Beschreibung
Eine weitere, kleine Fortsetzungsgeschichte, die in den kommenden Tagen zunehmend Gestalt annehmen wird. Dies ist dann also Teil 7.
We got fun and games.
Thomas Schubert steuerte den Escort unauffällig aus der Stadt. Wie ein umherziehender Jahrmarkt bei der Abreise versuchten Patricia und er, sich ohne großes Aufsehen davonzuschleichen. In Stuttgart hatte es schließlich genug Aufregung gegeben. Mittlerweile wimmelte die Innenstadt vor wachsamen Polizeipatrouillen in Alarmbereitschaft. Vermutlich hatten sie sogar die ein oder andere Straßensperre eingerichtet. Daher versuchte Schubert gar nicht erst, über die Autobahn zu fahren. Eine schnelle Abreise würde sehr wahrscheinlich ein ebenso schnelles Ende bedeuten. Patricia hatte vorgeschlagen, nach Köln zurückzukehren. Sollte ihnen dort ebenso der Boden unter den Füßen zu heiß werden, würden sie nach Hamburg weiterziehen. Oder Berlin. Oder nach Scheißegal-Stadt, denn schließlich standen alle Tore dieser Welt sperrangelweit für sie offen, solange sie auf ihren Allerwertesten aufpassten und schnell genug die Kurve kratzten, wenn es brenzlig wurde.
Schubert warf einen Blick auf den Beifahrersitz, während er, die zulässige Höchstgeschwindigkeit beachtend, über die Landstraßen Baden-Württembergs fuhr. Bei Patricia konnte er sich eben nie so ganz sicher sein, was sie im nächsten Moment anstellen würde. Sie war wie unberechenbares Wetter. Mal ließ sie die schönste und hellste Sonne erstrahlen, und nur wenig später verwandelte sie sich in einen wahnwitzigen Sturm. Ein fraugewordene Tageszeitenklima. Doch liebte er sie nicht gerade deswegen so sehr? Oh ja, das tat er.
Patricia hatte sich scheinbar dazu entschlossen, den Nachmittag mit ihrem mild gestimmten Gemüt zu beglücken. Sie durchwühlte das Handschuhfach, zog einige Zettel heraus und ließ sie fallen, suchte weiter und fand schließlich eine kleine Stofftasche, die offenbar mit CDs gefüllt war. Als sie die Sammlung der von Hand beschrifteten CDs durchging, legte sich ein kindliches Lächeln auf ihr Gesicht.
»Der Typ, dem wir die Rostlaube hier abgenommen haben, mag sich vor Angst fast in die Hosen geschissen haben, aber eines muss man ihm lassen. Er hat einen ziemlich geilen Musikgeschmack«, sagte sie und strahlte ihre Sonnenstimmung aus.
»So? Was haben wir denn im Angebot?«, fragte Schubert, der den Blick wieder auf die Straße gerichtet hatte.
»Eine Menge rockiges Zeug. Lass dich überraschen, Schatzi«, antwortete Patricia und zog eine CD aus einem der Fächer. Sie schob sie in den CD-Player des Autoradios und stupste die Play-Taste an. Nach einigem Vorgeplänkel riss Axl Rose seine Fingernägel-auf-Tafel-Stimme in die Höhe und kreischte ein herzliches ›Welcome to the jungle‹ durch die Lautsprecher. Schubert grinste.
»Oha. ›Appetite for Destruction‹, stimmt‘s? Ja, das passt. Das kannst du gleich auf Repeat stellen, Süße«, sagte er und gab Patricia einen leichten Klaps auf den Oberschenkel. ›We got fun and games.‹ Spaß hatten sie, oh ja.
Axl Rose plus Band hatten etwa anderthalb Runden im CD-Player gedreht, als Schubert den Escort an einem größeren Parkplatz vorbeifuhr.
»Fahr da mal rauf«, sagte Patricia und zeigte zu den stehenden Autos hinüber.
»Warum willst du halten? Sag nicht, du willst schon wieder ein Auto klauen. Oder brauchst du eine Pinkelpause? Hm, oder hast du‘s so nötig, dass ich‘s dir gleich hier besorgen muss«, fragte Schubert und grinste.
Patricia warf ihm einen gespielt entnervten Blick zu. Dann lachte auch sie. »Nein, Jungchen. So gut bist du auch wieder nicht. Ich dachte einfach nur, wir holen uns ein paar neue Nummernschilder. Wir haben echt Glück, dass die Bullen uns noch nicht gefunden haben.«
Schubert spürte, wie ihn ein plötzlicher Schauer durchfuhr. Er riss die Augen auf und holte hörbar Luft. »Puh«, sagte er. »Meine Fresse, bin ich blöd!« Wütend schlug er mit der Hand aufs Lenkrad. »Da hätte ich doch, verdammt noch mal, selbst drauf kommen müssen.«
»Ach, dafür hast du doch mich«, hauchte Patricia ihm ins Ohr und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Augenblicklich löste sich Schuberts Spannung, und er sank in seinen Sitz zurück.
