Mein Papa
Diesen Tag, diese Stunden, die Minuten und Sekunden, diesen Augenblick den Vergesse ich mein Lebtag nicht.
Alles fing so harmlos an. Ein gewöhnlicher Morgen. Mein Vater hat gesungen. Sehr oft hat er gesungen. Oder er pfiff fröhlich vor sich hin. Manchmal packte es ihn und inbrünstig zitierte er Schillers Räuber oder gar die Glocke. Ja, mit Schiller hatte er es. Ich glaube nicht, weil er ihm so lag. Eher weil er oft, sehr oft, in der Schule die Glocke abschreiben musste. So was bleibt hängen.
"Hallt ein Schrei", ertönte es mit einem Mal hinter mir. Ach Papa, muss das immer sein? , fragte ich ihn mit einem Lächeln auf den Lippen. Eine Antwort kam nicht. Dafür trällerte er los: „ Und schlägt der Arsch auch Falten, wir bleiben doch die Alten!“
An jenem Morgen war mein Vater nicht ganz so fröhlich aufgelegt. Seine Pfiffe waren leiser. Die Stimmung nicht gar so ausgelassen.
Ich. Ich dachte mir nichts dabei. „Tschüß Papa ich geh`!“, rief ich ihm zu, kurz bevor ich zu meinem Freund verschwinden wollte. Mein Vater hielt mich auf. Nahm mich in den Arm. Ganz zärtlich drückte er mich an sich und flüsterte in mein Ohr: „ Du bist doch meine Prinzessin!“ Dann gab er mir einen Kuss. Ewig hätte ich so verweilen können, doch in mir war der Drang zu stark. Ich wollte zu meinem Freund.
Dort angekommen hatte ich an diesem Tag keine Ruhe. Von still sitzen war keine Rede. Konzentrieren auf ein Gespräch war nicht möglich. Irgendwas trieb mich an nach Hause zu gehen. Es war noch längst nicht sehr spät. Noch lange nicht so spät wie sonst, wenn ich nach Hause kam.
Unterwegs hielt mich ein Bekannter an und wollte mir ein Gespräch aufdrängen. Ich sagte ihm ich habe keine Zeit. Ich muss nach Hause, ganz dringend.
Ich war so erleichtert, als ich Zuhause war. Alles war in bester Ordnung. Keine Ahnung was mich getrieben hat. Doch das machte nichts, denn es war schön in der vertrauten Umgebung. Ich mochte es sehr in der heimeligen Stube bei meinen Eltern zu sein. Es umgab mich stets eine Wärme, ein geborgenes Gefühl. Doch es wurde kein Abend wie ich ihn mir vorgestellt hatte. Es gab nicht mal ein kurzes Gespräch, mit meinen Eltern, über den vergangenen Tag. Meinem Vater war nicht gut und so verabschiedete er sich, um sich hinzulegen. Ein Blick, ein gute Nacht, das war es.
Bald darauf hörte ich wie er meine Mutter rief.
Da war mein komisches Gefühl wieder. Ohne eine Aufforderung rief ich den Krankenwagen. Es dauerte. Minuten, Stunden. Es dauerte und dauerte. Ich weiß nicht genau wie lange. Doch es kam mir vor wie eine Ewigkeit.
Ich rannte immer wieder zur Tür, damit ich dem Arzt schnell den Weg zu weisen konnte, sobald er eintraf. Da, es geht mir heute noch durch Mark und Bein, das Martinshorn.
„Schnell hierher, schnell mein Vater. Dort oben liegt er.“
Ich wies ihm den Weg, doch es war schon zu spät!
Die Nacht, die Tage, die Wochen, die Jahre, die dann folgten, waren viel länger, als die Zeit die ich mit ihm verbringen durfte.
Oh, was gäbe ich heute für eins seiner Zitate, ein leiser Pfiff, ein Liedchen. Was gäbe ich heute für eine seiner Umarmungen? Alles!