? Sie war doch ohnehin er, also musste sie ihn gehört haben.

»Oh, aber du bist nicht der Mann, der mich in den letzten Tagen begleitet hat.«

»Hau ab. Du bist nicht echt. Du- du bist ICH. Und nicht mehr. Verpiss dich. Du hast genug angerichtet.«

Schubert hatte die Augen noch immer geschlossen, konnte nun aber deutlich hören, dass sich Schritte näherten. Der Herzschlag hinter seiner Brust beschleunigte sich.

»Haben sie dir das etwa gesagt?«, flüsterte Patricia ihm sanft ins Ohr. Sie musste nun genau neben ihm stehen, denn Schubert konnte ihren Atem spüren, wenn sie redete. »Haben sie das, ja? Und du glaubst ihnen?«

»Die Zeitung. Es stand doch in der scheiß Zeitung«, japste Schubert leise und drehte seinen Kopf weg. Doch dieser Duft! Wie, zum Teufel, konnte ein Mensch sich einen solchen Duft einbilden? Woher kam dieser verdammte Rosenduft? Schubert schwieg.

»Du glaubst ihnen doch kein Wort, oder? Das willst du doch auch gar nicht«, sagte Patricia. Schubert spürte, wie eine Hand behutsam wie eine Daune über sein Gesicht strich. Ein Fingernagel fuhr über seine Unterlippe. Er drehte den Kopf zurück und öffnete langsam die Augen.

Da stand sie. In voller Größe und direkt neben seinem Bett. Ihr schrill roter Lippenstift bildete einen krassen Gegensatz zu ihrer alabasterweißen Haut. Das lange, glatte Haar hing offen herab und schimmerte wie Seide. Wenn sie eine Wahnvorstellung war, dann, so dachte Schubert, hatte sein durchgeknallter Verstand immerhin einen ziemlich erlesenen Geschmack. Darauf legte sich ungewollt wieder ein Grinsen auf sein Gesicht. Auch Patricia lächelte nun.

»Das sieht doch schon viel besser aus, Tiger«, stichelte sie und stach sanft mit ihrem Zeigefinger in seinen Bauch. »Ich hab dich vermisst.«

»Ich-«, Schubert spürte, dass in seinem Hals nun ein schwerer Kloß saß. Er versuchte, ihn herunterzuschlucken. »Ich glaube, ich hab dich auch vermisst«, krächzte er mit belegter Stimme. Patricia beugte sich zu ihm herab und gab ihm einen sanften Kuss. Schubert schloss die Augen und spürte nun nichts als ihre weichen Lippen auf seinen. Er genoss ihren wunderbaren Rosenduft und den herrlich süßen Atem, der ihn umwehte. Wenn sie nur eine Illusion war, dann sei es so. Besser ein eingebildetes Leben, als gar keines, nicht wahr?

»Wir müssen jetzt gehen«, flüsterte Patricia zärtlich und streichelte mit der Hand über Schuberts geschwitzte Stirn.

»Wie stellst du dir das vor? Selbst wenn du mich losmachen könntest, warten draußen vor der Tür doch garantiert Wachleute.«

Schubert konnte sehen, wie sich Patricias Mund zu einem enttäuschten Lächeln verzog. »Weshalb sollte ich dich nicht losmachen können?«, fragte sie und schon gespielt böse die Unterlippe vor.

»Weil-«

»Weil? Na? Weil du noch immer der Meinung bist, ich sei nur eine nette Einbildung deines Spatzenhirns, was?«

»Hey, das-«, wollte Schubert protestieren, wurde jedoch sofort wieder unterbrochen.

»Halt die Klappe, du Spinner. Das klären wir später.« Sie zwinkerte ihm zu und begann augenblicklich, die Schnallen an seinem Bett zu lösen. Schubert spürte sofort, wie sein Herzschlag sich abermals beschleunigte. Konnte es sein, das-

»So, das hätten wir«, sagte Patricia und schlug die Hände zusammen, als würde sie Staub abklopfen. Mit einem verspielten Ruck zog sie die Nadel aus Schuberts Hand. Ein kleines Blutrinnsal floss aus dem Einstichloch.

