Romane & Erzählungen
Sonja redet jetzt - Ein auf Tatsachen beruhendes Buch

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"Sonja redet jetzt - Ein auf Tatsachen beruhendes Buch"
Veröffentlicht am 30. September 2009, 46 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
http://www.mystorys.de

Über den Autor:

Hallo, schön daß du das gerade liest:-) Ich bin Luna und wohne im nicht wirklich schönen Wuppertal...dort arbeite ich seit sechs Jahren als Heilerziehungspflegerin in einem Wohnheim für behinderte Menschen. Demnächst werde ich wohl noch ein Studium (Sozialarbeit) beginnen, wenn alles gut geht... In meiner Freizeit gehe ich mit meinem supertollen Schnauzer/ Labrador- Mix Calimero spazieren, lese, treffe mich mit Freunden, spiele Klavier oder ...
Sonja redet jetzt - Ein auf Tatsachen beruhendes Buch

Sonja redet jetzt - Ein auf Tatsachen beruhendes Buch

Beschreibung

So, neu überarbeitet und länger geworden:-) Ich weiß hier ist eigentlich eher der Ort für kürzere Geschichten, sorry dafür... Es geht immer noch um die schwerstmehrfachbehinderte junge Frau Sonja und ihre Probleme in unserer Gesellschaft!

Das bin ich

 

Das bin ich

 

Ich bin Sonja.

Ich bin anders als viele andere Menschen und ihnen doch ähnlicher als sie es manchmal wahrhaben wollen.

Menschen wie ich werden als „schwerstmehrfachbehindert“ bezeichnet.

Nach reiflichem Überlegen und 26 Jahren mit unendlich viel Zeit habe ich beschlossen, meine Geschichte zu erzählen.

Ich erzähle sie so, wie ich es möchte und ich werde dabei keine Rücksicht auf zart besaitete Gemüter nehmen.

Die sollen einfach nicht weiter lesen.

 

Bei meiner Geburt war die Nabelschnur um meinen Hals gewickelt.

Dies muss nicht unbedingt schlimm sein.

In meinem Fall jedoch wurde es von den Ärzten zu spät bemerkt.

Mein Gehirn hat gravierenden Schaden davongetragen- meine Gliedmaßen wollen auch nicht so wie ich es gerne hätte- fragt mich bitte nicht, wie der Fachausdruck meiner Behinderung lautet, denn den vergesse ich ständig wieder, weil er mir nicht so wichtig ist wie anderen Menschen, die ihre Qualifikation darauf begründen, gerade solche Fachausdrücke zu kennen.

Manchmal frage ich mich allerdings, ob sie nur den Ausdruck wissen oder auch Wert auf seine Bedeutung legen?

Tatsache ist: Ich kann nicht laufen und außer meinen Armen (und die auch nur ganz verkrampft) und meinem Kopf nichts an meinem Körper selber bewegen.

Manchmal habe ich ganz komische Anfälle, bei denen sich dann meine Augen verdrehen und alles sich ganz steif anfühlt.

Ich bin inkontinent, das heißt ich trage eine Windel.

Außerdem kann ich nicht sprechen, nur ein paar Laute kann ich von mir geben.

Essen und trinken geht natürlich auch nicht alleine, gar nicht zu sprechen von sonst welchen Betätigungen, die für andere Menschen ganz normal zum Leben gehören.

Und ich sabbere viel, das muss man dann ständig vom Kinn weg wischen.

Kurz gesagt:

Bei allen menschlichen Grundbedürfnissen benötige ich Hilfe von anderen.

So betitelt man mich als "Schwerstmehrfachbehindert".

Dieser Stempel prägt mein ganzes Leben. Im Vordergrund steht nie, wie es mir geht, was ich gerne machen würde, was mir gefällt oder mit wem ich meine Zeit verbringen möchte, sondern fast ausschließlich wie ich gepflegt werden soll, ob ich richtig in meinem Rollstuhl sitze, ob ich genug schlafe, welche Tabletten für meine Behandlung nötig sind oder ob ansonsten noch etwas zu meiner Betreuung beigetragen werden kann.

Das meinen die Menschen um mich herum nur gut.

 

Die Meisten, die sich überhaupt mit mir beschäftigen (der Großteil geht schließlich Menschen wie mir von vorne herein aus dem Weg), wollen aber nicht glauben, dass ich viel mehr mitbekomme, als sie mir in ihrer Funktion als wie auch immer qualifizierte Fachkraft anscheinend zugestehen.

Denn sie können schließlich professionell einschätzen, was für mich am Besten ist.

Bitte versteht mich nicht falsch, ich bin unendlich dankbar, dass es Menschen gibt, die sich um mich kümmern, die freundlich oder auch liebevoll zu mir sind und die mir ermöglichen, wenigstens einen kleinen Teil meines Lebens wie ein normaler Mensch verbringen zu können.

Die Frage ist nur:

Muss ich dafür uneingeschränkt dankbar sein, ohne meine Unzufriedenheit äußern zu dürfen?

Habe ich schon aufgrund meiner (von mir völlig unverschuldeten) Einschränkungen die Pflicht, glücklich zu sein, dass ich überhaupt am Leben bin?

 

Dieser Meinung bin ich nicht.

 

Ich bekomme viel mehr mit als viele denken würden.

Und ich kann auch viel mehr.

 

Ich hasse es, wenn Menschen meinen, dass das Leben für mich eine Qual sei und ich vielleicht besser gar nicht erst geboren wäre.

Woher wollen die das wissen?

 

Dies ist also meine Geschichte, beginnend im Haus meiner Eltern und endend in einem Wohnheim für schwerstmehrfachbehinderte Menschen wie mich.

Dort werde ich wohl für immer bleiben.

Aber beginnen wir von vorne!

