Beschreibung
Für diese Geschichte danke ich der lieben LadyLy. Die erheiternden Gespräche mit ihr brachten mich auf die Idee zu dieser Erzählung. Ihr ist zudem diese Geschichte gewidmet, wie auch Daniel, alias Punkpoet, und dem guten Doc, dem ich mal eben und hoffentlich mit seinem Wohlwollen den schwarz gekleideten Mann entliehen habe. Diese Geschichte ist mein Orion, und genau bei diesem Lied ist sie auch entstanden: http://tinyurl.com/684c9o
Akt I
Mir stockte der Atem, als ich am Bahnhof ankam. Natürlich stehen die Leute immer Schlange, wenn es etwas umsonst gibt, doch mit einem solchen Andrang hätte ich nicht im Traum gerechnet: Auf dem Gleis tummelten sich dermaßen viele Leute, dass ich mich nicht entsinnen konnte, auf welchem Jahrmarkt oder welchem Open-Air-Konzert auch immer ich je so viele Menschen auf einen Schlag gesehen hatte. Geschweige denn auf einem einzigen Gleis. Und dabei war die Anzeige in der Sonntagsbeilage der Zeitung doch eher winzig und unscheinbar gewesen:
Genießen Sie Ihre Freifahrt Richtung »Hoffnung«.
Eine atemberaubende Gratisfahrt ans Ziel all jener, die das Träumen noch nicht aufgegeben haben.
Sie benötigen lediglich Handgepäck. Verköstigung inklusive.
Abfahrt: Heute, 15 Uhr!!!
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Ich hatte die ganze Geschichte für einen ziemlich blöden PR-Gag gehalten, an dessen Ende ziemlich sicher eine hübsche Dame mit festgewachsenem Grinsen stehen würde, um eine neue Sorte Cola oder Schokolade für lau an allzu neugierige und gelangweilte Probanden zu verteilen. Und so hatte ich tatsächlich nur meine kleine Umhängetasche mitgenommen, als ich mich gelangweilt zum Bahnhof aufgemacht hatte.
Hoffnung, was konnte daran schon so falsch sein? Sind wir nicht alle auf der großen Suche nach der Hoffnung? Für mich selbst war diese Suche, schon so lange ich denken konnte, eine Mammutaufgabe gewesen, die ich nie zu erfüllen im Stande gewesen war. Man lebt sein Leben und hofft, sich all die Wünsche, die man hegt, eines schönen Tages erfüllen zu können. Die materiellen als auch die persönlichen, die wirklich wichtigen. Ich glaube, wenn ich sie die zwischenmenschlichen Bande nenne, kommt das der Wahrheit ziemlich nahe. Ja, ich gebe es zu: Ich hegte mein Leben lang die Hoffnung, das perfekte Gegenstück zu finden. Ich habe nie wirklich an der Erfüllung dieser Hoffnung gearbeitet. Warum? Nun, wahrscheinlich glaubte ich einfach, dass ich das Wahrwerden dieser Hoffnung verdient haben müsste. Der Teufel könnte nicht immer auf den größten Haufen scheißen, wenn ich das so sagen darf, und irgendwann würde auch mein Tag gekommen sein. So hangelte ich mich immer schon von einem Punkt im Leben zum nächsten. Traurig, nicht wahr?
Natürlich verband ich all das nicht mit dieser seltsamen Zeitungsanzeige (Oder tat ich es doch?), aber ein wenig Ablenkung vom tristen Wochenende kam mir doch ziemlich recht. Und natürlich war ich neugierig, welchen Scherz sich die Veranstalter für all die armen Idioten, die tatsächlich am Bahnhof aufkreuzen würden, ausgedacht haben mochten.
Doch nein, dies war ganz und gar kein PR-Gag, wie ich nun ziemlich staunend feststellen musste. Die Bahn war bereits im Bahnhof eingefahren und stellte schon für sich genommen einen wahren Augenöffner dar: Am vorderen Ende des Zuges wartete eine schwarz glänzende Dampflokomotive mit einem majestätisch großen Schornstein. Die dunkelgrünen Waggons wirkten geradezu antik, hatten keinerlei neumodische Digitalanzeigen und waren dezent mit goldenen Linien überzogen. Der ganze Zug erinnerte sehr an eine stark überzeichnete Version des Orient Express, so pompös und außerhalb jeglicher Moderne, dass er wie ins Bild geschnitten wirkte.
Als ich ehrfürchtig an der Lok vorbeiging und mich den dicht umstandenen Waggons näherte, entdeckte ich einen blau gekleideten Schaffner. Er stand mitten auf dem Bahnsteig und begrüßte jeden eintreffenden Fahrgast persönlich. Wenn das mal kein Service ist, dachte ich und spürte einen Anflug von froher Erwartung in mir aufsteigen. Vor ihm hatte sich bereits eine kleine Warteschlange gebildet, der ich mich nun anschloss.