»Und was jetzt?«, fragte Schubert, dessen Lebensgeister sich nun endlich wieder zu regen begannen. Die Taubheit in seinen Gliedmaßen ließ allmählich nach und wurde durch ein unangenehmes Kribbeln ersetzt, das tausenden von Nadelstichen gleichkam. Dass sein Blut wieder in Wallung geriet, spürte Schubert jedoch vor allem daran, dass er allmählich wieder klarer denken konnte. So so, da hatte er nun also die erste Illusion hier vor sich, die in der Lage war, Entfesselungstricks durchzuführen. Da würde selbst ein David Copperfield nicht schlecht staunen, dachte Schubert.

»Jetzt will ich erst einmal einen richtigen Willkommenskuss. Und anschließend machen wir, dass wir hier wegkommen«, sagte Patricia und schmiegte sich näher an ihn. Schubert ließ sich nicht lange bitten, umschlang sie, so fest er gerade konnte, mit beiden Armen und küsste sie lang und innig. Ein warmes Kribbeln durchflutete seinen Körper, und er sofort stellte sich das alte Hitzegefühl wieder ein. Das Feuer in ihm hatte wieder zu brennen begonnen. Ja, es würde weitergehen. Es würde endlich und wahrhaftig weitergehen.

»Wow, das war gut«, sagte Patricia und grinste. »Und jetzt hauen wir ab, klar?«

»Ja, gut, aber wie? Hast du einen Fluchtweg? Ich meine, wie bist du überhaupt hier rein gekommen?«, fragte Schubert aufgeregt.

»Wie ich rein gekommen bin, bleibt mein kleines Geheimnis«, antwortete Patricia und stupste ihn leicht an. »Aber was den Ausweg betrifft, machen wir‘s uns am besten so einfach wie möglich. Hm?«

»Und wie wäre das?«

»Ganz einfach: Wir gehen durch die Tür«, sagte Patricia und holte hinter ihrem Rücken einen länglichen Gegenstand hervor, den Schubert sofort wiedererkannte.

»Wie willst du denn bitte mit dem Eispickel hier raus kommen?«, fragte Schubert, während er das Ding, mit dem Patricia vor wenigen Tagen den alten Egger abgemurkst hatte, sichtlich verwundert beäugte.

Patricia hielt sich eine Hand vor den Mund und kicherte wie ein kleines, vergnügtes Mädchen. »Du Dummerchen«, sagte sie und warf Schubert ein zärtliches Lächeln zu. »Damit kriegen wir die Tür nicht auf. Wir machen das folgendermaßen.« Sie warf ihm den Eispickel zu, den Schubert nur mit Mühe und Not aus der Luft fangen konnte. Seine Arme waren noch immer ein wenig lahm. »Du stellst dich neben die Tür, und ich sorge dafür, dass wir gleich unerwarteten Besuch bekommen. Dann bist du an der Reihe.« Sie zwinkerte ihm abermals zu, und oh ja, er wusste, was sie ihm damit sagen wollte. Es ging wieder los. Doch sollte er widersprechen? Ja, sie hatte ihn letztlich hierher gebracht. Doch warum sollte sie es nun nicht auch schaffen, ihn wieder von hier weg zu bringen? Schuldig war sie es ihm allemal. Er hatte ihr zuvor vertraut, und er war durchaus bereit, genau dort wieder anzusetzen. Nun lächelte er zaghaft und nickte ihr zu.


»Hilfe!«, kreischte Patricia, die am hinteren Ende des Zimmers stand, so schrill, dass Schubert die Ohren klingelten.

»Was zum-«, tönte es vor der Tür, und schon konnte Schubert hören, wie an der Klinke gerüttelt wurde. Augenblicklich schoss die Tür auf, und ein Polizist stürmte mit gezogenem Schlagstock ins Krankenzimmer. Für einen Moment blickte er sich verwirrt um, dann wurde alles für immer schwarz. Schubert kniete sich nieder und zog dem toten Wachmann den Eispickel aus der Schläfe. Sofort bedeckte eine zunehmend größer werdende Blutlache das Linoleum. Hastig drehte er die Leiche auf den Rücken, griff an seinen Gürtel und nahm die Pistole an sich. Er hob seinen Blick und sah zu Patricia, die ihm lächelnd zunickte.

