Sonstiges
Du

Die Termine fliegen mir um die Ohren. Sitzungen über Sitzungen, Strukturwandel ist angesagt, Reorganisation, Neuausrichtung. Und all das neben dem üblichen Tagesgeschäft, welches mich doch schon voll auslastet. Ich bin unausgeglichen, nervös, unruhig, fühle mich ausgepowert, schlapp und müde. Das Wasser steht mir bis zum Hals. Kein Licht am Horizont ist zu erkennen.

Plötzlich stehst du in meinem Büro, lächelst mich an, trittst auf mich zu und nimmst mich wortlos bei der Hand. Über deine rechte Schulter hängend, trägst du eine große Tasche. Schweigend gehe ich neben dir her. Du führst mich hinaus auf eine karge Wiese, mehr Unkraut und Gestrüpp als Gras, keine Bäume weit und breit. Der Boden ist ausgetrocknet. Der Himmel ist wolkenverhangen. Grau, als ob es bald regnen würde. Mit einer Geste bittest du mich, Platz zu nehmen. Doch es gibt keinen Stuhl, keine Bank, nicht einmal einen Stein, auf den ich mich setzen könnte. Zwischen Disteln lasse ich mich direkt auf den Boden nieder und warte ab, was geschieht…

Du öffnest deine Tasche, ziehst eine hölzerne Feldstaffelei heraus und platzierst sie etwas seitlich vor mir. Ich beobachte dich, wie du einen Keilrahmen ca. 20cm x 20cm darauf platzierst. Für eine kurze Zeit schließe ich meine Augen…
Als ich wieder aufschaue stehst du da, hältst in der linken Hand ein Malerpalette, auf der Ölfarben aufgetragen sind. Deine rechte taucht einen feinen Pinsel in ein dunkles Blau und führt ihn elegant zum Rahmen hin. Trotzdem, dass keine Leinwand aufgezogen ist, kann ich die waagrechte Linienführung am unteren Ende des Bildes  erkennen. Gleichzeitig mit dem ersten Pinselstich öffnen sich die Wolken und lassen einen Sonnenstrahl passieren. Wie auf einem Fleckenteppich erhellt er eine kreisrunde Stelle der Wiese. Von dort leuchtet mir ein saftiges Grün entgegen. Erstaunt schaue ich zurück auf das Bild. Der Rahmen dehnt sich mit jedem Pinselstrich aus, bis er gänzlich entschwindet. Gekonnt lässt deine zarte Hand einen bunten Farbenstrauß entstehen. Er fließt geheimnisvoll in die zuvor so kümmerliche Landschaft über. Immer mehr Licht dringt von oben durch und haucht den Farben Leben ein. Sie bewegen sich, scheinen zur zauberhaften Musik, die mich urplötzlich umgibt, zu tanzen, zu schweben. Ich kann dich nicht mehr erkennen. Die Staffelei ist verschwunden. Alles wurde in völlige Harmonie verwandelt, die mich umgibt. Ruhe kehrt in mir ein. Mein Atem wird gleichmäßig und langsam… ein, aus, ein, aus… Mein Geist genießt Freiheit. Mein Körper wird federleicht. Ich spüre, wie ich mich mit den Farben vermische, ein Teil des Bildes werde, in dem du lebst, und unsere Seelen zum Ganzen verschmelzen…