Meine Mama und mein Papa waren natürlich geschockt als ihnen das Ausmaß meiner Behinderung erklärt wurde. Im Laufe der Schwangerschaft war alles noch in bester Ordnung und sie hatten sich auf ein gesundes hübsches Baby eingestellt.

Wie sollte es also weitergehen?

Meine Eltern fügten sich in das Unvermeidliche und versuchten, mich so zu nehmen wie ich bin.

Das versuchten sie wirklich.

Doch ich habe eine feine Intuition und nahm sehr wohl die Blicke wahr, die sie austauschen, wenn sie meinten, ich würde es nicht sehen.

Auch das Weinen meiner Mutter, das ich oft nachts hörte, wenn ich als Kleinkind in meinem Bett lag, machte diese Situation für mich nicht leichter.

Wie gut erinnere ich mich noch an die Blicke der Menschen, die in meine Kinderaugen schauten und mit gespieltem Mitleid zu meiner Mutter sagten: „Da haben sie es aber schwer, Frau Engel! Ich weiß nicht, ob ich damit klarkommen würde".

Damit?

Meine Mutter lächelte dann immer tapfer und sagte "nun ist Sonja da und wir müssen lernen zu akzeptieren, dass sie anders ist als andere Kinder".

Wahrscheinlich dachte sie sich bei diesem Satz nichts weiter und kam nicht auf die Idee, dass ich mich gerade durch ihre Aussage isoliert von der Außenwelt fühlte.

 

Ich habe mir immer gewünscht, das sie wenigstens einmal gesagt hätte: "Das ist meine Tochter und ich bin stolz auf sie, egal ob sie anders ist oder nicht. Also ersparen Sie sich in Zukunft bitte solche und ähnliche Kommentare!“

 

Ich weiß, das ist viel erwartet, denn meine Mutter litt ja anscheinend.

Darum tat sie mir meistens leid, denn ich mag es bis heute nicht, wenn sie leidet.

Und ich glaube, dass Leute, die solche Sätze sagen, das auch im Grunde gar nicht böse meinen und sich einfach keine Gedanken darüber machen, wie sich „behinderte“ Menschen wie ich dabei fühlen. Viele gehen bestimmt davon aus, wir bekommen es sowieso nicht mit.

Meine frühe Kindheit

Meine frühe Kindheit

 

So wuchs ich also bei meinen Eltern heran.

Meinen Vater sah ich nur selten, denn er war immer "unterwegs". Oft fragte ich mich als Kleinkind, was "unterwegs" wohl heißt, doch ich konnte ja nicht sprechen und die Laute, die ich zur Verständigung zu benutzen versuchte, wurden nur in den seltensten Fällen verstanden.

Ich hoffe auf jeden Fall, dass mein Vater nicht erst so oft "unterwegs" ist, seit ich da bin.

 

Um aber noch einmal kurz auf meine Behinderung zurückzukommen:

Ich bin querschnittsgelähmt,das heißt ich kann, wie ich eben schon erzählt habe, bis auf meinen Kopf und meine Arme nichts an meinem Körper ohne Hilfe bewegen.

Daraus folgte natürlich, dass ich einen Rollstuhl bekam.

Ich kann auch wie ihr schon wisst nicht sprechen, sondern mich nur durch Laute verständigen. Die hören sich so ungefähr wie ein Gurgeln an.

Ich lernte deshalb, zu versuchen, den richtigen Blick im richtigen Moment aufzusetzen und zu hoffen, dass dieser dann richtig gedeutet werden würde.

Meistens hatte ich aber das Gefühl das klappte nicht...wenn ich zum Beispiel keine Lust auf Essen hatte (immer nur püriert, da auch meine Speiseröhre perforiert ist und das Zeug war irgendwie immer braun, egal welche Farbe es vorher hatte), dann drehte ich halt mit den Augen.

Meine Mutter meinte aber, ich wolle sie nur ärgern und sagte Sachen wie "Sonja, du weißt dass du essen musst".

Sie gab sich ja auch Mühe mit der Zubereitung, aber ich weiß nicht, ob ihr schon oft püriertes Essen gegessen habt...man sagt doch immer „Das Auge isst mit“.

Und ich weiß nicht wie ihr es fändet, wenn ständig der Salat mit der übrigen Mahlzeit und dazu mit Milch, Wasser oder Sahne zum Verdünnen, zusammen gematscht wäre.

Ich hätte zum Beispiel viel gegeben für einfaches Apfelmus oder Kartoffelpüree als Alternative...aber das konnte ich ja nicht sagen.

Außerdem wollte meine Mutter immer alles perfekt machen und das wäre wohl unter ihrem Niveau gewesen.

Außerdem weinte sie ja sowieso schon so oft.

Und weil ich so Hunger hatte, aß ich eben was sie mir anreichte...pürierte Pizza, püriertes Fleisch mit Gemüse... und alles andere mögliche was es eben gerade gab.

Und dazu immer die blöde Schnabeltasse, die viel zu weit unter meiner Zunge steckte...puh! Da kriegte ich meistens einen ganz dollen Würgereiz von!

 

Aber ich wollte mich jetzt auch nicht über mein Essen auslassen.

Auch nicht über meine Mutter.

 

Es war mir ja klar, dass sie darunter litt, dass ich nicht singend und tanzend durch den Garten hüpfte und mit meinen Freunden Verstecken spielte.

Und dass sie ihr gesamtes Leben für mich umgekrempelt hat.

Okay, dass hätte sie auch bei einem "normalen" Kind gemusst, aber ich denke, ich brauchte (und brauche immer noch) mehr Zuwendung und vor allem Pflege als andere Kinder.

Ich wäre auch gerne wie andere Kinder.

Furchtbar gerne sogar.

Für mich ist das alles schließlich auch nicht immer schön und einfach!