»Das war der Wahnsinn«, sagte sie und strahlte ihn mit überglücklich leuchtenden Augen an. Oh ja, Schubert liebte sie für diesen wunderbaren, für diesen unbeschreiblich bezaubernden Blick.

»Die Waffe weg!«, brüllte plötzlich eine Stimme über den Gang. Schubert warf einen flüchtigen Blick aus dem Zimmer und entdeckte den Polizisten am Ende des Ganges mit gezogener Pistole. Reflexartig warf er sich nach hinten und damit aus der Schussbahn. Schubert konnte nun deutlich hören, wie der Beamte Verstärkung anforderte. Damit würde die Zeit knapp werden.

»Halt das mal«, sagte Schubert und warf Patricia den Eispickel zu. Er schenkte ihr eine Kusshand, wie er es schon vor der letzten, großen Schießerei auf der Straße getan hatte und stürmte aus dem Zimmer. Der Polizist, der zwar in Deckung, jedoch nicht aus der Schussbahn gegangen war, hatte keine Zeit mehr, zu reagieren. Zwar hielt er seine Dienstwaffe auf Schubert gerichtet, doch war er für einen Wimpernschlag zu lang mit seinem Funkgerät beschäftigt. Als er am Rande seines Blickfeldes realisierte, dass der »Verdächtige« einen Vorstoß wagte, war es schon zu spät. Eine Kugel durchschlug sein Auge und beendete seine Kariere mit einem lauten Knall, der verstärkt über den Gang grollte und die gesamte Etage endgültig in Panik versetzte.

Schubert drehte sich um und rief nach Patricia, die ihm augenblicklich folgte. Mit gezückter Waffe rannte er voraus, irrte über die langen Gänge des Krankenhauses, ohne zu wissen, in welche Richtung er sich halten musste. Irgendwo am Rande seines Bewusstseins nahm er wahr, dass das anwesende Personal panisch über die Gänge und damit praktischerweise aus dem Weg eilten.

»Wo lang?«, rief Schubert zurück.

»Was?«

»Wo, verdammt noch mal, geht es lang? Wo ist der scheiß Ausgang?«

»Ich weiß es nicht. Lauf einfach.«

»Wie bitte?«, rief Schubert verblüfft und drehte sich im Lauf um. Im nächsten Augenblick spürte er nur noch, dass ihn etwas abrupt bremste. Sein Kopf schlug gegen einen harten Gegenstand und er stürzte sofort wie benebelt zu Boden. Die Pistole fiel ihm aus der Hand und schlitterte einige Meter weit über den Gang.

Für einen Moment schien sich alles zu drehen, dann erkannte Schubert, dass er offensichtlich gegen eine Tür gelaufen war, die sich soeben geöffnet hatte.

»Henning!«, brüllte Schubert den verdutzten Psychologen an, der gerade aus dem Raum gekommen war, um zu sehen, was es mit dem Aufruhr auf sich haben mochte. Nun stand er seinem, am Boden sitzenden, Patienten gegenüber, während ihm, ohne dass er es merkte, der Mund aufklappte. Er blickte Schubert tief in die Augen und erkannte in diesen nun mehr als deutlich, dass ER wieder da war. Nein, dies war sogar mehr als der Mann, den man ihm als Patient anvertraut hatte. Dies war der Verrückte, der Mörder, das Ungeheuer, vor dem die Medien tagelang gewarnt hatten. In diesen Augen brannte der leibhaftige Wahnsinn.

»Sch- Schubert, Sie- Was«, stotterte Henning und wich einen Schritt zurück und damit gegen die geöffnete Tür.

»Sie haben mich belogen«, kreischte Schubert und rappelte sich blitzartig wieder auf.

»Bring das Schwein um«, schrie Patricia mit wutentbrannter Stimme und warf Schubert den Eispickel zu. Das Adrenalin hatte ihn geweckt, und so fing er das Stichwerkzeug ohne Probleme aus dem Flug, um sich damit sofort auf Henning zu stürzen.

»Nein, Schubert. Warten-«, begann Henning und wurde zu Boden gedrückt. Der Eispickel bohrte sich langsam und schmerzhaft in seinen Hals als ein lauter Knall ertönte.