»Ich heiße Sie herzlich willkommen, mein Herr«, sagte der Schaffner zu mir, als ich wenige Augenblicke später das vordere Ende der Schlange erreicht hatte und ihm den ausgeschnittenen Zeitungscoupon unter die Nase hielt. Für mich sah er aus, als würde er sich selbst nicht allzu ernst nehmen: Seinen wohlgenährten Leib hatte er in einen reichlich eng sitzenden, blauen Anzug mit golden glänzenden Knöpfen gezwängt. Oberhalb seines pausbäckigen Gesichts thronte die dazu passende blaue Mütze. Ja, er hätte glatt aus einer Kindergeschichte stammen können, wäre da nicht dieses seltsame Lächeln auf seinem Gesicht gewesen. Seine Lippen waren so rot, als hätte er Lippenstift verwendet, und auch seine leicht geröteten Wangen sahen aus, als wären sie geschminkt. Und dieses Lächeln war doch eher ein Grinsen, das mich ziemlich stark an Jack Nicholson in seiner Paraderolle als Joker erinnerte. Ich war mir sicher, dass er sich Mühe gab, freundlich zu wirken, doch ich erkannte eher ein Hohngrinsen hinter seiner Bemühung. Dennoch wollte ich mir nichts anmerken lassen, schließlich wäre das alles andere als fair gewesen, gerade wo ich diesen Menschen doch überhaupt nicht kannte.
»Vielen Dank«, sagte ich daher und schaute den dicklichen Schaffner so freundlich, wie es mir möglich war, an. »Das sind ja ziemlich viele Leute, die hier mitfahren wollen.«
»Oh, das können Sie aber laut sagen, mein Herr. Unsere Fahrten sind immer gut besucht. Wahrlich immer«, entgegnete der Schaffner, der selbst während des Redens sein aufgemaltes Grinsen zur Schau trug.
»Das glaub ich gern«, antwortete ich. »Begrüßen Sie all die Leute persönlich?«
»Aber selbstverständlich, mein Herr. Das gehört zu unserem Service. Hoffnung ist schließlich eine sehr persönliche Sache, nicht wahr?«
Ich dachte nach und fand, dass da irgendwie etwas Wahres dran war. »Ja, das stimmt wohl«, sagte ich und fragte: »Wo geht die Fahrt denn nun wirklich hin? An den Waggons steht ja auch tatsächlich ›Hoffnung‹, aber ich kenne keinen Ort, der so heißt. Ach ja, und das ist übrigens eine hübsche Dampflok. Ist die denn echt?«
Der Schaffner lachte, dass seine ohnehin enge Uniform sich noch mehr straffte und sagte schließlich: »Aber mein Herr! Natürlich gibt es einen Ort, der Hoffnung heißt. Sie tragen ihn in Ihrem Herzen und in Ihrem Kopf. Außerdem ist ‚Hoffung‘ auch der Name dieses Zuges, beziehungsweise, der dieser Lokomotive. Und selbstverständlich ist sie echt. Sie ist fast so alt wie die Hoffnung selbst, möchte ich meinen.« Hinter vorgehaltener Hand lachte er über seinen eigenen Scherz. »Sie ist die letzte ihrer Art, mein Herr. Und sie wird es wohl immer sein.«
›Hoffnung‹. Goldene Lettern schmückten die Schilder, die in die Türen der Waggons gehängt worden waren. Für einen Moment erinnerten sie mich an Bilder aus dem ersten Weltkrieg, die ich in einem Magazin gesehen hatte. Deutsche Soldaten waren in Züge gestiegen, die als Ziel ‚Paris‘ angaben. Eine trügerische Hoffnung und ein ziemlich unpassender Vergleich, wie ich plötzlich fand. Ich wischte den Gedanken hinfort und dachte wieder über die Worte des Schaffners nach. Als ich für einen Moment nichts sagte, ergriff er stattdessen die Initiative: »Sie sind sich im Augenblick nicht darüber bewusst, wo Ihre Hoffnung tatsächlich liegt, nicht wahr, mein Herr?«
»Ich, äh«, begann ich, bevor mir die Worte komplett entfielen. Der Schaffner hob blitzartig seine Hände, legte eine auf meine Brust und die andere auf meine Stirn. Er schloss kurz die Augen, dann nahm er sie wieder weg und nickte verstehend. »Ihr Kopf sagt mir, dass sie auf der Suche nach der Liebe sind. Sie hoffen, die wahrlich weiß leuchtende Dame zu finden. Doch Ihr Herz, mein Herr, weiß noch weit mehr über Ihre tatsächliche Hoffnung.« Dann wurde sein Grinsen plötzlich breiter. Er streckte den Rücken durch und sagte: »Vielleicht bekommen Sie während der Fahrt die Gelegenheit, auf Ihr Herz zu hören, mein Herr. Und wer weiß, vielleicht bringen wir Sie auch zur weiß leuchtenden Dame. Mein Herr, ich wünsche Ihnen eine angenehme Fahrt.«
»Danke sehr«, sagte ich kurz angebunden und spürte ein etwas mulmiges Gefühl in meiner Bauchgegend. Nun wusste ich zwar noch immer nicht, wohin die Reise gehen würde, doch ohnehin erwartete ich lediglich eine kurze, gemütliche Kaffeefahrt. Höchstwahrscheinlich würde man versuchen, uns während der Fahrt billige Parfums und Magnetohrringe anzudrehen. Na, von mir aus. Im Moment wollte ich nur noch einsteigen. Das Gefasel dieses Schaffners ging mir doch etwas zu weit. Ich hatte bereits die skurrilsten Gestalten erlebt, seien es aufdringliche Möbelverkäufer, die sich selbst zum Kaffee einladen wollten oder auch onanierende Flugzeugpassagiere, doch dieser hier schoss eindeutig den Vogel ab. Dennoch gingen seine Worte mir irgendwie nahe, schien er doch eine recht außergewöhnliche empathische Gabe zu besitzen.
