ROLF
Rolf atmete langsam und tief. Halb schlief er, halb wachte er. Manchmal zuckte eines seiner viel zu großen Ohren und er stieß ein leises Knurren aus, nicht bösartig, nein wohlig.
Er träumte von verschneiten Bergen, von anderen Hunden und viel Lob, das man ihm zollte.
Rolf schreckte auf, dehnte sich und kratzte sich hinter dem Ohr.
Plötzlich wusste er, seine Eltern waren Lawinenhunde gewesen.
Er zerrte an seiner Kette, die an einem langen Laufdraht hing, und lief, so weit die Kette und der Draht es erlaubten – und das war fast bis zum Zaun, der den Hof des Bauernhauses begrenzte. Dabei bellte er laut und herausfordernd, um seinen Freund herbeizulocken.
Es dauerte auch gar nicht lange, bis der freilaufende Schnauzer vom nachbarlichen Anwesen vor dem massiven Holztor stand und wie immer gewissenhaft den Türpfosten markierte.
„Ich muss hier raus!“, sagte Rolf. „Ich möchte wie meine Eltern ein Lawinenhund werden. Hilf mir.“
„Ein Lawinenhund? Was ist das?“
„Da gehst du mit den Menschen auf die Berge. Auf Berge mit vielem Schnee. So viel Schnee, dass er sich von den steilen Berghängen löst, als Lawine talwärts donnert und Menschen unter sich begräbt – die buddelst du dann aus und bist ein Held.“
„Warum willst du das tun? Wo die Menschen doch so böse zu dir sind und dich an die Kette legen?“
„Als Lawinenhund bist du eben nicht mehr an der Kette. Du bist dann ein Freund der Menschen und ihr Helfer. Und wenn du mit deiner feinen Nase einen Verschütteten ausbuddelst, feiern sie dich sogar als Retter und du kriegst eine Extrabelohnung.
Meine Eltern machten diese Arbeit voll Freude und Begeisterung und waren sehr stolz darauf. Sie wurden viel gelobt, oft gestreichelt und immer gut behandelt. Wäre das nicht herrlich?“
„Klingt gut. Ich bin dabei. Aber vorerst müssen wir sehen, wie wir dich hier heraus bekommen.“ Damit trottete der Schnauzer nachdenklich davon und Rolf legte sich vor seine Hundehütte.
„Ein Lawinenhund müsste man sein!“, seufzte er und schloss müde die Augen.
Da wurde es strahlend hell und eine Hundefee stand vor ihm. Die übergroße weiße Dackelhündin beugte sich zu Rolf nieder.
„Ich bin eine Hundefee“, sagte sie, „und möchte dir einen guten Rat geben. Freunde dich mit der Ratte an. Sie wird dir helfen!“
Erschrocken öffnete Rolf die Augen, sprang auf und sah sich suchend um. Doch da war keine riesige, weiße Dackelhündin zu sehen. Nur die Kinder des Bauern, die Rolf sein Fressen brachten. Sie waren die einzigen, die ihn streichelten, kraulten und mit ihm sprachen.
Rolf freute sich und wedelte aufgeregt.
Auch die Ratte hatte die Kinder bemerkt. Meist fraß sie, was Rolf übrig ließ. Sie huschte über den Hof und wartete auf einen günstigen Moment.
Als Rolf die Ratte sah, knurrte er sie wie üblich an. Dann hielt er inne und sagte:
„Wenn du mir hilfst, darfst du mitfressen. Nage mein Halsband durch!“
„Das kann ich nicht.“, antwortete das Tier. „Ich kann keine Kette zernagen. Aber ich habe einen Onkel, der hat verzauberte Zähne. Damit kann er sich sogar durch Beton beißen.“
„Hol ihn!“, forderte Rolf die graue Ratte auf. „Dann darf auch er mitfressen.“
Die Ratte pfiff auf eine ganz gewisse Art und schon kam der große Rattenonkel angewieselt.
Der Hund hielt ihm seine Kehle mit der Halskette hin und ruckzuck hatte sie der Onkel ohne Anstrengung durchgebissen.
Rolf schüttelte sich. Endlich frei!
Er überließ den Ratten seinen Fressnapf, trabte ein wenig kreuz und quer, nahm einen langen Anlauf und übersprang elegant den Gartenzaun. Sein jauchzendes Bellen lockte augenblicklich den erstaunten Schnauzer herbei.
„Ich bin frei!“, bellte Rolf und seine Stimme überschlug sich förmlich. „Ich bin frei!
Komm mit! Wir wollen Lawinenhunde werden! Rasch, lass uns verschwinden, bevor wir wieder eingefangen werden.“
... Und schon stürmten die beiden Hunde davon.
Als sie eine kurze Rast einlegten, sah Rolf zu den Bergen, die in der Ferne im Abendrot aufleuchteten.