Es waren nur wenige Sekunden vergangen, seit Schubert unerwartet gegen die Tür gelaufen und anschließend auf seine vormalige Vertrauensperson losgegangen war. Der Polizeibeamte, der sich im gleichen Zimmer wie Henning aufgehalten hatte, hatte es dennoch in Windeseile geschafft, seine Waffe zu ziehen, zu entsichern und einen gezielten Schuss auf Thomas Schubert abzugeben. Die Kugel schlug direkt in seine Stirn ein, trat am Hinterkopf wieder aus und riss ein Stück des Schädelknochens mit sich. Schubert wurde von der Wucht des Einschlags nach hinten geworfen, sackte dann sofort zusammen und blieb reglos am Boden liegen.

»Herr Henning?«, rief der Beamte kurzatmig. »Alles in Ordnung?«

»Alles okay. Mir geht‘s gut«, krächzte Henning, der am Boden lag und seine Hand gegen die Wunde drückte, die der eindringende Eispickel verursacht hatte. »Alles okay.«

Die Akte Schubert wird geschlossen.

Als das schnurlose Telefon, das auf dem Wohnzimmertisch lag, zu klingeln begann, schreckte Walter Henning aus seinem Sessel hoch. Den Schrei konnte er gerade noch unterdrücken. Mit hastigem Griff schnellte seine Hand zum Telefon hinüber, wobei er das halbvolle Bierglas, das ebenfalls auf dem Tisch gestanden hatte, zu Boden stieß. Das längst schale Bier ergoss sich über den Tisch und tropfte auf den Teppich.

»Scheiße«, grummelte Henning, als er auf die Bierlache blickte. Dann drückte er auf den grünen Knopf auf dem Telefon. »Hier Walter Henning. Ja bitte?«

»Ich bin's, Joachim Bauer. Guten Tag, Herr Henning«, meldete sich die Stimme am anderen Ende der Leitung.

»Bauer?«, fragte Henning und runzelte die Stirn, bevor ihm einfiel, mit wem er es zu tun hatte – nämlich mit dem Leiter der Anstalt, die Henning vor fast einem Monat auf einer Krankentrage das letzte Mal verlassen hatte. »Ach ja, tut mir leid. Was gibt's denn?«

»Nun ja«, begann Bauer und räusperte sich. Eine kurze Pause setzte ein, und Henning wollte gerade ein Hallo in die wahrscheinlich unterbrochene Leitung rufen, als die Stimme fortfuhr: »Wir haben die Untersuchungen im Fall Schubert hier beendet. Und ich wollte Ihnen das lediglich mitteilen, weil ich glaube, dass es Sie interessieren könnte.«

»Ah ja?«, gab Henning von sich, während er über seine stoppelige Wange kratzte. Wann hatte er sich das letzte Mal rasiert? Er wusste es nicht mehr. Überhaupt hatte er in letzter Zeit das Gefühl, nicht mehr allzu viel zu wissen. »Soll ich einen Tipp abgeben?«

»Hm, wahrscheinlich würden Sie ohnehin richtig liegen. Also sage ich es Ihnen gleich. Wir, nun, wir sind nicht wirklich zu einem Ergebnis gekommen. Doktor Albrecht war der letzte Mitarbeiter, der die Sicherheitsvorrichtungen an Thomas Schuberts Bett überprüft hatte. Er war sich ganz sicher, dass alle Schnallen festgezogen und gesichert waren. Auch die drei anwesenden Schwestern konnten uns das bestätigen. Da auch keine Schnallen gerissen waren, kann es sich zudem nicht um einen Materialfehler gehandelt haben. Und der wachhabende Polizist vor der Tür kam nie bis ans Bett heran. Es ist einfach wie verhext.«

»Wundert mich kaum«, brummte Henning ohne Überraschung ins Telefon. »Kameras hatten Sie natürlich keine in dem Raum, was?«

»Tja«, seufzte Bauer durchs Telefon. »Die hatten wir schon, aber sie war nicht eingeschaltet. Ich fürchte, das müssen wir wohl wirklich auf unsere Kappe nehmen. Wissen Sie, es gibt nicht wenige Leute, die dafür gern meinen Kopf rollen sehen würden. Und ganz ehrlich, ich kann ihnen das nicht einmal verübeln. Das ist alles wirklich ziemlich daneben gelaufen.«

»Ach, als ob eine Kamera auch nur irgendetwas geändert hätte«, sagte Henning, der gerade auf dem Weg in die Küche war, um Papiertücher zu holen, mit denen er das Bier aufwischen konnte.

