Die zweite Sintflut
Gott:
Hallo, Noah!
Noah:
Du hast mich gerufen, mein Gott? Ja, hier bin ich.
Gott:
Ich muss mit dir reden, Noah. Du bist ein Nachkomme meines treuen und gehorsamen Dieners Noah, der die Arche damals gebaut hat, als ich die Sintflut bewirkte. Ich brauche dich.
Noah:
O Herr, wozu willst Du mich brauchen, wenn ich fragen darf?
Gott:
Du siehst mit Deinen eigenen Augen, Noah, dass die Menschheit sich wieder in einem ganz ähnlichen Zustand befindet wie vor der Sintflut.
Darum will ich mit einer zweiten Sintflut alles Böse auf Erden verderben. Für dich und die wenigen guten Menschen baue nun du eine Arche, denn ihr sollt gerettet werden.
Noah:
Sage mir bitte, warum Du ausgerechnet mich für den Bau der Arche verantwortlich machen willst?
Gott:
Nun, du bist ein frommer Jude, kennst meine Gebote und handelst danach. Weil aber in Israel der Bau einer Arche auf gewaltige Schwierigkeiten stoßen würde – denke nur an die Gegensätze zwischen den verschiedenen religiösen Gruppen dort, zwischen den Juden und Arabern, zwischen den Parteien usw., darum schicke ich dich in ein Land, welches bekannt ist für seine genaue Ordnung und seinen Reichtum an stets neu überarbeiteten Gesetzbüchern für wirklich sämtliche Lebensbereiche, das ist Deutschland.
Noah:
Und wann soll die Sintflut beginnen?
Gott:
Keine Angst, guter Noah, nicht heute, nicht morgen - aber in genau einem halben Jahr.
Noah:
Also, mein G’tt, o.k. Mir graut zwar vor dem Spott Deiner lieben Mitmenschen, und wieder soll ich 150 Tage in dem Kasten sitzen, Internet und Telefon gibt es dann auch nicht mehr.... Aber weil Du Gehorsam von mir erwartest und sowieso kein Mensch von Dir fortlaufen kann, darum will ich Deinen Willen tun.
Sechs Monate später klopft es an Noahs Türe in Deutschland:
Gott:
Hallo, Noah!
Noah:
Shalom! Du bist aber sehr pünktlich, mein Gott.
Gott:
Das gehört zu meiner Ordnung, Noah. Komm, lass uns in deinen Garten gehen, ich will die Arche besichtigen. Dann will ich euch einziehen lassen und das Tor selbst zuschließen, genau wie damals.
Noah:
Also- na ja - es ist nun mal so - ach, wie soll ich es Dir sagen? -
wirst Du mich verstehen? - freilich, irgendwie und überhaupt kam alles ein bisschen anders – also, kurz und gut, wir brauchen nicht in den Garten zu gehen.
Gott:
Aber Noah, warum denn nicht?
Noah:
Da ist nichts zu sehen in meinem Garten. Es gibt da keine Arche, Ich konnte sie nicht bauen, nicht einmal anfangen konnte ich. Oh bitte, lass es Dir erklären:
Zuerst stellte ich von dem Geld, das Du mir jeweils zur Verfügung gestellt hast, Zimmerleute und Segeltuchmacher ein, Köche, Bäcker und Stallmeister, alles Leute, die man so braucht für Dein schönes Unternehmen. Schon wegen der Arbeitslosigkeit kamen jede Menge Leute. Nur die mit den guten Zeugnisse stellte ich ein, Aber stellt Dir vor, was haben die am Tag des Arbeitsbeginns gemacht, statt zu arbeiten? Sie beriefen sich auf irgend so ein Gesetz, gründeten eine neue Gewerkschaft, erhoben wahnsinnige Forderungen als Voraussetzung für ihren Dienst, so dass ich ihnen gleich kündigen musste – das Arbeitsgericht mit Vergleichsvorschlägen und zu zahlenden horrenden Abfindungssummen fraß dann nicht nur fast Dein ganzes Geld, sondern auch fast alle meine Zeit. So fing es an.
Ich begann neue Leute zu suchen, stellte deshalb eine Tafel über Dein Bauvorhaben in den Garten. Kam da ein Polizist und fragte mich nach der amtlichen Baugenehmigung. Ich musste die Tafel im Garten entfernen, der Polizist drohte bei Nichterfüllung seines Befehls mit Verwarnungs- und Bußgeldern, ja sogar mit Inhaftierung. Die Höhe der Strafgelder richte sich nach dem Bauvorhaben, das immerhin für einige tausend lebendige Geschöpfe insgesamt geplant war. Für einen Karnickel-Stall könne man unter bestimmten Umständen sogar eine Ermäßigung wegen der Geringfügigkeit des Bauvorhabens beantragen, aber für eine Elefantenbehausung keinesfalls! Von jeder Tierart zwei, von manchen sogar sieben Exemplare – das ergebe, anhand der Tabellen der Justizverordnung jederzeit auszurechnen, eine vielfache Millionensumme. Ich solle die Baugenehmigung unverzüglich beantragen.