„Dort will ich hin!“, sagte er.
Der Schnauzer spitzte die Ohren. „Ich hör´ etwas, ich glaub´, das ist die Eisenbahn!“, stellte er fest und dirigierte seinen Freund Richtung Bahnhof.
„Wir fahren mit dem Zug.“, bestimmte er.
Erstaunt bemerkten die Hunde, dass die graue Ratte und der Rattenonkel mitliefen.
Wie auf Bestellung stand eine Zugsgarnitur mit offenen Türen am Bahnhof.
„Einsteigen!“, rief der Fahrdienstleiter, was sich das seltsame Quartett nicht zweimal sagen ließ. Im Nu verschwanden die Tiere in einem Großraumwaggon. Die Ratten versteckten sich unter den Bänken.
Erst bei der Fahrscheinkontrolle fielen die Hunde auf. Der Schaffner holte den Zugsführer. Aus Schnüren knüpften sie Halsbänder und Leinen .... und beim nächsten Bahnhof hieß es für die blinden Passagiere aussteigen. Auch die beiden Ratten stiegen aus und liefen, jede Deckung ausnützend, hinterher.
Die Bahnbeamten sperrten Rolf und den Schnauzer in einem aufgelassenen Warteraum ein und setzten ihnen Wasser vor.
„Aus ist der Traum vom Lawinenhund!“, sagten beide fast gleichzeitig und ließen enttäuscht die Ohren hängen.
Bald darauf ließ sie das Pfeifen der Ratten aufhorchen. „Wir kommen!“, hieß das.
Und schon hörten sie kräftige Nagegeräusche am Fenster. Glas klirrte. Der Rattenonkel leistete mit seinen Zauberzähnen ganze Arbeit.
Als die Fensteröffnung groß genug war, sprangen die beiden Hunde hinaus.
Die graue Ratte hatte eine Stange Wurst gestohlen, die sie nun stolz herumreichte. Jeder stärkte sich mit ein paar Bissen, dann trabten sie entlang der Bahnlinie den nahen Bergen entgegen.
Plötzlich blieben sie wie angewurzelt stehen.
Sie hörten Hundegebell und Männerstimmen. Neugierig gingen sie diesen Geräuschen nach und kamen zu einer eingezäunten Wiese, auf der Männer mit Hunden spielten. Die Hunde wurden angehalten, durch Röhren zu kriechen, über Leitern zu klettern und versteckte Dinge zu finden.
„Da spielen wir mit!“, beschlossen Rolf und der Schnauzer.
Nachdem der Onkel ein großes Loch in den Zaun gebissen hatte, beschlossen die Ratten, doch lieber heraußen zu bleiben und versteckten sich im Gebüsch.
Die Hunde aber schlüpften schwanzwedelnd durch das Loch und trabten auf ihre Artgenossen zu.
Die Hundeführer staunten nicht schlecht, als zuerst Rolf, dann der Schnauzer unaufgefordert durch die Röhren krochen, die Leitern überstiegen und elegant alle Hürden meisterten. Sie lockten die beiden Hunde zu sich, unterdrückten das zornige Gebaren ihrer eigenen Tiere und kraulten Rolf und seinem Freund das Fell.
„Keine Hundemarke, kein Halsband“, sagten sie, „es sind Ausreißer, aber wie geboren für Lawinenhunde.“
Sie nahmen die beiden mit ins Vereinshaus und setzten ihnen Futter und Wasser vor.
Als sich zu den Aufrufen im Radio und der Zeitung niemand gemeldet hatte, um Rolf oder den Schnauzer abzuholen, entschieden die Hundeabrichter, die Tiere zu behalten und auszubilden.
„Die bleiben bei uns“, vereinbarten sie, „die beiden werden Spitzenkräfte in unserer Meute. Bis zum Winter sind sie bestens ausgebildet.“
Rolf wedelte heftig mit seinem Schwanz und leckte dem Trainer die Hände ab. Er fühlte sich schon ganz zu Hause und war sehr glücklich. Nun würde er wie seine Eltern ein Lawinenhund werden!
Auch der Schnauzer freute sich auf die vielen Abenteuer, die ihm und Rolf bevorstehen mochten.
Die Ratten, die alles beobachtet hatten, pfiffen den Hunden zum Abschied zu und wünschten ihnen alles Gute. Sie waren froh, dass Rolf und sein Freund ihr Ziel erreicht hatten. Aber hier bleiben wollten sie nicht, denn sie fürchteten sich vor den vielen Hunden.
Und auch die übergroße Dackelhündin, die Hundefee, war sehr zufrieden. Sie lächelte und hielt sofort Ausschau, ob irgendwo irgendein anderer armer Hund ihrer Hilfe bedurfte.
(C ) I. H.