»Zumindest hätten wir dann eine Erklärung dafür, wie dieser Teufel es schaffen konnte, sich von seinem Bett zu befreien. So können wir nur spekulieren.«

»Ist wohl so«, murmelte Henning monoton ins Telefon. »Was spekulieren Sie denn?« Er konnte hören, wie Bauer tief durchatmete und in den Telefonhörer pustete.

»Wir gehen davon aus, dass mindestens eine der Schnallen nur so aussah, als wäre sie festgezogen gewesen. Das ist momentan die einzig logische Erklärung«, sagte Bauer, dessen Stimmfarbe auf Henning einen betretenen Eindruck machte. Die Sache schien ihn sehr zu ärgern.

»Mit anderen Worten, Sie tappen völlig im Dunkeln«, entgegnete Henning und spürte ein zynisches Lachen in sich aufsteigen, das er sich jedoch verkniff. »Haben Sie es denn jetzt endlich mal abseits der Logik versucht?« Wieder war ein Seufzen auf Joachim Bauers Seite der Leitung zu hören. Hatte er also offensichtlich nicht.

»Sie halten tatsächlich immer noch an dieser Geschichte fest?«, fragte der Anstaltsleiter. »Herr Henning, ich-«

»Ich hab mit Ahrens telefoniert«, redete Henning dazwischen. »Der Polizist, der geschossen hat. Ich habe ihn gefragt, ob ihm etwas seltsam vorgekommen ist. Und wollen Sie wissen, was er gesagt hat?«

»Herr Henning, ich weiß, dass die letzten Wochen für Sie nicht einfach waren. Und dieser Ahrens, also dazu muss ich Ihnen-«, begann Bauer und wurde wieder von Henning unterbrochen, der nun eifrig dabei war, das verschüttete Bier wegzuwischen.

»Wollen Sie es wissen, oder nicht?«, fragte er und spürte, wie ihn ein Anflug von Zorn darüber überkam, dass er gegen eine Mauer von Unverständnis anreden musste.

»Schießen Sie los«, seufzte Bauer ins Telefon.

»Er sagte zu mir, er habe eine Stimme gehört. Eine Frauenstimme, verdammt noch mal. Verstehen Sie das? Dieser Mann hat mir dasselbe erzählt, was ich Ihnen erzählt habe. Wenn Sie mir also noch immer nicht glauben, dann rufen Sie ihn bitte an.«

»Herr Henning, Sie haben mich ja nicht ausreden lassen«, sagte Bauer und wieder setzte ein betretenes Schweigen ein. Dann fuhr er fort: »Dieser Ahrens ist tot. Er hat sich vor drei Tagen zu Hause mit seiner Dienstwaffe in den Kopf geschossen. Tut mir leid, dass ich Ihnen das jetzt quasi zwischen Tür und Angel sagen muss.«

»Oh, Scheiße«, sagte Henning, der nun spürte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte. »Wissen Sie zufällig, weshalb er das getan haben könnte?«

»Soweit ich weiß, und ich weiß nicht allzu viel, hatte er gerade in letzter Zeit zunehmende psychische und familiäre Probleme. Der Mann galt wohl als sehr depressiv.«

»Hat man seine Waffe auf Fingerabdrücke untersucht?« Henning stellte plötzlich fest, dass er diese Frage, die ihm eigentlich lediglich durch den Kopf gegangen war, tatsächlich laut ausgesprochen hatte. Mit der Konzentration ging es in letzter Zeit auch sehr bergab, stellt er einmal mehr fest.

»Wollen Sie damit etwas Bestimmtes andeuten?«, fragte Bauer, der nun offenbar versuchte, besonders objektiv zu klingen..