Im Bauamt ging’s weiter mit den Problemen. Mitten im Wohngebiet meiner Stadt könne ich unmöglich eine Arche bauen, nein, auch in meinem eigenen Garten nicht. Solch eine Großbaustelle dürfe nur in einem eigens dafür ausgewiesenen Gewerbegelände errichtet werden. Hierbei sei jedoch durch Anträge an das Gewerbeaufsichtsamt zuerst zu prüfen, welcher Art von Gewerbe der Bau einer Arche überhaupt entspreche. Und alle Pläne müssten von einem zugelassenen Architekten und Statiker eingereicht werden.-- Als ich dem Beamten sagte, dass ja Gott selbst die Pläne gemacht hat – da stand er wortlos auf, suchte mehrere Listen und legte sie endlich vor sich auf den Schreibtisch. Dann hat er lange darin hin und her geblättert, und zuletzt zu mir gesagt: Herr Noah, den Mann kennen wir nicht, sein Name steht in keiner der amtlichen Listen. Reichen Sie bitte, natürlich nur auf dem Dienstweg, die beglaubigten Kopien seiner Zulassungsurkunden bei uns ein.
Ja, dann ging ich an die Materialbestellung. Ob ich die Im- und Exportbestimmungen genau genug studiert hätte, so fragte man mich. Holz aus dem Libanon, für ein Schiff von 300 Ellen Länge und 50 Ellen Breite und 30 Ellen Höhe, und welches Maß überhaupt Ellen seien, und der Libanon sei überdies zur Zeit für Im- und Export von Holz aus den Listen gestrichen, der Waffenhandel habe selbstverständlich Vorrang.
Ich wurde erneut zur Baubehörde bestellt. Hier teilte man mir sehr freundlich mit, es gebe zur Zeit von der Europäischen Gemeinschaft Zuschüsse für die Errichtung einer neuen Werft. Es wurde mir ein 190 Seiten starker Antrag in drei Sprachen in die Hand gedrückt, den solle ich sorgfältig und gewissenhaft ausfüllen, alles amtlich beglaubigen lassen und in Brüssel einreichen, vielleicht sei da noch zufällig etwas im Topf....
Aber nebenan, bei der Abteilung Feuerschutz im Bauamt, solle ich gleich auch noch vorsprechen. Dringend! Ging ich hin, aber der Laden war wegen Betriebsausflugs geschlossen. Am nächsten Tag hieß es, der Beamte sei im Urlaub, über seinen Vertreter bestehe leider noch Unklarheit, ich solle morgen wieder kommen. Das tat ich. Der Beamte wies mich darauf hin, dass jenes von mir geplante Bauwerk unter allen Umständen auch Feuerlösch-Vorrichtungen benötige, zumal Holz der Hauptbestandteil der Baustoffe sein, und in jedem Raum müsse eine Löschwasser-Sprenkler-Anlage an der Decke eingebaut werden sowie Rauchmelder, dazu genügend Feuerlöscher in allen Gängen. Vergeblich wies ich den Beamten darauf hin, dass im zu erwartenden Gebrauchsfall der Arche jede Menge Wasser ringsum zur Verfügung stehe, mehr als je nötig, um jeden Brand auf der Arche zu löschen.
Einige Tage später klingelte es an meiner Tür. Zwei Herren in weißer Kleidung schoben mich unsanft in mein Arbeitszimmer, drückten mich in den Sessel, sagten, es sei alles nur eine notwendige Formsache, und wenn ich mich freiwillig fügen würde, könnte alles rasch erledigt sein.. Sie zeigten mir ihre Ausweise von der Psychiatrie, und sie hätten den Auftrag, mich auf meinen Geisteszustand zu untersuchen, da ich vermutlich von Wahnideen einer Sintflut geplagt sei und wahnwitzige Bauvorhaben bei den Behörden angemeldet hätte. Ich musste insgesamt noch vier Mal zu diesen Psychiatern marschieren und mich ausgiebig testen lassen, bis sie „erst einmal vorläufig“ meine Akte zur Seite legten.
Aber ich will meinen Bericht abkürzen machen: Die Verwaltung hat mich verpflichtet, mich gründlich mit allen Vorschriften, Verordnungen, Erlassen und Gesetzen zu befassen. In meinem Arbeitszimmer hier und nebenan im Wohn- und Schlafraum, ferner im Keller und Speicher sowie in den Fluren, Vorraum und sogar in der Toilette sind die Regale gefüllt von diesen sogenannten einschlägigen Büchern. Um nur die scheinbar wichtigsten davon zu nennen: Europäisches Artenschutzabkommen, Tierschutzgesetze, Verordnungen über den Transport von Tieren, Gesetz über die Entsorgung von Fäkalien bei Tierhaltung,
ferner die inzwischen weltweit gültige Interkontinentale Futter- und Lebensmittelerzeugungs-Verordnung – letztere Gesetzessammlung übrigens ein freundliches Geschenk einer Firma Monsanto. Deren Name sagt ja schon, wie heil und heilig diese Leute sind, nichtwahr? Weiter hat mir die Verwaltung als unerlässlich empfohlen....
Gott:
Halt, lieber Noah, es genügt, es genügt vollkommen. Lassen wir also das Ganze!
Noah:
Aber, mein Gott, wie meinst Du das? Keine Arche, keine Sintflut, kein Ende der böse gewordenen Menschheit?
Gott:
Richtig, Noah, packe Deine Koffer und fahre heim. Ich schicke keine Sintflut zur Vernichtung. Mich braucht man nicht dazu, die Verwaltung schafft das auch ganz allein ohne mich...
27.8.2009 (M.Olsz).