Obwohl ich wirklich kein missmutiger Mensch bin. Ich habe eine Menge Spaß in meinem Leben und lache ganz viel und oft. Wenn jemand nett zu mir ist und sich für mich Zeit nehme, macht mich das sehr glücklich. Oft denke ich mir auch selber lustige Sachen aus oder beobachte Menschen, die sich lustig verhalten, dann muss ich auch immer lachen!

Und ich höre gerne Musik und Geschichten auf meinem CD Player.

Schade dass ich nicht sagen kann, was mir besonders gut gefällt. Manchmal höre ich tagelang die gleiche CD, weil sie einfach immer wieder von vorne angemacht wird!

Ich glaube die Leute denken manchmal wirklich ich bekomme das sowieso nicht mit.

 

Bei unseren Nachbarn wohnten Zwillinge, ein Mädchen und ein Junge, die waren ein Jahr älter als ich.

Ich weiß nicht, wie oft ich in meinem Rollstuhl im Garten saß und sie beim Spielen beobachtet habe...da kamen viele Gefühle in mir hoch, Sehnsucht und auch ein bisschen Neid auf die beiden, weil sie so toll laufen und sprechen konnten und weil ihre Mutter immer so stolz auf sie war und sie so oft in den Arm nahm.

Die Mutter hatte wohl auch ihren Kindern gesagt, sie sollten nicht mit mir spielen...ich habe mal so ein Gespräch zwischen meiner Mutter und ihr belauscht. Da hat sie über irgendeinen Einfluss gesprochen, den ich auf ihre Kinder hätte, aber genau habe ich nicht verstanden worum es ging.

Meiner Mutter war es auf jeden Fall seitdem unangenehm, wenn ich im Garten saß und ich wurde nicht mehr so oft auf die Wiese geschoben, wenn die Zwillinge draußen spielten.

Der Kindergarten

Der Kindergarten

Meine Mutter hätte glaube ich am liebsten darauf verzichtet, mich in einen Kindergarten zu stecken. Ich weiß nicht warum, doch ich vermute, dass sie einfach Angst hatte, ich könnte ausgelacht und gehänselt werden.

Vielleicht hatte sie auch selber Angst...sie rannte ja eh immer mit mir durch die Stadt, als sei der Teufel hinter uns her, und war dann zutiefst erleichtert, wieder zu Hause zu sein.

Aber zurück zum Kindergarten.

Entschlossen wurde sich für einen integrativen Waldorfkindergarten, meine Mutter sagte das sei toll, denn dort seien noch mehr Kinder "meinesgleichen" und ich würde mich nicht so alleine fühlen.

Ich freute mich auf die anderen Kinder und den Kindergarten überhaupt.

Am Telefon hörte ich meine Mutter zu einer Freundin sagen "vielleicht hat das Ganze ja doch etwas Gutes, denn so habe ich mal wieder ein bisschen Zeit für mich".

Also freute ich mich auch für sie.

Der erste Tag im Kindergarten war toll. Alle waren nett zu mir und wollten gleich wissen wie ich heiße. Es waren auch viele andere neue Kinder da und die meisten davon wirkten wie ich noch etwas schüchtern.

Es gab auch ganz "normale" Kinder. Und die schienen sich nicht daran zu stören, dass einige von uns anders waren.

Die Erzieherinnen waren auch ganz lieb und hilfsbereit zu uns. Bei ihnen hatte ich auch nicht das Gefühl, dass ich eine Belastung für sie wäre oder es ihnen lieber wäre, wenn ich gar nicht erst gekommen wäre.

An meinem allerersten Tag blieb meine Mutter noch eine Weile, um mit den Erzieherinnen zu reden und ihnen vor allem meine Essgewohnheiten zu erklären.

Dann umarmte sie mich und ging. Ich habe nicht geweint, weil ich mich so wohl fühlte.

Wir spielten dann ganz tolle Spiele und durften einen Spaziergang machen. Den genoss ich sehr, denn zu Hause gingen wir nur selten spazieren.

Keiner behandelte mich anders als die anderen und keiner machte sich über mich lustig.

So war ich schon fast traurig, als die Zeit zu Ende war und ich wieder nach Hause musste.

Jeden Tag war ich nun schon ganz früh wach, weil ich mich so auf den Kindergarten freute!

Die Erzieherinnen waren wirklich toll, sie gaben mir in meiner ganzen Kindergartenzeit nicht ein einziges Mal das Gefühl, dass ich mich für meine Behinderung schämen müsste oder ein anderer Mensch deswegen sei.

Einmal sagte eine ziemlich am Schluss der Kindergartenzeit zu mir: "Lass dir niemals erzählen, du seist nichts wert und du seist ja eh nur eine dumme Behinderte. Du bist ebenso viel wert wie jeder andere Mensch auch. Und du bist ein toller Mensch."

Das war das Schönste, was je jemand zu mir gesagt hatte.

Meine Mutter dachte glaube ich, mir gefiele der Kindergarten nicht, weil ich wahrscheinlich traurig aussah, wenn ich wieder nach Hause musste.

Nicht dass ihr mich falsch versteht: Ich liebe meine Mutter sehr und ich weiß, dass sie alles für mich tut. Aber das Gefühl, ihr eine Last zu sein, ist für mich manchmal unerträglich. Wahrscheinlich ist es auch nicht einfach mit mir...aber ich habe mir das nicht ausgesucht, ebenso wenig wie sie.

Außerdem: Mit ihr ist es auch nicht immer einfach.

Aber vielleicht war meine Mutter auch nur so oft traurig, weil mein Vater kaum noch nach Hause kam.

Und ich war traurig, als die Kindergartenzeit vorbei war.

Alle sagten "dann fängt der Ernst des Lebens an".

Und ich habe ganz doofe Geschichten über die Schule gehört von meinen Freunden im Kindergarten.

Natürlich musste ich auch auf eine Behindertenschule, wie alle so schön sagen.

Die Schulzeit

Die Schulzeit

 

In der Nacht vor meinem ersten Schultag konnte ich nicht schlafen.