»Ähm, sagen Sie, bekomme ich einen bestimmten Sitzplatz zugewiesen, oder-« begann ich und wurde wiederum unterbrochen.
»Schauen Sie auf Ihre Fahrkarte«, sagte der Schaffner mit fröhlicher Stimme und zwinkerte mir zu. Ich schaute auf den Coupon, den ich noch immer in meiner Hand hielt und entdeckte tatsächlich eine Sitzplatznummer: Wagen 155, Sitzplatz 11 (Fenster). Seltsam, dachte ich, wie konnte ich das zuvor übersehen haben? Der Hinweis war deutlich und in fetten Lettern auf den unteren Teil des Coupons gedruckt worden. Ich zuckte mit der Schulter und ging wortlos an dem Schaffner vorbei. Als ich mich einige Schritte entfernt hatte, rief er mir nach: »Mein Herr?«
Ich drehte mich um und fragte: »Ja, bitte?«
»Weiß leuchtende Damen sind rar geworden in diesen Tagen, nicht wahr?«, fragte er langsam und bedächtig. Wieder nickte er verstehend, doch ich konnte nur abermals mit der Schulter zucken. Was hätte ich ihm auch antworten sollen? »Vergessen Sie nie, dies ist die ›Hoffnung‹, in die Sie einsteigen«, schloss er an und grinste. Ich spielte ihm ein Lächeln vor und drehte mich wieder um.
Ich musste nicht weit gehen, um Wagen 155 zu erreichen. Es war der vierte Waggon hinter der Lok. Als ich gerade einsteigen wollte, warf ich einen Blick nach rechts. Die Tür zur Lokomotive stand nun offen, und der Lokführer war nach draußen gekommen. Ein kalter Schauer durchfuhr mich, als die Gestalt den Bahnsteig betrat. Anders als der Schaffner, trug er keine hübsche, blaue Uniform, sondern einen langen, schwarzen Mantel, der selbst aus der Ferne leicht schmuddelig wirkte. Sein breitkrempiger, schwarzer Hut, der sehr an die Kopfbedeckung der Amish erinnerte, warf einen dunklen Schatten auf sein Gesicht, das so nicht zu erkennen war. Seltsame Aufmachung für einen Zugführer, dachte ich, beschloss dann jedoch ganz entgegen meinem Bauchgefühl, dass die Aufmachung wohl zur Show gehören musste. Und so stieg ich ein.
Im Inneren des Wagens roch es genauso, wie ich es erwartet hatte, als ich die alten Waggons gesehen hatte: irgendwie muffig und nach Staub, was mich an das alte Wohnzimmer meiner Großmutter erinnerte, in dem die große Wanduhr Jahr um Tag so penetrant getickt hatte. Ein Gefühl von kindlicher Behaglichkeit legte sich wie Balsam auf mein Gemüt und ließ mich den seltsamen Schaffner sowie den düsteren Lokführer vergessen.
Die Sitze waren ungemein groß und wirkten im Gegensatz zu den schnöden, grauen Sitzen eines modernen ICE wie Königsthrone. Und genau so fühlte sich der mir zugewiesene Platz auch unter meinem Allerwertesten und an meinem Rücken an: ganz, als wäre ich auf Wattewolken gebettet. Derweil konnte ich durch das Fenster beobachten, dass das rege Treiben auf dem Bahnsteig allmählich abebbte. Mehr und mehr Leute bestiegen den Zug. Auch der Waggon, in dem ich saß, füllte sich zunehmend. Weißhaarige Großmütter und -väter zogen an mir vorbei, junge Frauen und Männer, hier und da ein Pärchen. Doch keine Kinder. Ich maß dieser Tatsache jedoch keine allzu große Bedeutung bei. Der Platz neben mir blieb tatsächlich frei, was mir sehr gelegen kam. Gegenüber dem kleinen Tisch vor meinem Sitz nahm nun eine ältere Dame ihren Platz ein. Sie wirkte im Gesicht sehr hager und ausgezehrt. Nachdem sie ihren Mantel abgelegt hatte, ließ sie sich keuchend in den weichen Sitz fallen.
»Einen guten Tag wünsche ich«, sagte ich, bekam jedoch keine Antwort. Sie beachtete mich nicht einmal, sondern schloss stattdessen sofort ihre müden Augen. Dann eben nicht, dachte ich und schaute auf die Uhr. 15 Uhr und 13 Minuten. Wir waren bereits etwas verspätet. Fünf Minuten später sank die Dame mir gegenüber – ihr offener Mund verriet es – scheinbar sehr erschöpft in den Schlaf.
Ich schaute wieder aus dem Fenster. Der Bahnsteig hatte sich ziemlich geleert, und auch die letzten Fahrgäste mussten ihren Platz gefunden haben, denn nun endlich setzte sich die Bahn schnaufend in Bewegung. Die Lok ließ tatsächlich ein geradezu urzeitlich anmutendes Pfeifen erklingen, als sie sich schwerfällig aus dem Bahnhof schob.