»Beantworten Sie bitte meine Frage. Hat man, oder hat man nicht?«

»Ja, natürlich hat man das. Jedenfalls ist davon auszugehen. Es war ziemlich sicher Selbstmord, falls Sie darauf hinaus wollen, dass ihn jemand ermordet haben könnte.« Für einen Moment schwieg er, bevor er wieder sein Anliegen auf den Tisch brachte: »Herr Henning, ich weiß, dass diese ganze Sache Sie mitgenommen hat, gerade da Sie diesem Schubert selbst beinahe zum Opfer gefallen sind. Das verstehe ich auch, aber- Nun, Sie glauben doch nicht wirklich, dass hier ein rachsüchtiger Geist oder etwas Ähnliches umgeht, oder? Ich meine, wenn Sie das wirklich erwägen, dann kann ich Ihnen nur ans Herz legen, sich-«

»Wussten Sie, dass ich seit zehn Jahren nicht mehr geraucht hatte?«, unterbrach Henning Joachim Bauers Redeschwall abermals. »Seit zehn verdammten Jahren hatte ich keinen Glimmstängel mehr angefasst, und jetzt rauche ich wie ein Kohlekraftwerk.«

»Herr Henning, das tut mir leid«, sagte Bauer und klang in Hennings Ohr erneut betreten. Doch gleich würde er wieder davon beginnen, dass er sich doch bitte Hilfe suchen sollte, wenn er weiter an seine natürlich vollkommen absurde Geschichte glaubte. Und ja, vielleicht war sie absurd. Aber machte sie das denn unbedingt zur Halluzination?

»Ich schlafe nicht mehr«, warf Henning ein. »Ich wache in jeder beschissenen Nacht auf, weil ich das beunruhigende Gefühl nicht loswerde, dass jemand direkt neben meinem Bett steht und mich anglotzt. Und dann schrecke ich hoch, schalte das Licht ein, und niemand ist da. Aber ich spüre, dass das Zimmer nicht leer ist. Kapieren Sie das?«

»Sie sollten sich wirklich Hilfe suchen. Was Sie da sagen, klingt für mich-«, begann Bauer, bevor Henning, der nun seiner angestauten Wut freien Lauf ließ, ihm wieder den Wind aus den Segeln nahm.

»Scheiße, es klingelt seit einiger Zeit jeden Tag an meiner Tür. Teilweise mehrfach täglich. Dann gehe ich hin, mache auf und niemand ist zu sehen. Ist das auch Einbildung, ja? Herr Bauer, ich habe mir diese verdammte Stimme nicht eingebildet. Ich habe sie laut und deutlich gehört. Und dieser Ahrens hatte sie ebenfalls gehört. Und nein, Schubert hat seine Stimme nicht verstellt, falls Sie da jetzt wieder mal irgendwas spekulieren sollten. Aber noch viel schlimmer als das, ist die Tatsache, dass er den Eispickel, den er mir unbedingt in den Hals rammen musste, nicht aus seiner Tasche zog. Das scheiß Ding flog ihm zu. Womit erklären Sie sich das? Wieder einmal meine Einbildung, hm?« Schubert ließ sich zurück in seinen Sessel sinken, sonst hätte er im nächsten Moment vielleicht das Telefon mit Schwung an die Wand geworfen.

Joachim Bauer schwieg, doch Henning konnte ihn atmen hören. Also hörte er ihm anscheinend immerhin noch zu. Dann sagte Bauer leise: »Was soll ich dazu sagen? Ich kann Ihnen doch nur raten, sich Hilfe zu suchen. Wenn Sie möchten, können Sie natürlich auch jederzeit zu mir kommen. Ich meine-«

»In meinem Haus zieht es«, sagte Henning scheinbar zusammenhanglos.