Dauernd dachte ich an die Geschichten, laut denen man in der Schule gehänselt würde und dass man dort eh nur rumsäße, weil man ohne sprechen, lesen und schreiben ja sowieso nichts lernen könne.

So war ich sehr aufgeregt.

Morgens weckte mich meine Mutter schon ganz früh. Auch sie wirkte nicht gerade wie die Ruhe in Person.

Nachdem die typische allmorgendliche Pflege vollzogen worden war (Waschen, eine Runde Toilettenstuhl, Windel, Anziehen und schick machen), ging es dann endlich los.

 

Vorher war ich schon einmal bei der Schule gewesen und kannte meine Klasse auch schon- aus meiner alten Kindergartengruppe war keiner mehr dabei.

Meine Mutter sprach heute noch weniger als sonst mit mir (ich kann auch verstehen, dass es schwierig ist, mit einem Menschen zu sprechen, der nie antwortet und überhaupt verstehe ich meine Mutter meistens, denn ich bin ja auch schwierig wie sie immer sagt) dabei hätte ich mir so gewünscht, dass sie mir wenigstens ein bisschen Mut gemacht hätte...aber vielleicht konnte sie auch nicht sehen, wie aufgeregt ich war.

Wir wurden dann erst einmal in die Klassen eingeteilt und unsere neue Klassenlehrerin stellte sich uns vor.

Sie klang ziemlich gelangweilt und uninteressiert...aber sie war auch schon etwas älter und hatte bestimmt schon mindestens 10 oder 20 Klassen vor uns unterrichtet.

Kein einziges Mal lächelte sie uns an.

Sie erzählte Sachen wie dass sie sich freue, von nun an unsere Lehrerin zu sein und dass wir an dieser Schule eine Menge Förderungsmöglichkeiten erhalten könnten und viel lernen würden.

Förderung?

Was genau hieß das jetzt?

Ich weiß noch, dass meine Mutter einmal mit jemandem über eine "Förderung" für mich gesprochen hat...sie sagte, dass Krankengymnastik, Logo- und Motopädie oder Kinästethik (fragt mich nicht was das alles heißt...) bei mir überflüssig wäre und sie nicht bereit sei, dafür die Kosten zu tragen.

Von anderen Kindern aus dem Kindergarten weiß ich aber, dass sie zu Hause ganz viel Training hatten und mit ihnen das Laufen in einem Stehständer (da steht man dann drin und lernt das Gefühl kennen, in aufrechter Haltung zu sein) geübt wurde und dass die Kinder daran großen Spaß hatten. So was wird manchmal auch von einer "Krankenkasse" bezahlt, so dass es nicht allzu teuer für die Eltern wird, sagten sie.

 

Vielleicht wusste meine Mutter das alles nicht.

Ich konnte es ihr ja auch nicht erzählen.

Andererseits hätte sie sich, dachte ich mir, aber vielleicht erkundigen können.

Bestimmt hatte sie keine Zeit!

 

Darum freute ich mich jetzt schon ein bisschen mehr, denn so eine "Förderung" würde bestimmt gut für mich sein!

Jetzt verabschiedeten sich die Eltern und wir wurden in unsere neue Klasse gebracht.

Es gab anscheinend viele Helfer, denn jeder, der im Rollstuhl saß, wurde von jemandem geschoben.

Wenn ich richtig gezählt habe (bis 10 kann ich aus dem Kindergarten...), saßen 5 Kinder im Rollstuhl. Die anderen konnten selber laufen.

Wir wurden dann in eine große Runde gesetzt und jeder sollte etwas über sich erzählen.

Super.

Anscheinend konnten sich hier wirklich alle bis auf ich und ein kleiner Junge verständlich machen...manche waren zwar nicht ganz einfach zu verstehen, doch sie bekamen dann Hilfe in Form von Fragen.

Als ich an der Reihe war, sagte die Lehrerin nur:

"Das ist Sonja. Sie kann nicht sprechen. Sie ist sieben Jahre alt und wohnt mit ihren Eltern in einem Haus in der Grevestraße."

Das war alles. Sie guckte mich nicht einmal dabei an. Es ist ja nicht so, dass ich nicht durch Lachen oder Augenbewegungen meine Zustimmung oder auch Ablehnung hätte preisgeben können.

Und Eltern? Wohl eher Mutter...

Ich lachte einmal laut auf, um meine Überraschung über diese kurze Vorstellung deutlich zu machen.

Aber die Lehrerin sprach schon mit dem nächsten Kind.

Bei dem anderen kleinen Jungen, der übrigens Bastian hieß, lief die Sache genauso ab. Ich konnte auch an seinem Blick sehen, wie er sich fühlte.

Somit waren wir schon die Außenseiter hier- zumindest hatte ich nun das Gefühl einer zu sein.

 

Ich glaubte nicht, dass ich lernen würde, mich hier wohl zu fühlen.

 

Wir Kinder wurden dann in Gruppen aufgeteilt:

Die ziemlich fitten, z.B. Kinder mit dem sogenannten "Down- Syndrom", die sprechen und sich bewegen konnten, gingen mit einem anderen Mann in einen Nebenraum.

Die, die im Rollstuhl saßen, aber ihre Arme bewegen und sprechen konnten, blieben mit Bastian und mir bei der Lehrerin.

Ab nun verlief jeder Tag in der Schule nach dem gleichen Schema:

Wir kamen an.

Wir bekamen eine Geschichte vorgelesen.

Dann hatten wir Motopädie (wieder ein Fachwort)...das heißt, unsere Bewegungsfähigkeit sollte geschult werden. Dabei bewegten die Therapeuten unsere Finger oder wir mussten Igelbälle festhalten und wieder loslassen. Manchmal wurden wir auch auf Matten gelegt und dort hin und her bewegt. Was das bringen sollte, weiß ich nicht, aber es war angenehm.