Später nahm ich an, dass es die Luft war, und auch jetzt möchte ich das irgendwie gern glauben, auch wenn ich mittlerweile doch sehr viel mehr dahinter vermute, jedenfalls spürte auch ich einen plötzlichen Anflug von Müdigkeit, als wir die Stadt bereits verlassen hatten und außerhalb des Zuges nur noch weite, bewirtschaftete Felder zu entdecken waren. Ich versuchte, mich noch ein wenig bei Laune zu halten, hoffte, dass eine laute Durchsage des Personals mich wachrütteln würde, doch das passierte nicht. Und so sank ich unter dem fortwährenden und gleichmäßigen Rattern der Waggonräder allmählich in einen tief schwarzen, traumlosen Schlaf.
Akt II
Was mich schließlich nach einer ungewiss langen Zeit hochschrecken ließ, war tatsächlich eine Durchsage: »Meine werten Damen und Herren, wenn Sie nun zu beiden Seiten aus dem Fenster blicken, können Sie die Realität entdecken. Die wunderschöne Landschaft, die sich Ihnen hier bietet, ist wahrhaftig! Und doch haben Sie alle sie niemals wirklich zu erfassen versucht, nicht wahr? Ich weise Sie nur darauf hin, weil wir hier leider aus Fahrplangründen nicht halten können. Nehmen Sie die Bilder in sich auf, werte Fahrgäste. Es sind die schönsten, die Sie mit Ihren eigenen Augen während der Fahrt erblicken werden. Vielen Dank!«
Ich runzelte die Stirn. Auch die Dame gegenüber von mir, die scheinbar ebenso von der Durchsage geweckt worden war, tat das. Ich hatte das Gefühl, dass sie mich ansah, doch sie sagte nichts. Und so hielt auch ich meinen Mund und schaute aus dem Fenster, um die wunderbare Landschaft auf mich wirken zu lassen. Über die eigenartige Durchsage dachte ich nicht weiter nach, weil dieser Schlaf irgendetwas mit mir gemacht hatte. Das konnte ich deutlich spüren, doch ich konnte nicht sagen, was es war. Wenn wir träumen, dann wundern wir uns nicht, wenn jemand auf einem Fahrrad an uns vorüberfliegt. Und insgeheim wissen wir, dass wir träumen, genauso wie wir hin und wieder spüren, dass wir nicht träumen, obwohl uns eine gewisse Situation so erscheint. Und genau so war es: Ich spürte, dass dies hier kein Traum war, war aber nicht mehr in der Lage, all das, was um mich herum geschah, als seltsam einzustufen. Ich akzeptierte es einfach, so wie es offenbar auch die anderen Leute taten, die ihre fragenden Gesichter recht schnell wieder ablegten. Ich schaute auf meine Armbanduhr, um festzustellen, wie lange ich geschlafen hatte. Die Zeiger waren stehen geblieben, als es 15 Uhr und 19 Minuten gewesen war.
Als ich noch immer zum Fenster rausschaute und dabei zusah, wie saftige Wiesen, auf den Störche anmutig von A nach B staksten, um nach Fröschen zu suchen, lauschige Wäldchen, die fast schon gemalt wirkten und kleine Teiche, die liebevoll mit Schilf und Seerosen geschmückt waren, an uns vorbeizogen, wurde ich von der anderen Seite plötzlich aufgeschreckt.
»Mein Herr, darf es ein Tee sein?«, fragte der Schaffner, den ich sofort wiedererkannte. Noch immer grinste er sein kussmundrotes Lächeln auf mich herab. Er trug ein großes Tablett mit einer einzigen Tasse darauf.
»Tee?«, fragte ich ein wenig missmutig. »Haben Sie vielleicht auch Kaffee da?«
»Oh, das tut mir leid, mein Herr«, sagte der Schaffner und lachte, dass seine Uniform sich einmal mehr vor seinem ausladenden Bauch spannte. »Kaffee gibt es bei uns nicht. In der ›Hoffnung‹ gibt es nur Tee.«
Bevor ich gar nichts zu trinken bekam, beschloss ich, dass auch Tee genügen würde. »Gut, dann nehme ich eben einen Tee«, sagte ich also und bekam prompt genau die eine Tasse gereicht, die der Schaffner auf seinem Tablett mitgebracht hatte.
»Bitte sehr, mein Herr«, sagte er.
»Vielen Dank. Welche Sorte ist das, wenn ich fragen darf?«
»Aber mein Herr«, sagte er und lachte abermals. »Das müssen Sie schon selbst herausfinden.«
Ich blickte auf die Tasse mit dem dampfenden Tee, als mir einfiel, dass ich den Schaffner auch gleich nach der Uhrzeit fragen könnte. Ich sah zu ihm hoch und nahm fast unbewusst wahr, dass auf seinem Tablett eine neue Tasse stand. Doch wie gesagt, die Andersartigkeit dieser Situation hatte sich irgendwie als Normalität in meinem Kopf manifestiert.
»Entschuldigen Sie, können Sie mir vielleicht die Uhrzeit nennen? Meine Uhr ist stehen geblieben«, sagte ich
»Schauen Sie ruhig auf Ihre Uhr, mein Herr. Dann kennen Sie die Uhrzeit. Hier in der ›Hoffnung‹ sind wir nicht an die Zeit gebunden.«
Darauf wusste ich im Augenblick keine Antwort. Ich sah, wie der Schaffner sich höflich der Frau mir gegenüber zuwandte, doch ich konnte nicht hören, was er sagte. Auch ihre Stimme konnte ich nicht wahrnehmen. Es war, als würde ich mir einen Stummfilm ansehen. Dieser Vergleich brachte mich auf den Gedanken, dass sie meinen Gruß vorhin vielleicht ebenso wenig gehört haben mochte.