»Okay, dann lass uns das tun«, sagte er und fuhr auf den Parkplatz. ›Take me down to the paradise city where the grass is green and the girls are pretty‹ röhrten die Roses aus den Lautsprechern.
»Weshalb muss ich eigentlich immer die ganze Drecksarbeit erledigen?«, fragte Schubert, während er die Kennzeichen eines baugleichen Ford Escorts aus Heidelberg abschraubte, den Patricia beim Rangieren auf dem Parkplatz entdeckt hatte.
Patricia, die mit überkreuzten Beinen an das Auto gelehnt stand, das Schubert gerade bearbeitete, und ihm dabei zusah, stieß ein lautes Lachen hervor. »Weil ich das schon oft genug getan habe. Du musst doch auch was lernen, wenn du bei mir bleiben willst«, sagte sie.
»Warum redest du eigentlich nie darüber? Ich meine, über das, was vorher war?«
»Vielleicht tue ich das ja eines Tages. Vielleicht tue ich‘s auch nicht. Vielleicht habe ich ja weniger erlebt, als du denkst. Wir sollten uns nicht alles übereinander erzählen«, sagte sie und warf richtete einen verträumt wirkenden Blick in den Himmel, an dem weiße Cumuluswolken wie friedlich schlafende Schafe hingen.
»Falls du Angst hast, ich könnte den Bullen zu viel über dich er-«
Patricia unterbrach ihn, indem sie laut prustete. »Nein, Schätzchen«, sagte sie und grinse ihn an. »Das würdest du nicht tun, das weiß ich.«
»Weshalb dann? Weshalb bist du so verschlossen? Manchmal habe ich das Gefühl, ich meißle bei dir an einem gigantischen Granitblock herum.«
»Vielleicht solltest du dieses Gefühl auch behalten. Was machst du denn, wenn ich zulasse, dass du so viel von meiner Schale abträgst, dass du in den Kern blickst, nur um festzustellen, dass ich ein Granitblock bin, der mit nichts weiter als Granit gefüllt ist?«
»Besteht denn diese Gefahr?«, fragte Schubert und blickte Patricia fest in die Augen. Er spürte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte. Den Schraubendreher ließ er unbeachtet sinken.
»Glaube ich nicht. Aber vielleicht entdeckst du einige andere Dinge, die du gar nicht entdecken willst. Weißt du, wenn man zu viel über den anderen weiß, dann zerstört das die Liebe«, sagte Patricia und lächelte Schubert zärtlich zu.
»Ist das so?«, fragte er. »Meine Erfahrungen bezüglich Frauen halten sich in Grenzen, wie du weißt. Sonst würde ich nicht so blöd fragen.«
»Ja, das ist so. Wenn du jahrelang verheiratet bist und dein Gegenüber wie deine Westentasche kennst, dann erstickt das jedes Feuer, jede Leidenschaft. Keine Überraschungen bedeuten, dass keine Spannung mehr existiert. Und keine Spannung bedeutet schließlich, dass das große Feuer ausgeht. So ist das nachgewiesenermaßen. Und ganz ehrlich, Schätzchen, ich glaube, so ist das nicht nur mit der Liebe.«
»Womit denn noch?«
Patricia verschränkte die Arme und sah wieder nachdenklich zum Himmel hinauf. »Tja«, sagte sie und holte tief Luft. »Mit allem eben. Du hast es doch selbst durchgemacht. Dein altes Leben war nichts als ein großer Haufen trockenes Herbstlaub, das dabei war, langsam zu verrotten. Und weshalb? Weil du jeden Tag denselben Scheiß durchlebt hast. Hast du dein Leben geliebt? Nein. Aber weißt du, trockenes Laub kann man anzünden, und dann brennt es. Es verbrennt vielleicht schnell, aber ist das nicht allemal besser, als wenn es vergammeln würde? Ich hab das sofort erkannt, als ich dich gesehen habe, und deswegen habe ich ja auch dich ausgewählt. Und jetzt«, sie kicherte, » jetzt brennst du.«
Mit einem Lächeln auf den Lippen beugte sie sich zu Schubert hinunter. Sie fuhr ihm mit den Händen sanft über die unrasierten Wangen und küsste ihn tief und innig. Ein Kuss, der ihren Worten Nachdruck verlieh. Schubert brannte. Und wie!