Einmal in der Woche hatten wir Lautformung. Dafür gab es auch irgend so ein Fachwort. Dort sollten wir dann verschiedene Geräusche nachmachen, die uns vorgegeben wurden.

Oft war mir dabei meine Zunge einfach im Weg- die ist eh meistens irgendwie im Weg, weil sie so groß ist.

Um 12 Uhr gab es dann immer Mittagessen...für mich natürlich püriert: Alles was die anderen so essen konnten, wurde für mich und die anderen, die nur "Püree" essen konnten, in eine Schüssel geschmissen und zusammen gematscht, egal ob es eigentlich zusammen passte oder nicht. Und dann wie immer mit Milch verdünnt, die auch nicht zu allem gut schmeckte.

Ich würde gerne einmal wissen, weswegen ich eigentlich keine kleinen Stückchen essen kann...kauen könnte ich eigentlich und schlucken auch.

Aber ich kann ja nicht fragen.

 

Nach dem Essen gab es dann eine Mittagspause, das hieß wir wurden von irgend jemandem der gerade Zeit hatte, neu gewindelt und im Ruheraum in Betten gelegt.

Müde war ich zwar nur selten, aber sie meinten es wohl nur gut.

Und ich entschied ja sowieso nichts selber.

Obwohl ich es gekonnt hätte, wenn man einmal ein bisschen mehr auf meine Mimik und Laute geachtet hätte.

Aber als "Schwerstmehrfachbehinderter" konnte ich das wohl nicht erwarten.

Oft musste ich dann weinen. Vielleicht wollte ich auch einfach Aufmerksamkeit durch das Weinen bekommen. Doch die meisten sagten nur "Sie liegt bestimmt falsch" und drehten mich auf eine andere Seite. Oder sie reagierten gar nicht.

 

Nach der Mittagspause hatten wir dann Ergotherapie (rumsitzen und warten, dass man etwas in die Hand bekommt, womit man zumindest ein bisschen spielen kann). Die anderen Kinder bastelten da ganz tolle Sachen. Wenn ich ganz großes Glück hatte, bastelte auch mal jemand mit mir (es gab eine ganz nette junge Frau, die sich manchmal viel Zeit für mich nahm, sie führte dann meine Hände und halt mir, tolle Bilder zu malen oder andere Sachen zu basteln. Das war mit das Beste an der Schule)

 

Dann gab es noch, ab der achten Klasse, zweimal die Woche "Berufsvorbereitung für die Werkstatt". Im Grunde das Gleiche wie die Ergotherapie, meist hatte ich einfach ein Stück Holz in der Hand und schaute zu, wie die anderen mit den Werkzeugen arbeiteten.

 

Um vier war die Schule dann zu Ende.

So ging es also neun Jahre lang, bis ich 16 war.

Einen Schulabschluss habe ich nicht bekommen.

Und einen Stehständer habe ich in der ganzen Zeit nicht gesehen.

Die Zeit nach der Schule

Die Zeit nach der Schule

 

Die erste Zeit nach der Schule war ganz schlimm für mich. Ständig saß ich zu Hause herum und hörte CDs oder lag im Bett.

Meine Mutter hatte seit einiger Zeit wieder angefangen, vormittags arbeiten zu gehen, sie sagte, das tue ihr gut und das merkte man ihr auch an, sie wirkte nun immer sehr ausgeglichen.

Wenn sie weg war, kam immer meine Oma und passte auf mich auf. Sie war eigentlich ganz lieb, aber ich glaube sie wusste nie so konkret wie sie sich mit mir beschäftigen sollte, sie wirkte dann etwas steif.

Aber Mühe gab sie sich. Und ihr Essen schmeckte mir sehr gut! Den Salat bekam ich dann zwar auch püriert, aber in einem extra Schüsselchen.

Toll war immer wenn mein Opa mitkam, da bekam ich Geschichten vorgelesen und er machte immer Quatsch mit mir. Das hat er schon früher gemacht.Manchmal schmiss er mich sogar in die Luft und fing mich wieder auf. Einmal sagte meine Mutter zu ihm „Papa pass doch bitte auf, du weißt doch, die Sonja ist sehr empfindlich!“

Daraufhin sagte er nur: „Papperlerpapp! Das Mädchen kann viel mehr ab als ihr immer denkt! Guck doch wie sie sich freut!“ Meine Mutter erwiderte nichts mehr und seufzte nur.

Dann fühlte ich mich für einen Moment lang so herrlich normal und unbeschwert.

Bis auf solche Momente langweilte ich mich meistens fast zu Tode.

Ich fragte mich, wie es jetzt weitergehen sollte. Sollte ich nun mein Leben lang hier sitzen und gar nichts machen? In der Schule waren wir doch auf die Werkstatt vorbereitet worden, warum konnte ich da nicht hingehen? Okay toll war es nicht gewesen, weil ich da ja meistens auch nur rum gesessen habe, aber wenigstens wäre ich jeden Tag an die Luft gekommen und hätte ein bisschen Abwechslung gehabt.

Meine Mutter sagte aber nie etwas in der Richtung.

Sie wirkte sowieso in letzter Zeit sehr abgelenkt und als wäre sie ständig in Gedanken.

Vielleicht vermisste sie ja meinen Vater.

Ich vermisste ihn sehr, obwohl ich ihn eigentlich gar nicht richtig kannte. Und wenn er bei uns war, sprach er nur selten mit mir. Es fiel ihm auch schwer, mir in die Augen zu gucken, so als hätte er Angst vor irgend etwas.

 

Eines Tages hörte ich ein Gespräch zwischen meiner Mutter und meiner Oma mit.