Ich hob die Tasse und nippte vorsichtig an dem Tee. Seltsamerweise war er überhaupt nicht heiß, obwohl er noch immer so sehr dampfte, dass ich davon ausgegangen war, mir an ihm die Zunge verbrennen zu können. Er schmeckte sehr fade, was die Sorte für mich nicht gerade erkennbar machte. Genauer gesagt, schmeckte er wie abgestandenes Wasser und damit ähnlich muffig wie der Geruch in diesem Zugwaggon. Ich stellte mir vor, ich hätte ein Glas lauwarmes Mineralwasser vor mir, während ich die ganze Tasse hinunterkippte. Als ich sie wieder abstellte, musste ich mit ansehen, wie sie sich von selbst wieder füllte. Der kurze Schreckmoment, der mich dabei überfiel, verflog jedoch sofort wieder, so als hätte ihn irgendetwas wie Laub aus dem Weg gekehrt.
Im Gegensatz zu den ganzen neumodischen Verkehrsmitteln, fehlte in diesem Zug natürlich die Möglichkeit, Kopfhörer an der Sitzlehne anzuschließen. Und da leider auch der Akku meines iPods ziemlich leergesaugt war, blieb mir nicht viel anderes übrig, als mit aufgestütztem Kopf aus dem Fenster zu schauen. Die sogenannte Realität mussten wir scheinbar mittlerweile passiert haben, denn nun zogen triste Sandlandschaften an uns vorbei, die es hier eigentlich überhaupt nicht geben durfte. Das gesamte Bild wurde dabei in ein zwielichtiges Gelb getaucht, das von dem sepiafarbenen Himmel auszugehen schien. Es war, als blickte ich auf eine alte, vergilbte Fotografie. Und vielleicht war es diese Tristheit, die mich wiederum müde werden ließ, obwohl ich ja bereits sagte, dass ich etwas anderes vermute. Ich konnte mich nicht dagegen erwehren, meine Augen zu schließen und abermals in einen traumlosen Schlaf zu sinken. Ein großer Anflug an nichts. Welch tolle Fahrt.
Akt III
Dieses Mal war es keine Durchsage, die mich weckte, sondern der Schaffner selbst.
»Es liegt mir mehr als fern, Sie zu stören, mein Herr. Doch ich wollte Sie fragen, ob die Fahrt für Sie genehm ist und ob ich vielleicht etwas für Sie tun kann«, sagte er, als hätte er meine Langeweile gerochen.
»Nun ja, mir fehlt ein wenig die Beschäftigung. Wie lange fahren wir denn noch?«, fragte ich, mit verschlafenen Augen zu ihm aufblickend. Dann stellte ich fest, dass er sich verändert hatte. Er schien weniger aufgedunsen, und seine zuvor roten Lippen waren dabei, ein verwaschenes Orange anzunehmen. Auch die farbigen Wangen waren verschwunden und wirkten nun aschfahl.
»Machen Sie sich keine Gedanken über die Dauer der Fahrt, mein Herr. Die ›Hoffnung‹ nach der Fahrtdauer zu fragen, wäre geradezu blasphemisch. Doch das wissen Sie eigentlich selbst. Kann ich Ihnen vielleicht ein Buch aus unserer Bordbücherei anbieten?«
»Sie haben hier eine Bordbücherei? Seit wann gibt es denn so etwas?«, fragte ich leicht verwundert.
»Oh, dieser Zug hat eine, fürwahr, mein Herr.«
»Sagen Sie, ist alles in Ordnung mit Ihnen? Sie sehen schlecht aus«, sagte ich.
Nun lachte er wieder, doch seine Uniform spannte sich nicht mehr. Sie hing eher lässig über seinen deutlich dünner gewordenen Bauch. »Machen Sie sich nur keine Gedanken, mein Herr. Die ›Hoffnung‹ verlangt von uns allen ihren Tribut, nicht wahr?«
Ich beschloss, meine Feststellung auf sich beruhen zu lassen und auf die Bücher zurückzukommen. Lesen erschien mir in diesem Moment als willkommene Abwechslung, und so entschied ich, dieses Angebot nicht auszuschlagen. »Was haben Sie denn im Angebot?«, fragte ich.
»Wir haben eine reichhaltige Palette, mein Herr. Es kommt darauf an, wonach Ihnen der Sinn steht. Mögen Sie Klamauk? Dann empfehle ich Ihnen unsere Sammlung an Timothy Bafflegab-Romanen. Den Autor selbst durften wir schon persönlich bei uns beehren, wenn ich das anmerken darf.« Er zwinkerte mir zu und fuhr fort: »Ansonsten hätten wir noch die Glaswelt-Romane von der guten Lady Lydecha. Diese gehören eindeutig zu meinen Favoriten, sind aber schwer verdauliche Kost. Oder steht Ihnen der Sinn nach etwas Seichtem? Dann empfehle ich Ihnen unsere spannende Phylogenese-Reihe vom noch wenig bekannten Daniel R.« Dann beugte er sich zu mir herunter und flüsterte im verspielten Tonfall: »Der ist übrigens sogar an Bord, was mir eine sehr große Ehre ist, mein Herr.«
Ich musste zugeben, dass ich keines der Bücher kannte und entschied mich daher für eines von jedem der Autoren. Immerhin würde das ein wenig Abwechslung bringen.
