Beschreibung
Eine weitere, kleine Fortsetzungsgeschichte, die in den kommenden Tagen zunehmend Gestalt annehmen wird. Dies ist dann also Teil 6.
Drittes Intermezzo - Die Flamme erlischt
Walter Henning seufzte. Sein Gesicht machte auf Schubert einen nachdenklichen Eindruck. Doch hinter dem dicken Schnäuzer, verborgen hinter der vorgehaltenen Müdigkeit, konnte Schubert ziemlich deutlich dessen scharfe Aufmerksamkeit entdecken. Denn da war dieser Glanz in seinen Augen. Ein berechnender, ein wissender Glanz.
»Was denken Sie?«, fragte Schubert, der die Ellbogen auf den Tisch gestützt hatte.
»Hm?« Henning tat so, als würde er aus einer Träumerei erwachen. Weshalb spielte er dieses Spiel, fragte Schubert sich. Wie viele Sitzungen hatten sie in diesem Raum hier bereits hinter sich gebracht? In jedem Fall genug. Und wie oft hatte Schubert ihm schon deutlich gemacht, dass er hinter seine Fassade schauen konnte, wenn er es wollte? Eigentlich oft genug. Also warum das Theater?
»Nun, Herr Schubert, ich will ehrlich mit Ihnen sein. Ich habe ein Problem. Sie erzählen Ihre Geschichte hier annähernd so, als würden Sie von Ihrem schönsten Urlaub berichten. Von einer Städtereise. Ein bisschen Sightseeing im hübschen Deutschland. Und man könnte meinen, im nächsten Moment legen sie die tollsten Fotos auf den Tisch. Meine Güte, Sie haben in Stuttgart, wie viele Geschäfte überfallen? Fünf? Sechs?«
»Nun ja, ich glaube, insgesamt haben wir acht mal zugeschlagen. Ja.« Schubert schaute betreten nach unten. Doch das ließ Henning erst recht in Rage geraten. Er schlug mit der Faust auf den Tisch.
»In der Königsbaupassage haben Sie Angst und Schrecken verbreitet. Auf der Königstraße auch. Und am Bahnhof schließlich ebenso. Ganz abgesehen davon, dass Sie dort drei Polizeibeamte umgebracht haben. Man, kapieren Sie das nicht? Ich hab das Gefühl, Sie fallen in Ihren alten Trott zurück, so, als wären Sie eben von der Arbeit nach Hause gekommen. Als man Sie vor einem Monat zum ersten Mal in diesen Raum hier gesetzt hat, da hatte ich das Gefühl, Billy the Kid wäre soeben zum Leben erwacht. Und jetzt sitzen Sie hier wie ein schüchterner Schuljunge. Hallo? Sie haben Menschen getötet! Reden Sie DARÜBER mit mir. Ich möchte, dass Sie mir, verdammt noch mal, die Gründe-«
»Und ich will Patricia sehen«, unterbrach Schubert seinen Vortrag. Doch er wirkte nicht annähernd so aufgebracht wie Henning. Wie ein nasser Sack hockte er auf seinem Stuhl, und der Ton in seiner Stimme verriet eher Hoffnungslosigkeit als Leidenschaft. Dieser Mann entglitt Henning. Wenn diese Entwicklung weiter so voranschritt, würde Schubert sich bald nicht einmal mehr an die Geschehnisse erinnern. Er redete schließlich jetzt schon, als würde er die übrig gebliebenen Fetzen ergrauter Erinnerungen an eine Geschichte zitieren, die er ihm in seiner Jugend erzählt worden war. Und dieses Entgleiten, diese Machtlosigkeit, ließ Henning in Panik geraten. Eine Panik, die ihn so wütend machte.
»Schubert, Mann! Wie oft soll ich Ihnen noch sagen, dass das hier kein Erholungspark ist? Kein Wunschkonzert. Haben Sie irgendwo ein Schild gesehen, auf dem ›Willkommen auf dem Ponyhof‹ steht?« Henning sah, dass sich Tränen in Schuberts Augen sammelten. Jetzt musste er einen Gang zurückschalten. So würde er nicht vorankommen.
»Sie können hier keinen Besuch empfangen. Das wissen Sie doch«, sagte Henning und gab sich alle Mühe, das Temperament im Klang seiner Stimme zu drosseln.
»Ja, ich weiß«, antwortete Schubert. Seine Stimme hatte nun fast schon einen Flüsterton angenommen. »Fragen Sie einfach, was Sie wollen, ja? Ich möchte das hier hinter mich bringen und allein sein.«
Henning blätterte in seinen Notizen, tat so, als suchte er nach seinem Fragenkatalog. Wieder dieses Getue.