»Du wirst schon noch genug über mich erfahren«, flüsterte sie ihm schließlich zu. In ihren Augen konnte Schubert ein Glänzen entdecken, das entweder Hoffnung oder Belustigung auszudrücken schien. Vielleicht auch ein wenig von beidem. »Und vielleicht verrate ich dir eines Tages sogar die ganz großen Geheimnisse über mich. Sei ein bisschen geduldiger und lass dich überraschen.« Dann tippte sie ihm mit dem Zeigefinger auf die Nase. »Und jetzt schraub die Dinger endlich ab, damit wir hier wegkommen.«
Schubert blickte auf seine Hand und stellte fest, dass er den Schraubendreher fallengelassen hatte. Er gab ein überraschtes »Oh« von sich, lachte über sich selbst und hob ihn wieder auf.
›Appetite for Destruction‹ hatte eine gute Hand voll Durchläufe hinter sich, als sie Köln tatsächlich erreicht hatten. Schubert wäre damit im Prinzip wieder zu Hause gewesen - in seinem alten Leben. Doch dies war nicht sein altes Leben. Nun war sein Zuhause überall und vor allem immer dort, wo diese Frau hinging.
»Langsam wird das Zeug langweilig. Soll ich eine andere CD einlegen?«, fragte Patricia.
»Hm, hast du die beiden ›Use Your Illusions‹ auch im Angebot?«
»Da kennt sich aber einer aus. Passt so gar nicht zu dir«, sagte sie kichernd. »Nummer eins oder zwei?«
»Dann bitte die Nummer eins. Und was heißt hier, die passen nicht zu mir? Das verbitte ich mir«, antwortete Schubert mit gespielter Empörung. »Das Zeug hab ich in meiner Jugend wie verrückt gehört. Da glaubt man eben noch, man könne die Welt erobern. Und was gäbe es da besseres als Guns N‘ Roses?«
»Hm, und nun eroberst du sie mit mir zusammen. Ist das nicht passend? Okay, dann also Nummer eins.« Patricia wechselte die CD und drückte die Play-Taste. Während wummernde Bässe durch das Auto fegten, lehnte sie sich entspannt zurück. Sie ließ ihren Blick langsam durchs Auto wandern, bis dieser auf dem Seitenspiegel verharrte. Direkt hinter ihnen fuhr ein silberner BMW.
»Der hinter uns kommt aber recht nah ran. Du solltest mal auf die Bremse treten, dann zerbeult er sich die Karre. Geschieht dem Recht.«
Schubert warf nun ebenfalls einen Blick in den Rückspiegel. »SCHEISSE«, brüllte er. »Der Typ hat ein Funkgerät. Das sind verdammte Drecksbullen.« Er schaltete einen Gang runter und trat das Gaspedal durch. Die Reifen quietschten, als der Escort aus dem Schneckentempo heraus beschleunigte.
»Jaaaa, zeig denen, was ‘ne Harke ist«, rief Patricia und lachte, während sie mit den Händen freudig erregt auf ihre Beine trommelte. Da war es wieder, das Tageszeitenklima. Gerade hatte sie ihren alles verwüstenden Wirbelsturm losgetreten, und so würde Schubert diesen Mistkerlen eben wirklich zeigen müssen, was eine Harke ist.
Als er wieder in den Rückspiel sah, konnte er erkennen, dass der Beifahrer im Auto hinter ihnen unentwegt ins Funkgerät sprach. Der Fahrer hatte ebenfalls beschleunigt. Dieses Pack abzuhängen, dachte Schubert, würde wohl kein Problem darstellen. Da hatten sie in den letzten Tagen schon ganz andere Kaliber erlebt. Mehr als Verstärkung rufen, konnten diese Feiglinge ohnehin nicht.
Jetzt ging alles ziemlich schnell. Später sollten die nun folgenden zwei Minuten tatsächlich fast vollständig aus Schuberts Gedächtnis getilgt sein. Er riss das Lenkrad an einer wenig befahrenen Kreuzung nach rechts, zog die Handbremse an und schaffte es so gerade noch, um die Kurve zu driften. Hätte er nur einen Wimpernschlag später reagiert, wäre die Fahrerseite des Escort in eine Ampel gekracht.
»Wo hast du denn das gelernt?«, feixte Patricia und klatschte wild in die Hände.
Schubert war derweil nicht nach Lachen zumute. »Ganz ehrlich?«, fragte er hastig. »Zu viele Computerspiele. Mehr nicht.«
Jetzt lachte Patricia noch lauter. »Na, also DAS passt dann aber doch sehr zu dir. Du Wohnzimmer-Cowboy!«
Schubert beschleunigte auf der Geraden, während er in den Rückspiegel sah. Die Polizisten erwiesen sich als ziemliche Kletten. Auch sie hatten es geschafft, die Kurve zu nehmen und hingen nun noch immer an ihnen. Schubert wagte einen Kontrollgriff an seinen Hosenbund. Er konnte den kalten Stahl der gesicherten Beretta fühlen. Sollte es brenzlig werden, nun, er würde vorbereitet sein.