»Sehr gern, mein Herr«, sagte der Schaffner freundlich und holte plötzlich drei Bücher hinter seinem Rücken hervor. Ich versuchte erst gar nicht, mich zu fragen, wie er das gemacht hatte und nahm die Romane daher einfach nur dankend an.
Gerade, als ich die Bücher auf dem kleinen Tisch vor mir aufgestapelt hatte, ertönte eine neue Durchsage: »Meine Damen und Herren, ich freue mich, Sie darauf hinweisen zu dürfen, dass sie nun zu Ihrer Linken einige recht große und imposante Bauten erblicken können. Dies sind die berühmten Traumschlösser, von denen Sie alle – da bin ich mir sehr sicher – bereits einiges gehört haben.« Die Stimme unterbrach die Ansage, um ein düster klingendes Lachen ertönen zu lassen, dass mir unter anderen Umständen wahrscheinlich das Blut in den Adern gefrieren lassen hätte und sprach anschließend weiter: »Wenn Sie genau hinsehen, können Sie auch die Abrissarbeiter entdecken. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen beim Zuschauen. Wir fahren derweil weiter und bereiten uns allmählich auf einen kleinen Zwischenhalt vor.«
Ein Zwischenhalt? Ich wusste weder, wo wir waren, noch wie lange wir bereits unterwegs waren, wo also würden wir überhaupt halten? Doch ich fühlte mich innerlich zu schwach, um aufzustehen und nach dem Schaffner zu suchen und ihn danach zu fragen. Dieser war nämlich mittlerweile nirgends mehr zu entdecken. Also tat ich es den anderen Leuten im Waggon nach und sah nach draußen.
Was ich sah, schockte mich nicht, dennoch ließ es mich schlucken. Und wieder spürte ich dieses Hinfortziehen eines aufblühenden Gefühls in meinem Kopf. Draußen, inmitten des gelben Lichtschleiers, waren gigantische Bauwerke zu sehen, die teilweise bis in den Himmel zu reichen schienen. Einige waren reich verziert und erinnerten an Schlösser im Stil des Rokoko. Andere wiederum wirkten mit ihren hohen Zinnen und den kleinen Fenstern bedrohlich und kalt. Am Fuße der Schlösser ließ sich ein reges Treiben beobachten. Fast unbekleidete Männer und Frauen schlugen mit Spitzhacken auf die Schlossmauern ein. Sie arbeiteten, als wäre der Teufel persönlich hinter ihnen her, und gewissermaßen schien das auch zu stimmen. Denn hinter ihnen standen dunkel gekleidete Gestalten, die mich mit ihren Mänteln und den breitkrempigen Hüten frappierend an den Zugführer erinnerten und die pausenlos mit Peitschen auf die Arbeiter einprügelten.
Dieses alles andere als schöne Bild wollte und konnte ich nicht länger ertragen. Ich griff eines der Bücher, die der Schaffner mir gegeben hatte und versuchte, zu lesen. Erstaunlicherweise gelang mir das sogar. Als hätte mich ein plötzlich aufflammendes Interesse an die Seiten gefesselt, verschlang ich fast den gesamten Roman um die Phylogenese (ein geschriebener Zombiesplatter) und vergaß darüber völlig die Zeit.
Was mich letztlich dazu brachte, das Buch wieder zur Seite zu legen, waren die plötzlich quietschenden Zugbremsen. Ich sah auf und musste feststellen, dass mir schwindelig war. Es dauerte einen Moment, bis meine Augen sich scharf stellten. Ich fuhr mit der Hand über mein Gesicht und spürte kalten Schweiß. Und erst jetzt stellte ich mit Entsetzen fest, wie mager meine Finger geworden waren. Meine Hände, meine Arme, alles an mir, schien in sich zusammenzufallen. Doch noch bevor ich in Panik geraten konnte, war diese unsichtbare Macht wieder da, um in meinem Kopf die Normalität herzustellen. Plötzlich fand ich es ebenso wenig erschreckend, dass auch die Menschen um mich herum so furchtbar ausgemergelt waren. Einige waren bereits so dürr, dass sie mich an die furchtbaren Fotos von KZ-Häftlingen in den Geschichtsbüchern erinnerten.
Endlich kam der Zug zum Stehen, und wieder ertönte eine Durchsage: »Meine Damen und Herren, wir haben soeben unseren einzigen Zwischenhalt erreicht. Sofern Sie aussteigen möchten, können Sie dies hier und jetzt gern tun. Wir wünschen Ihnen in diesem Fall einen angenehmen Sturz.«
Hatte er gerade Sturz gesagt, fragte ich mich, als plötzlich rings um mich Heerscharen von Fahrgästen aufstanden. Auch die Dame mir gegenüber erhob sich langsam und quälend. Sie alle trugen derart eingefallene Gesichter zur Schau, dass es mir schwer fiel, hinter diesen schaurigen Masken menschliches Leben zu entdecken. Mit ihrer kalkweißen Haut und den leeren Augen erinnerten sie mich eher an die Zombies aus dem Buch, das ich soeben gelesen hatte. Wo sie hingehen mochten, fragte ich mich gerade, als ich auch schon hören konnte, wie die Türen des Waggons sich schleppend öffneten. Mit dem bisschen Kraft, das mir geblieben war, zog ich mich hoch und schob das Fenster herunter. Ich lehnte mich heraus und erblickte ein Grauen, das die Schlossarbeiter von zuvor ganz klar in den Schatten stellte.