»Nun gut. Entschuldigen Sie bitte meinen Gemütsausbruch. Ich- ich habe schlecht geschlafen«, sagte Henning. Ohne auf eine Antwort zu warten, begann er mit seinen Fragen: »Sagen Sie, diese Serienüberfälle in der Innenstadt. Worum ging es Ihnen da? Geld wollten Sie nicht erbeuten?«
»Ach was. Geld hatten wir doch mehr als genug. Das sollten Sie wissen. Wir zogen durch billige Hotels, verbrachten in keinem mehr als eine Nacht. Und für diese Absteigen reichte das, was wir bei uns hatten, locker aus. Nein, es ging um den Spaß.«
»Um den Spaß dabei, Leuten Angst zu machen? Menschen zu töten?«
»Nein«, sagte Schubert mit wackeliger Stimme. Er schüttelte seinen Kopf, als wollte er alles leugnen. »Nein, nein. Ach, Sie verstehen es ja doch nicht. Es war Patricia. Sie- Sie musste mich nur ansehen, sie hatte dieses verschmitzte Lächeln, als wollte sie mir sagen, dass ich ihr unbedingt den großen Bären auf dem Rummel schießen sollte. Sie steckte mich einfach an. Wissen Sie, sie hat mir gezeigt, wie es ist, wenn man lebt. Aber wenn ich Ihnen das jetzt lang und breit erkläre, sagen Sie mir eh, dass ich Ihnen das schon erzählt habe, nicht wahr?«
Henning überging die Frage. »Wie man lebt. So. Haben, ähm, Sie diese Polizisten getötet, Herr Schubert? Oder war es diese Frau?« Wie wild notierte er sich alle möglichen Dinge in seinen unzähligen Bögen. Schubert schaute ihm ab und an auf die Finger, konnte die Schrift jedoch nicht entziffern.
»Hören Sie auf, sie so zu nennen. Bitte. Patricia ist kein Möbelstück. Und ja, ich war es. Ich hab geschossen. Patricia stürzte sich auf sie, lenkte sie ab und ich schoss, bevor sie sie erschießen konnten. Und, nun, ich war eben immer schneller.«
Henning blickte wieder auf, sah Schubert in die Augen. Mit der Zunge leckte er sich über die Oberlippe. Dann fragte er weiter: »Und das Schießen? Das haben Sie also von ihr gelernt, ja?«
Ein kurzes Lächeln huschte über Schuberts Gesicht, bevor es wieder den betreten frustrierten Ausdruck annahm, den Henning in den letzten Tagen fast nur noch zu sehen bekam.
»Sie sagte, ich wäre ein Naturtalent. Sie zeigte mir eigentlich nur, wie ich mit der Waffe umzugehen hatte. Sie sagte, ich müsste die Pistole nur so behandeln, wie ich sie berühren würde. Das tat ich. Und sie hatte Recht. Es ging wirklich leicht.«
Henning nickte verstehend. »Und auf Menschen zu schießen? Das machte Ihnen dann nichts mehr aus?«
Schubert schwieg. Er hob seinen Kopf und starrte in das grelle Licht der Neonröhren an der Decke. »Ich- ich weiß es wirklich nicht mehr.Vielleicht machte es mir anfangs etwas aus. Doch ich glaube, ich habe nicht mehr darüber nachgedacht. Wissen Sie, das- das Adrenalin. Das und die Angst, dass sie Patricia erschießen würden. Ich hab- nun, ich hab einfach abgedrückt. Aber das alles sehe ich wie hinter einem Schleier. Tut mir leid.«
»Bereuen Sie, was Sie getan haben, Herr Schubert?«, fragte Henning sichtlich interessiert.
Wieder benötigte Schubert einige Augenblicke für seine Antwort. Henning zeigte dies jedoch nur, dass er sehr wahrscheinlich ehrlich meinte, was er sagen würde.
»Ja, doch. Ich meine, ich bereue nicht, mich auf Patricia eingelassen zu haben. Denn was waren all die Jahre zuvor wert, all die grauen Jahre, im Gegensatz zu diesen aufregenden Tagen? Aber die toten Menschen. Doch, das-« Schubert holte tief Luft und stieß einen langen Seufzer aus. »Das tut mir wirklich aufrichtig leid. Das hätte nie passieren dürfen. Ich denke, ich war wie in- war in«
»In Trance?«, half Henning ihm auf die Sprünge.