Meine Mutter sagte: „Ach Mama, ich weiß nicht was ich mit Sonja weiter machen soll. Es wächst mir alles über den Kopf.“

Meine Oma erwiderte: „Dein Problem ist auch, dass du immer mit allem allein zurecht kommen möchtest, Erika. Würdest du dir endlich eine Hilfe holen, die die Pflege und die Betreuung von Sonja übernimmt und dich beraten kann, was für die Zukunft am Besten ist, hättest du schon mal eine Sorge weniger!“

Meine Mutter wirkte etwas ungeduldig, als hätten sie über dieses Thema schon öfters diskutiert.

Und wie soll ich das bezahlen? Und außerdem: Was soll diese Hilfe denn überhaupt von mir denken? Dass ich mit der Betreuung meines eigenen Kindes überfordert bin?“

So ein Quatsch!“ widersprach meine Oma. „Dafür gibt es doch solche Leute. Die haben sich diesen Beruf schließlich ausgesucht, gerade weil sie den Menschen helfen möchten. Sie wissen, wie schwierig es für Eltern sein kann, mit so einer Situation fertig zu werden. Und wegen dem Geld, da gibt es doch Unterstützung vom Staat. Wäre wenigstens Werner da, um dir zu helfen, aber der interessiert sich nicht ein bisschen für seine Tochter.“

Verärgert sagte meine Mutter: „Es war ja klar, dass das wieder darauf hinausläuft. Ich akzeptiere mittlerweile, dass er sich von mit getrennt hat. Und Sonja konnte er nie so akzeptieren, wie sie ist.“

 

Getrennt?

Das hatte mir keiner erzählt.

Ich saß genau neben den beiden und kriegte das mal eben so auf den Tisch geknallt.

Ich stieß einen lauten Entrüstungsschrei aus und sie fuhren erschrocken zusammen.

Sonja, was ist denn los? Sitzt du nicht richtig?“ fragte meine Mutter, stand auf und begann, an mir herum zu ruckeln. Ich begann zu weinen. Sie hatte nicht einmal den Zusammenhang meines Schreis mit dem Gespräch erkannt.

So wenig Auffassungsgabe traute sie mir zu.

Vielleicht hat sie ja das mit der Trennung mitbekommen“ sagte meine Oma.

 

Vielleicht.

Es war anscheinend auch nicht weiter wichtig.

 

Zwei Wochen später, ich war gerade in meinem Zimmer und hörte eine CD und meine Mutter war irgendwo im Haus verschwunden, klingelte es an der Tür.

Ich konnte hören, wie meine Mutter öffnete und eine weibliche Stimme sagte: „Hallo, ich bin Frau Groß, wir hatten telefoniert wegen der Stellenanzeige.“

Kurz darauf kam meine Mutter in mein Zimmer, gefolgt von einer dunkelhaarigen, nett aussehenden Frau. Sie war vielleicht so alt wie meine Mutter. Lächelnd kam sie auf mich zu.

Du bist also die Sonja. Freut mich sehr. Ich heiße Anne.“ sagte sie freundlich, nahm meine Hand, als wäre es eine ganz normale Hand, die nicht zu einer Faust zusammen gekrampft wäre, und schüttelte sie.

Alleine durch diese Begrüßung war sie mir sofort sympathisch. Noch nie hatte mir jemand einfach die Hand geschüttelt! Ich stieß einen Begeisterungsschrei aus und sie lachte und sagte: „Schön, dass du dich auch freust, mich kennen zu lernen!“

Anscheinend hatte sie mich verstanden. Und sie kannte mich erst seit einer Minute.

Sie wandte sich zu meiner Mutter um und sagte: „Sie haben aber eine fröhliche Tochter!“ Meiner Mutter schien das Ganze etwas unangenehm zu sein. Wahrscheinlich hätte sie selber den Begeisterungsschrei anders gedeutet und wieder an mir herum geruckelt. „Ja“ sagte sie nur, anscheinend fiel ihr nichts besseres ein.

Wir unterhielten uns dann noch eine Weile, wobei Anne immer wieder mich ansprach und ins Gespräch mit einbezog, was ich gar nicht gewöhnt war. „Wir zwei machen das schon, oder, Sonja?“ fragte sie mich, nachdem meine Mutter sie als meine neue Pflegerin akzeptiert hatte.

 

Ich hatte das Gefühl, die nächste Zeit würde etwas abwechslungsreicher werden.

 

Mit dieser Vorahnung sollte ich allerdings recht behalten, soviel stellte sich in der nächsten Zeit heraus.

Anne war einfach toll. Sie unternahm Sachen mit mir, die bisher noch nie jemand mit mir gemacht hatte, sie redete mit mir und schien fast immer meine Antworten richtig deuten zu können und wenn dem einmal nicht so war, fragte sie nach.

Sie fragte mich, was ich gerne essen wollte und machte ein Zeichen mit mir aus: Für „ja, das klingt lecker“ ließ ich meine Faust auf meinen am Rollstuhl angebrachten Tisch fallen und für „nein bloß nicht“ verdrehte ich die Augen.

Sie ging mit mir spazieren und machte sich über die Leute lustig, die komisch oder mitleidig guckten oder sogar auf die andere Straßenseite gingen. Über die lästerte sie richtig mit mir und ich bekam mich manchmal gar nicht wieder ein vor lauter Lachen.

Wir gingen ein paar Male ins Kino.

Sie brachte auch einmal ihren Hund mit und ich durfte mit ihm spielen und ihn streicheln, was mir einen riesigen Spaß machte.

Wenn ich meine Mittagspause machte, legte sie jeden Tag eine andere CD ein und fragte immer, ob ich das auch gerade hören wollte, wobei wir mit dem selben System kommunizierten wie beim Essen.

Sie gab mir niemals das Gefühl, eine Last für sie zu sein.

Ich wurde so akzeptiert wie ich bin.

Anne gab mir als erster Mensch in meinem Leben das Gefühl, eine vollwertige Persönlichkeit zu sein.