Der Zug stand mitten auf einer schmalen Brücke, die über eine steinige Schlucht führte. Wie Regentropfen stürzten Menschen dem Boden entgegen. Sie pressten sich geradezu durch die schmalen Türen, um sich in die Tiefe fallen zu lassen. Auf dem Grund konnte ich gerade noch sehen, wie sich mehr und mehr rote Flecken bildeten, tatsächlich fast so, als würden rot gefärbte Wassertropfen auf grauem Asphalt aufkommen. Doch so fürchterlich dieses Bild auch war, es fiel mir schwer, die passende Empfindung dafür in mir wahrzunehmen. Ich betrachtete die fallenden und am Boden zerplatzenden Menschen so, als würde ich vor einem Film sitzen, von dem ich wusste, dass er mithilfe jeder Menge Effekte erstellt wurde. Zudem verließ mich die Kraft in den Beinen, und so sackte ich langsam zurück in meinen Sitz. Kurz darauf spürte ich sehr deutlich, dass der Schlaf mich augenblicklich wieder überfallen würde. Und genau das tat er auch.
Akt IV
Dieses Mal weckten mich keine Worte, sondern das unbehagliche Gefühl, beobachtet zu werden. Langsam öffnete ich die Augen, wobei ich feststellen musste, dass meine Lider sich so schwer anfühlten, als würden Gewichte an ihnen hängen. Vor mir stand der Schaffner, der nun kaum mehr wiederzuerkennen war. Aus dem wohlgenährten Kauz war ein Skelett mit übergezogener Haut geworden. Die rote Farbe blätterte von seinen schmal gewordenen Lippen, die soweit zurückgezogen waren, dass man die gelbschwarzen Zähne dahinter sehen konnte. Aus seinen eingefallenen Augenhöhlen glotzten mich große Glubschaugen an, die auf mich entweder emotionslos oder aber auf gemeine Art fröhlich wirkten. Genau konnte ich das in diesem Moment nicht sagen, tippe nun aber auf letzteres.
»Mein Herr, wir erreichen gleich das Ende unserer Fahrt«, sagte das Schaffnergerippe in seinem Sack von einer Uniform, deren Blau jetzt sehr verblichen wirkte. Die vormals goldfarbenen Knöpfe waren rostig geworden. »Ich bin nur angewiesen worden, Sie darauf hinzuweisen, dass Sie sich nun anschnallen sollten, weil wir unsere Fahrt sogleich beschleunigen werden. Sollten Sie dies nicht tun, mein Herr, so tragen Sie die Gefahr Ihrer eventuellen Verletzungen selbst.«
Ich war irritiert. Gern hätte ich gefragt, was passiert war, weshalb er so mager geworden war, warum ich mich selbst so schwach fühlte und warum all die Leute sich in den Tod gestürzt hatten, doch es kostete mich einiges an Kraft, die Stimme überhaupt zu erheben. Und so fragte ich nur: »Weshalb beschleunigen wir denn, wenn wir doch am Bahnhof halten sollten?«
Darauf lachte das Schaffnerskelett höhnisch und so laut, dass es schrill in meinen Ohren nachklang. Dann blickte dieses Ding mich wieder an und sagte: »Weshalb, so muss ich Sie fragen, mein Herr, sollte die ›Hoffnung‹ denn an einem Bahnhof halten? Was glauben Sie, soll hier noch kommen?«
Ich wusste keine Antwort, doch wahrscheinlich war die Frage ohnehin eher rhetorisch gemeint.
»Aus Ihrer Sprachlosigkeit, mein Herr, entnehme ich, dass Sie keinerlei Anstalten gemacht haben, Ihr Herz zu befragen, wie ich sie angewiesen hatte. Hoffen Sie immer noch auf die weiß leuchtende Dame, die Sie in Ihrem Kopf mit sich herumtragen wie ein Kehrpaket?«
»Vielleicht tue ich das, ja«, antwortete ich wie von selbst und glaube, dass dies in dem Moment die größte Wahrheit war, die ich überhaupt von mir geben konnte. Und plötzlich erkannte ich den Trug, dem ich mich selbst ein Leben lang unterworfen hatte. Wer sagt denn, dass am Ende des Weges auch tatsächlich das weiße Leuchten wartet? Wer sagt mir, dass es nicht viel mehr ein dunkler Tunnel ist, in den ich mich selbst hineinmanövriere, und aus dem es keinen Ausgang mehr gibt? Wäre es nicht der richtige Weg gewesen, die ›Hoffnung‹ niemals zu besteigen und stattdessen mit meinen eigenen Füßen hinaus in die Realität zu treten?