»Zerschieß ihnen die Reifen!«, rief Patricia ihm zu, die seinen Griff zur Waffe bemerkt hatte.
»Nein, das ist Quatsch. Das klappt nie im Leben. Ich versuche was anderes. Halt dich fest, Baby!« Und mit diesen Worten riss Schubert das Lenkrad herum, dieses Mal nach links. Er brachte den Escort auf die Gegenfahrbahn. Ein Bus hielt auf sie zu, dessen Fahrer nun im Staccato auf die Hupe schlug. Doch Schubert wich nicht aus. Seine Hände hatten sich um das Lenkrad verkrampft. Er spürte den Schweiß zwischen seinen Fingern.
»Jaaaa, du bist der Größte«, rief Patricia ihm zu, die sich, so grotesk es eigentlich war, köstlich zu amüsieren schien.
»Jeeeetzt«, schrie Schubert sich selbst zu und riss das Lenkrad abermals nach links. Der Escort zog haarscharf links an dem schlingernden Bus vorbei, der sich nun mitten auf der Kreuzung befand und vom Fahrer scharf abgebremst wurde. Schubert lenkte noch einmal nach links und bog reifenquietschend in die Kurve ein, die nun von dem Bus blockiert war. Schubert konnte im Rückspiegel sehen, dass nun niemand mehr durchkommen würde. Wenn das die Bullen nicht abwimmeln würde, dann würden sie zumindest an Abstand verlieren, dachte Schubert bleckte höhnisch die Zähne, ohne es selbst zu merken. Patricia jubelte ihm vom Beifahrersitz zu, als wäre sie wahnsinnig geworden. Doch waren sie nicht beide längst wahnsinnig, fragte Schubert sich für einen kurzen Augenblick, bevor er seinen Blick vom Rückspiegel wieder zurück auf die Straße richtete und -
- die Blockade erblickte, die von der Polizei direkt vor ihnen errichtet worden war.
»Scheiße, die haben uns. Die haben uns verdammt noch mal in der Falle.« Der Escort hielt nun mit voller Geschwindigkeit auf die Polizeisperre zu, die aus mehreren Einsatzwagen und unzähligen Beamten bestand. Panisch kurbelte Schubert am Lenkrad, griff zur Handbremse und versuchte so, im letzten Augenblick zu wenden. Doch ausgerechnet jetzt hatte er um den Hauch eines Moments zu spät reagiert, und so krachte der Escort unkontrolliert gegen eine Straßenlaterne, die ihn augenblicklich ausbremste und Schubert sowie Patricia nach vorn schleuderte. Die Airbags öffneten sich und drückten sie wieder nach hinten. Schubert war für einen kurzen Augenblick desorientiert, doch die Unmengen an Adrenalin holten ihn sofort ins volle Bewusstsein zurück. Sofort richteten sich seine Gedanken auf Patricia. Ein Blick auf den Beifahrersitz verriet ihm, dass sie ganz offensichtlich unverletzt war. Viel mehr noch, sie lachte! Diese Frau lachte selbst jetzt noch. War das zu fassen?
»Mach, dass du auf den Rücksitz kommst!«, rief Schubert ihr zu. Sie löste ihren Gurt und krabbelte schließlich nach hinten. Noch immer kicherte sie wie ein kleines Mädchen. Schubert unterdessen war das Lachen gehörig im Hals stecken geblieben. Ein weiterer Kontrollgriff verriet ihm, dass die Beretta noch dort saß, wo sie sitzen sollte. Immerhin. Denn jetzt könnte es heiß hergehen.
›Right next door to hell hatte‹ hatte Axl gekreischt, bevor die Straßenlaterne dem Radio den Garaus gemacht hatte. Zu viel Wahrheit für einen Song. Aber wenn es so sein sollte, nun, dann musste ein Mann eben tun, was er tun musste. Schubert sah auf den Rücksitz. Patricia blickte ihn gespannt an. Sie fletschte die Zähne und sagte im schneidenden Ton: »Zeig‘s ihnen! Los!«
Jetzt ergoss sich auch über Schuberts Gesicht ein erwartungsfrohes und zugleich bitterböses Grinsen. Wenn diese Typen es auf ein Gefecht anlegten, dann sollten sie auch eines bekommen. Patricia wollte es so, und wollte er es nicht eigentlich auch? Er löste seinen Gurt und kurbelte das Fenster auf seiner Seite des Autos herunter. Dann zog er die Beretta, entsicherte sie und gab einen Schuss in Richtung der Polizeisperre ab. Dies war der Startschuss. Die Antwort kam sofort.
... Fortsetzung folgt ...