»Ja, so könnte man es wohl sagen«, schloss Schubert an. »Und ich würde es ungeschehen machen, wenn ich könnte. Doch das kann ich nunmal nicht.«
»Sie würden es ungeschehen machen? Auch, wenn das bedeuten würde, dass sie an ihrem letzten Arbeitstag nie, also, niemals gegangen wären?«, fragte Henning. Er blickte in seine Kaffeetasse, die leer war. Zeit für eine kleine Pause, dachte er.
Wieder musste Schubert für einen kurzen Moment schmunzeln. Dann schaute er Henning in die Augen. »Nein, dann nicht.«
Henning nickte.
Walter Henning dehnte das Interview auf eine weitere halbe Stunde aus. Er stellte seine Fragen, wollte, dass das Gespräch seinen Verhörcharakter behielt. Ließ er Thomas Schubert allzu viel Freiraum, driftete er immer wieder in die gleichen Reden über seine Passion ab. Henning hatten diese Ausflüge seines Patienten anfangs ungemein fasziniert. Doch boten sie keine wirklich neuen Erkenntnisse mehr. Und so hielt er es für klüger, knappe, auf den Punkt gebrachte Antworten herauszukitzeln, die dem Puzzle um die Akte Schubert einige weitere, wenn auch kleine, Teile hinzufügten.
Henning sah auf seine Armbanduhr, so als hätte er tatsächlich die Zeit vergessen. »Herr Schubert, was halten Sie von einer Pause? Meine Kaffeetasse ist leer und ausgetrocknet. Und Sie möchten vielleicht ein wenig verschnaufen. Ich denke, anschließend können wir uns auch kurz fassen. In allerspätestens anderthalb bis zwei Stunden muss ich ohnehin zu einem Termin.
»Klingt gut«, sagte Schubert und bemühte sich um ein ehrliches Lächeln. Einmal mehr wurde Henning klar, dass hier der Bankangestellte Thomas Schubert vor ihm saß. Da brannte keine verheerende Flamme mehr in diesem Mann. Nur ab und an glimmte der ein oder andere Funke auf. Längst kein Buschfeuer, nicht das, was Henning sich gewünscht hätte, doch man musste eben mit dem arbeiten, was man zur Verfügung hatte.
»Wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte Schubert plötzlich, als Henning sich gerade erhoben hatte, »würde ich anschließend selbst noch einmal einige Fragen stellen.«
Henning wirkte etwas überrascht, obwohl er versuchte, eine natürliche Ruhe zu bewahren. »Nun ja, das kommt darauf an. Was liegt Ihnen denn auf dem Herzen?«
Schubert schwieg. Er rieb sich mit der Hand an seinem stoppeligen Kinn und dachte nach. Dann blickte er, so selbstsicher, wie es ihm nur möglich war, direkt in Walter Hennings Augen und sagte: »Machen Sie endlich reinen Tisch. Was soll das alles hier? Sie sagen, ich sei ein besonderer Fall. Warum? Weshalb diese Isolation? Und was soll diese Zelle? Meinen Sie, ich hätte nicht schon bemerkt, dass die Wände gepolstert sind? Und sagen Sie nicht, die normalen Zellen wären alle belegt.«
Henning hielt seinem Blick bewusst stand. In Anbetracht der Tatsache, so dachte er, dass er Schubert allmählich verlor und eher das Gefühl hatte, auf der Stelle zu treten, war es vielleicht wirklich an der Zeit, einen Schritt weiter zu gehen. Schubert würde anschließend genug Zeit bekommen, zu sich zu kommen. Er würde sich vielleicht sogar noch einmal aufbäumen, den Revolvermann aufleben lassen, der nun in den letzten Atemzügen lag. Anschließend könnte er sich beruhigen und wer weiß? Vielleicht würde der nächste Termin endlich neue Erkenntnisse und einige Einsichten von Wert bringen.
Und so nickte Henning. »Ist gut. Ich denke während der Pause darüber nach, doch ich denke, das sollte gehen.«
Augenblicklich entspannte Schubert sich und nickte zurück. Und während Henning auf dem Weg zum Kaffeeautomaten darüber nachdachte, wie Schuberts Bitte am geschicktesten nachkommen könnte, wurde sein Patient von den bewaffneten Wachmännern auf den Hof begleitet, wo er seine obligatorische Runde ging und nachdenklich schweigend zwei Zigaretten rauchte.
... Fortsetzung folgt ...