Wie um meiner eigenen Erkenntnis Nachdruck zu verleihen, schloss der Schaffner an: »Mein Herr, ich muss Ihnen an dieser Stelle sagen, dass ich nicht einmal glaube, dass Sie ein weißes Leuchten von einem weißen Rauschen unterscheiden können. Im schlimmsten Fall ist nämlich genau dieses Rauschen das Ende Ihres Weges.«
Darauf wendete er sich ab, schlurfte langsam und kraftlos über den Gang und aus dem Waggon hinaus. Dies sollte sein letzter Besuch gewesen sein. Ich wusste das, weil seine Worte so endgültig geklungen hatten. Sie waren wie das bevorstehende Ende der Fahrt, doch ich machte keine Anstalten, aufzustehen und dem Schaffner nachzugehen. Meine Beine hatten ihre Fähigkeit, zu laufen, ohnehin längst eingebüßt.
Stattdessen schaute ich aus dem Fenster und entdeckte, ohne dass es mich gewundert hätte, nichts mehr. Alles hatte diese Sepiafarbe angenommen, und es war, als würden wir über eine überbelichtete Fotografie fahren. Es gab keine Landschaft, kein Wasser, keinen Himmel. Alles war hinfort. Doch hatte nicht lange Zeit, mir diesen Anblick einzuprägen, denn plötzlich gab es einen heftigen Ruck.
Ich schlug mit dem Kopf auf den Tisch, als der Waggon nach vorn kippte, und sah für einen Moment Sterne. Vage konnte ich hören, dass die Teetasse auf dem Boden zerschellte. Ich versuchte noch, meine schwachen Arme auf den Tisch zu stützen, um wieder hochzukommen, doch ich hatte keine Chance. Der Waggon fiel. Der gesamte Zug fiel, denn wir hatten das Ende der Gleise erreicht.
Akt V
Ich weiß nicht, wie lange wir stürzten, doch es schien mir wie eine Ewigkeit. Es war, als müsste ich mein gesamtes Leben noch einmal im Nichts durchschreiten. Ich war zu schwach, um mich überhaupt noch bewegen zu können. Und so hing ich über den Tisch gebeugt und tat ein weiteres Leben lang gar nichts. Immer wieder wurde mir sehr bewusst, dass dieses zeitlose Nichtstun nichts anderes als eine Metapher auf mein tatsächliches Leben war. Wie zynisch, dachte ich dann zumeist und dämmerte immer wieder hinfort.
Doch währt nichts ewig, nicht einmal die ›Hoffnung‹, in der ich saß. Gerade, wenn man meint, es würde alles für immer so bleiben wie es ist, tritt doch eine radikale Änderung zu Tage, nicht wahr? Ich hörte für den Bruchteil einer Sekunde ein unerträglich lautes Krachen und konnte gerade noch denken, dass wir nun wohl endlich, wo auch immer, aufgeprallt waren, als um mich herum alles schwarz wurde.
Nun hätte ich geglaubt, dass dies das wirkliche Ende gewesen wäre. Doch das war es nicht. Aus dem Schwarz wurde allmählich ein verwaschenes Grau, das vor meinen sehenden Augen pulsierte. Und mit jedem Schlag hellte es sich auf, bis ich es als grelles Weiß wahrnahm. Als weißes Rauschen. War es das, was der Schaffner gemeint hatte? Das musste es wohl sein. Ich hatte gefunden, wonach ich unbewusst immer gestrebt hatte. Und noch im Zuge der Erkenntnis formte sich aus dem weißen Rauschen ein Bild.
Ich schreckte hoch, als sich die Ansage in mein Ohr bohrte: »Meine werten Damen und Herren, wenn Sie nun zu beiden Seiten aus dem Fenster blicken, können Sie die Realität entdecken. Die wunderschöne Landschaft, die sich Ihnen hier bietet ist wahrhaftig und doch haben Sie alle sie niemals wahrgenommen, nicht wahr? Ich weise Sie nur darauf hin, weil wir hier leider aus Fahrplangründen nicht halten können. Nehmen Sie die Bilder in sich auf, meine Damen und Herren. Es sind die schönsten, die Sie mit Ihren eigenen Augen während der Fahrt wahrnehmen werden. Vielen Dank!«
Ich schaute mich um, während der Schlag meines Herzens sich allmählich wieder normalisierte, ebenso wie der Schreck, als ich feststellen musste, dass ich wieder am Anfang war. Ich sah den Tisch vor mir, sah die alte Dame, die gegenüber döste und würde wohl demnächst meinen Tee bekommen.
Natürlich könnte ich noch einmal erzählen, was anschließend geschah. Doch es würde sich nichts ändern, oder? Ich habe die gesamte Geschichte mittlerweile unendliche Male durchlebt und bin es leid. Ich weiß nicht, weshalb ich all das jetzt aufschreibe. Vielleicht ist es, weil Papier geduldig ist. Geduldiger als ich, nehme ich an. Dies soll meine letzte Fahrt sein. Und dies meine letzten Worte. Auch ich werde dieses Mal den Zwischenhalt nutzen. Wie heißt es in einem Lied, das ich gern mag? »Ich bin die Hoffnung, und du stirbst mit mir.« Wenn dies die einzige Möglichkeit ist, die mir verbleibt, dann sei es so. Wer auch immer das hier lesen mag, dem kann ich nur ans Herz legen, sich nicht an die Hoffnung zu klammern. Ganz egal, ob sie als Zug daher kommt oder im Gewand eines freundlichen Gedankens. Sehen Sie sich die Realität nicht durch ein Fenster an, sondern durchwandern Sie sie selbst. Bitte!
gez.: Nemo