Beschreibung
Solche Bücher braucht die Welt
Der Riesenroman: Harold Brodkey und „Die flüchtige Seele“
Mögen Sie auch Riesenromane, so lang wie die Bibel, an denen man wochen- und monatelang lesen kann? Kommt auf den Inhalt an, werden Sie sagen – und auf die Form. Solche Riesenepen erreichen uns heutzutage vor allem aus den USA. Zwei sehr lohnende Beispiele aus meinem Bücherschrank: Saul Bellows „Die Abenteuer des Augie March“ (862 Seiten als Taschenbuch) und William Gaddis’ „Die Fälschung der Welt“ (1241 Seiten). Als ich vor einiger Zeit bei Zweitausendeins auf Brodkeys Roman „Die flüchtige Seele“ stieß (1343 Seiten als Taschenbuch) und im Inhaltsverzeichnis blätterte, schien er mir in der Nachfolge solcher Werke zu stehen. Wir wollen sehen …
Harold Brodkey (1930 – 1996) erregte in den fünfziger und sechziger Jahren Aufsehen mit einer Reihe exzellenter Kurzgeschichten. Dann ging jahrzehntelang das Gerücht um, er arbeite an einem wirklich großen Roman. Endlich erschien 1991 „Die flüchtige Seele“ und bewirkte sofort Aufsehen, Kontroversen, Lob und Enttäuschung. Die deutsche Übersetzung von Angela Praesent erschien 1995 bei Rowohlt, 1997 auch als Taschenbuch, das schon wenige Jahre später verramscht wurde.
Zum Inhalt nur so viel: Er ist stark autobiographisch und offenkundig in der Nachfolge Prousts geschrieben. Der Roman kann hier aufgrund von Länge und komplizierter Struktur nicht ausreichend analysiert werden. Dafür präsentiere ich Ihnen einige charakteristische Stellen, wie man sie leicht zu Hunderten finden kann. Machen Sie sich selbst ein Bild von Sprache und Zugriff dieses Berserkers. Fangen wir an! Der Erzähler genießt die Gastfreundschaft von Verwandten und notiert dazu (S. 852):
„Wir alle sind Schlachten führende Generäle im Laufe der oft höflich uneingestandenen Irreversibilität der Momente auf dem Terrain der eigenen Gefühle und derjenigen anderer – ein perverses Fieber des Tatendursts, der Sprache und des Willens – die rauschhafte Erfahrung, nicht heimgeschickt zu werden: dies findet in einer wogenden, nicht nährenden, vielleicht ‚verfremdeten’ Landschaft statt, voll herrlich eisiger, weißflockiger Illusionen, die mehr oder minder zivilisiert in Erscheinung treten, als Semi-Illusionen, als Übersehen von Dingen, als Semi-Kämpfe, Semi-Nachsicht, Nervosität und Neuheit.“
Stellen wie diese sind es wohl, die die „Frankfurter Rundschau“ im Blick hat, wenn sie urteilt: „Große Romankunst des 20. Jahrhunderts“. Da erstirbt einem doch jede Kritik … Zweites Beispiel: Der Erzähler hat Sex mit seiner Freundin Ora. Ich wähle eine der harmlosesten Stellen aus (S. 291):
„Mit postkoitaler Gewissheit spürte ich, dass Wahnsinn ihrer Schönheit zugrunde lag und sie schuf … Ein vor ihren Augen flirrender Fächer. Sie besaß diese andere Würde – bei ihr eine Form von Bescheidenheit, ein Prahlen mit Identität. Um dem Entsetzen zu entgehen – und sie zeigte ihre Gefühle dem Entsetzlichen gegenüber nicht offen, nahm jedoch entsetzliche soziale Situationen hin -, befürwortete sie die Liebesschnulze-mit-Sex als allerneueste Selbstverständlichkeit.“
Sagen Sie nichts dagegen, sonst komme ich Ihnen mit Salman Rushdie. Der versteht schließlich davon mehr als Sie und ich. Und er befindet: „’Die flüchtige Seele’ präsentiert mit waghalsiger Offenheit Dinge, die gewöhnlich in intimer Verborgenheit ruhen.“ Na und, sagen Sie und sind immer noch nicht überzeugt? Dann versuchen wir es mal mit dem Thema Krieg (S. 581):
„Oder man war letztlich doch, bei aller ehern verderbten Zielstrebigkeit, von einer gewissen Unschuld – überwiegend, oder hin und wieder, zwischen Phasen des persönlichen Zusammenbruchs, als ein Teil des kurios erweiterten und beileibe nicht kollektiv einmütigen Bewusstseins davon, dass die kollektiv patriotischen Ziele himmelschreiend kriminellen Charakters, jedoch edel formuliert – in einer Hinsicht – und dem Tod und der Verstümmelung geltend, kaum je mit realistische Präzision angestrebt wurden …“
Sie sehen, Brodkey macht es sich und uns nicht leicht. Und wird dafür wieder gebührend von Salman Rushdie gelobt, der dem Ruhm des Romans wesentlich mit auf die Beine geholfen hat: „Dieses Buch ist hundert kleinere, weniger riskante Bücher wert.“ Und ich bekam es für wenige Euro! Als letztes Zitat noch einmal etwas über Sex mit Ora. Die Beschreibung solcher Vorgänge ist nämlich des Autors eigentliche Passion. Da gibt es Stellen, hm, leider muss ich sie mir hier versagen: Nur als kleine Kostprobe (S. 507):
„Das Arbeiten mit Pinsel, Messer, Nadel, Axt, das Kapitän-und-Mannschaft-sein, das Hacken und Ausstoßen, Hüsteln und Stocken – ich räuspere mich sehr oft: es kommt nicht darauf an, dass ich mich so danach sehne, stillzustehen und den Löwen Gottes im Raum zu spüren und mysteriöserweise Gottes Atem in mir – das Beben und die schüchterne Verwegenheit des Chorals dessen, was (so gesehen) mehr als die Summe von Molekülen ist – ich habe vor allem den menschlichen Weg gewählt: ich möchte, dass Ora überlebt.“
So sieht also ein großer amerikanischer Roman aus, für dessen Übersetzungsrechte ein deutscher Verlag gewöhnlich tief in die Tasche greifen muss. Ein Buch, das so dick und so tiefsinnig ist, kann nicht schlecht sein. Ich habe einige Zeit suchen müssen, bis ich eine distanzierte Kritik gefunden habe. Bei Wikipedia gibt es am Schluss des Artikels über Brodkey einen Link, und zwar zur Besprechung des Buches im Deutschlandradio von Jochen Schimmang. Wer mehr wissen will – dort sind Schwächen und Stärken erschöpfend behandelt. Und lesen kann man den Roman natürlich auch. Er ist sogar ein hervorragender Lesegenuss – für Masochisten.