Im Kindergarten waren die Menschen zwar auch nett zu mir gewesen, aber es war eine andere Basis: Die Erzieherinnen waren eben für alle Kinder da. Nicht nur für mich.

Anne war nur für mich da.

Oft erzählte sie mir etwas und ich lernte eine Menge Dinge dabei, die meine Mutter anscheinend auch noch nicht wusste oder nicht wissen wollte. Zum Beispiel erzählte sie mir, dass es in einem Buch Gesetze gab, die den Menschen verboten, mich aufgrund meiner Behinderung anders zu behandeln als andere Menschen.

Auch mit Geld und Arbeitsmöglichkeiten war da vieles geregelt.

Oft sprach sie auch davon, dass Deutschland kein Land sei, in dem Menschen mit „Handicaps“ (so nannte sie meine Behinderung und es klang viel schöner so) einen besonders leichten Stand hätten.

Sie sagte, oft liege das einfach daran, dass hier einfach zu wenig „Aufklärungsarbeit“ stattfinden würde (sie erklärte mir, Aufklärungsarbeit hieße, sich mehr mit den Menschen mit Handicaps in der Öffentlichkeit aufzuhalten und den Menschen zu zeigen, dass sie keine Angst haben oder sich sogar ekeln müssen vor uns). Anne sagte, da könnte man viel mehr machen, wenn die Menschen sich mehr gegenseitig unterstützen würden. Es sei eine Schande, dass im 20. Jahrhundert Menschen mit Handicaps immer noch oft in riesigen Wohnheimen wohnen würden, die dann auch noch weit weg von den Städten lägen und somit eine Eingliederung schon aufgrund der Umgebung fast unmöglich sei. Das sei in anderen Ländern wie zum Beispiel Schweden oder den Niederlanden schon viel besser als hier.

Über so etwas konnte sie sich sehr aufregen und ich fand es gut, dass sie mit mir über solche Sachen sprach.

 

Anne versuchte auch, mit meiner Mutter zu sprechen.

Das war aber schwieriger, denn meine Mutter war nicht so begeistert davon.

Sie fühlte sich wahrscheinlich von Anne persönlich angegriffen. Kritik konnte sie sowieso nicht gut vertragen.

Bei mir sprach Anne niemals schlecht über meine Mutter.

Aber an ihren Blicken merkte ich oft, dass sie mit dem Verhalten mir gegenüber nicht einverstanden war. Sie versuchte das dann ganz freundlich zur Sprache zu bringen, aber jedes Mal reagierte meine Mutter darauf gereizter.

Einmal zum Beispiel kam meine Mutter von der Arbeit früher nach Hause. Ich saß gerade beim Essen und Anne hatte ein Telefonat bekommen, so dass sie kurz aus dem Raum gegangen war.

Wie immer sagte meine Mutter nur „Hallo“ zu mir und nahm mich nicht in der Arm oder gab mir einen Kuss, das war ich ja gewöhnt. Dann guckte sie verblüfft auf das Essen (an dem Tag gab es Kartoffeln mit Würstchen und dazu Orangensaft in einem ganz normalen Plastikbecher ohne Schnabelaufsatz, denn das hatte Sonja schon vor einiger Zeit für nicht nötig erachtet).

Als Sonja wieder kam, sagte meine Mutter mit verhaltener Kritik in der Stimme zu ihr:

Das ist ja interessant. Ich wusste gar nicht, dass meine Tochter seit Neuestem nicht mehr aus der Schnabeltasse trinkt.“

Sonja antwortete freundlich:“Sonja und ich haben ausgemacht, dass es für uns beide angenehmer ist, wenn sie aus einem ganz normalen Becher trinkt. Meinen sie nicht, dass es bestimmt ein komisches Gefühl ist, wenn man dieses Ding im Mund hat? Und es dann vielleicht aus Versehen noch zu weit hinein geschoben wird und einen Brechreiz auslöst?“

Ich erwartete, dass meine Mutter nun vielleicht nachdenklich gucken würde. Statt dessen konnte ich deutlich sehen, dass sie zunehmend gereizter wurde.

Ich glaube nicht, dass Sonja jemals Probleme mit der Schnabeltasse hatte, weil ich sie ihr zu tief in den Mund geschoben habe, Frau Groß. Ich weiß schon, wie ich das richtig mache! Und außerdem: Wie können Sie sagen, sie hätten das mit Sonja ausgemacht? Wie kann man mit ihr denn etwas ausmachen? Verfügen sie über telephatische Kräfte oder wie machen Sie das?“

Meine Mutter lachte kurz auf über ihren eigenen Witz.

Anne blieb ganz gelassen. Wahrscheinlich erlebte sie eine solche Situation nicht zum ersten Mal, denn sie hatte mir einmal erzählt, wie schwierig es manchmal sei, den Eltern von Kindern mit Handicaps Vorschläge zu machen, wie ihnen etwas besser gelingen könnte, weil die Eltern sich dann oft angegriffen fühlen würden und nicht verstanden, dass sie ihnen nur helfen wolle.

Sie sagte zu meiner Mutter: „Frau Engel, ich habe niemals Ihre Fähigkeiten bezweifelt. Aber gucken Sie sich Sonja doch einmal an. Man kann sehr viel an ihrer Mimik, ihrer Gestik und ihren Lauten erkennen und sie kann sich sehr gut ausdrücken.

Sehen Sie, wir haben zum Beispiel ein Zeichen für „ja“ oder „nein“ entwickelt.

Um es meiner Mutter vorzuführen, ließ ich meine Faust kräftig auf das Tischchen donnern.

Anne sagte begeistert und in der Hoffnung, dass meine Mutter es nun verstehen würde: „Sehen sie, das heißt ja. Komm Sonja, zeig deiner Mutter auch noch das nein!“ Ich verdrehte extra stark meine Augen.