»Was?«

»Hier zieht es«, wiederholte er mit genervt klingender Stimme. »Die Fenster sind geschlossen, die Isolierungen sind in bestem Zustand, und doch spüre ich immer wieder, dass mich ein kühler Wind umweht.«

»Was wollen Sie damit jetzt wieder sagen?«, fragte Bauer, doch bereits die Formulierung dieser Frage verriet Henning, dass sein Gesprächspartner die Antwort, die er eigentlich nicht hören wollte, ohnehin bereits kannte. Also sagte er: »Nichts will ich damit sagen.« Er zog den Gürtel an seinem Pyjama fest und ließ den Kopf gegen die Rückenlehne seines Sessels sinken. »Ich habe irgendwie das Gefühl, dass auch mir bald etwas zustoßen könnte. Ich nehme Ihnen nicht übel, wenn Sie dann wieder von Selbstmord ausgehen. Vielleicht werden Sie damit ja sogar richtig liegen, denn allmählich werde ich hier wahnsinnig. Vielleicht werden Sie aber auch irren. Wie dem auch sei, tun Sie mir den Gefallen und spekulieren Sie dann nicht wieder über irgendwelche psychischen Probleme, die ich eventuell haben könnte. Und noch ein Rat von mir: Schließen Sie die verdammte Akte Schubert für sich ab! Halten Sie sich von der Geschichte fern. Auf Wiedersehen.«

Henning wartete nicht darauf, dass Bauer ihm eine Antwort geben würde. Er drückte auf den Knopf, der das Gespräch beendete und legte das Telefon zurück auf den Tisch. »Scheiße«, murmelte er und schloss die Augen. Er spürte, wie die Müdigkeit ihn verlockend umgarnte. Obwohl er seit seiner Krankmeldung viel Zeit zum Schlafen gehabt hätte, riss ihn dieses unangenehme Gefühl des Beobachtetwerdens immer wieder hoch. Zigaretten und Bier taten ihr Übriges, um jegliche Erholung zunichte zu machen. Bevor er dann doch wieder einmal in seinem Sessel eindöste, fragte er sich benommen, wie lange er wohl noch durch diese Hölle gehen musste.

Gerade als Walter Henning dann tatsächlich aus dem Bewusstsein getreten und in den Schlaf hinübergeglitten war, klingelte es wieder einmal an der Tür.


ENDE

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Hörbuch

Über den Autor

PhanThomas
Ich bin PhanThomas, aber Leute, die mich kennen, dürfen mich auch gern Thomas nennen. Oder ach, nennt mich, wie ihr wollt. Denn ich bin ja ein flexibles Persönchen. Sowohl in dem, was ich darzustellen versuche, als auch in dem, was ich schreibe. Ich bin unheimlich egozentrisch und beginne Sätze daher gern mit mir selbst. Ich bin eine kreative Natur, die immer das Gefühl hat, leicht über den Dingen zu schweben - und das ganz ohne Drogen. Man trifft mich stets mit einem lachenden und einem weinenden Auge an. Das scheint auf manche Menschen dermaßen gruselig zu wirken, dass die Plätze in der Bahn neben mir grundsätzlich frei bleiben. Und nein, ich stinke nicht, sondern bin ganz bestimmt sehr wohlriechend. Wer herausfinden will, ob er mich riechen kann, der darf sich gern mit mir anlegen. ich beiße nur sporadisch, bin hin und wieder sogar freundlich, und ganz selten entwischt mir doch mal so etwas ähnliches wie ein Lob. Nun denn, genug zu mir. Oder etwa nicht? Dann wühlt noch etwas in meinen Texten hier. Die sind, äh, toll. Und so.

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PhanThomas Re: Re: -
Zitat: (Original von Lordkotz am 19.11.2009 - 23:54 Uhr)
Zitat: (Original von PhanThomas am 19.11.2009 - 23:52 Uhr) Kommentar vom Buch-Autor gelöscht.



Haha das klingt WICHTIG

Menno. Ich wollte doch nur nach der Seitenzahl gucken. Und schon war ein leerer Kommentar da. :-(
Vor langer Zeit - Antworten
PhanThomas Kommentar vom Buch-Autor gelöscht.
Vor langer Zeit - Antworten
PhanThomas Re: crime and sex -
Zitat: (Original von Tilly am 04.10.2009 - 19:10 Uhr) werd ich nochmal leseanlauf nehmen, die ersten seiten gefallen, mal sehen wies weitergeht

thomas

Hallo Thomas,

ja, Crime
Vor langer Zeit - Antworten
Tilly crime and sex - werd ich nochmal leseanlauf nehmen, die ersten seiten gefallen, mal sehen wies weitergeht

thomas
Vor langer Zeit - Antworten
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