Doch anstatt nun überrascht, begeistert oder wenigstens dankbar für die Anregung zu sein, sagte meine Mutter nur mit weiterhin gereizter Stimme: „Meinen sie ernsthaft, dass es gut ist, wenn Sonja zig Mal am Tag auf diesen Tisch haut?“

 

So reagierte meine Mutter auf alle Neuerungen, die Anne einführen wollte. Es war für mich wirklich frustrierend. Manchmal hatte ich das Gefühl, sie wollte mich einfach nicht verstehen.

Vor Anne war mir das manchmal richtig unangenehm. Doch Anne war darüber anscheinend überhaupt nicht böse. Sie schien aber zu merken, dass ich so dachte und versuchte, mir das Verhalten meiner Mutter aus ihrer Sicht zu erklären:

Für meine Mutter war die Tatsache, dass ich kein normales gesundes Kind war, ein tiefer Einschnitt in ihrem Leben gewesen. Erst einmal kam sie damit überhaupt nicht zurecht. Sie versuchte, Halt bei meinem Vater zu finden, der aber restlos überfordert war und sich immer weiter entfernte, bis er sich schließlich trennte. Auch daran gab meine Mutter sich wahrscheinlich einen Teil der Schuld, sagte Anne, denn schließlich hatte sie mich ja zur Welt gebracht.

Nun versuchte sie, alles alleine auf die Reihe zu kriegen. Leider hatte sie kaum Freunde und auch sonst außer ihren Eltern nur wenig Unterstützung. Niemand war da, der in der gleichen Situation war wie sie.

Im Kindergarten oder auch in der Schule hätte sie Gleichgesinnte finden können, doch vielleicht war sie zu dieser Zeit schon zu sehr in ihrer Rolle der „Einzelkämpferin“ gefangen, um das wahrzunehmen und einen Sinn darin sehen zu können, sich in ihrer sowieso kaum vorhandenen Freizeit noch mehr mit dem Thema zu beschäftigen.

So ging sie von vorne herein der Situation aus dem Weg, eventuell Fehler eingestehen zu müssen oder Kritik ausgesetzt zu werden, die sie nicht hören konnte oder wollte.

Anne sagte auch, sie sei sicher, dass meine Mutter mich liebe und wolle, dass es mir gut ginge. Nur habe sie noch nicht den richtigen Weg gefunden, zu mir zu stehen und mein Handicap vorbehaltlos akzeptieren zu können. Ich solle versuchen, mich auch einmal in die Lag meiner Mutter zu versetzen.

Aus dieser Sicht hatte ich die Dinge noch nie betrachtet.

Das meine Mutter mich liebte und ich ihr wichtig war, daran hatte ich schon geglaubt, doch mir waren immer wieder Zweifel daran gekommen. Es war mir immer klar gewesen, dass sie es nicht einfach hatte und dass auch sie unter der Situation litt oder auch nicht wusste, wie sie mit mir umgehen sollte.

Nur die Gründe dafür hatte ich nie verstanden. Jetzt sah ich meine Mutter teilweise mit anderen Augen.

Ich hoffte innerlich, dass sie noch erkennen würde, dass Anne ihr wirklich helfen wollte und dass sie irgendwann bereit sein würde, diese Hilfe auch anzunehmen.

Ich finde es ist nichts Schlimmes, wenn man im Leben auch einmal Hilfe braucht.

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Hörbuch

Über den Autor

Luna
Hallo,
schön daß du das gerade liest:-)
Ich bin Luna und wohne im nicht wirklich schönen Wuppertal...dort arbeite ich seit sechs Jahren als Heilerziehungspflegerin in einem Wohnheim für behinderte Menschen. Demnächst werde ich wohl noch ein Studium (Sozialarbeit) beginnen, wenn alles gut geht...

In meiner Freizeit gehe ich mit meinem supertollen Schnauzer/ Labrador- Mix Calimero spazieren, lese, treffe mich mit Freunden, spiele Klavier oder entspanne mich einfach mit meinem Freund...

Naja, warum ich hier bin: Schon lange schreibe ich gerne und viel.
Im Laufe meiner Arbeit mit behinderten Menschen ist auch langsam eine konkrete Buchidee herangereift...

Würde mich freuen wenn wir in Kontakt kommen:-)
Lieben Gruß

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Silberwolf eine Geschichte mit sehr viel Tiefe. So wohl im Gefühl als auch in den Situationen in der sich Sonja und ihr Umfeld befindet.

Vor sehr vielen Jahren habe ich das Buch gelesen
*Kai spricht nicht*
Deine Erzählung hat mich ähnlich mitgenommen und vor Fragen gestellt wie ich das Leben und Menschen sehe.

einen lieben Gruß an Dich
Vor langer Zeit - Antworten
Ninth Sehr gute Darstellungsweise! - Ich find deine Geschichte geht sehr nahe- zeigt einem mal die andere Seite, die man als "normaler" Mensch nicht kennt. Ich denke, deine Arbeit gibt dir da einen ganz anderen Einblick.
Ich würd gern mehr lesen...
Vor langer Zeit - Antworten
tasja Sonja - sehr bewegend..
du hast eine tolle Einstellung, leider hat die nicht jeder..
Du scheinst dich gut einfühlen zu können und siehst richtig hin, ich wünsche mir, das viele Menschen, das Glück haben, Menschen wie dir zu begegnen und nich in die flasche Hände geraten(man ist als Hilfebedürftiger so schnell ausgeliefert und das ist so schrecklich..)
Lg tasja
Vor langer Zeit - Antworten
Luna Jeder Kommentar ist herzlich willkommen egal ob positiv oder negativ:-)
Und danke liebe Marion!
Vor langer Zeit - Antworten
MarionG Ich bin gespannt ... - Der Anfang ist in jedem Fall vielversprechend.

Liebe Grüße
Marion
Vor langer Zeit - Antworten
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