Der alte Herr wird geil
Der alte Herr hatte gut gefrühstückt. Er hatte die Zeitung gelesen und dabei Radio gehört. Anschließend war er einmal um den Block gegangen und hatte sich selbst Gassi geführt wie einen alten Hund. Zuhause machte er sich dann noch einen Kaffee (löslich) und sah aus dem Fenster. Für gewöhnlich war ihm das auch schon genug Aktivität für einen Tag. An einem normalen Tag hätte er weiter aus dem Fenster gesehen bis zum Nachmittag und dabei Musik gehört und Kaffee getrunken. Vielleicht wäre er gegen Abend auch noch kurz in den Supermarkt um die Ecke gegangen, um noch ein paar Sachen zu kaufen. Danach hätte er sich etwas zu Essen gemacht und fern gesehen, bis ihn die Müdigkeit überrollt hätte. Doch dies war kein gewöhnlicher Tag, auch wenn der alte Herr das noch nicht ahnte, als er so dastand und vom Fenster aus auf die Einkaufsstraße vor dem Haus blickte.
Ein seltsames Gefühl der Ruhelosigkeit machte sich im Kopf des alten Herren breit, zuerst wusste er nicht viel damit anzufangen. Er schob es auf sein Alter, auf die tausend kleinen Verschleißerscheinungen, die seinen körperlichen Verfall vorantrieben. Doch genau das Gegenteil war der Fall gewesen. Nicht das Alter ließ ihn plötzlich unruhig werden wie eine Katze, die aus der Ferne ihren Fressnapf rappeln hört, sondern der kümmerliche Rest seiner Jugend hatte sich einen Weg durch sein altes, faules Fleisch gebahnt. Der alte Herr war, ohne es zu ahnen, geil geworden.
Die Tage, in denen er der fleischlichen Lust gefrönt hatte, waren lange vorbei. Im Vergleich zur Dauer seines ganzen Lebens, waren sie nur der Flügelschlag eines Schmetterlings gewesen. Der alte Herr hatte, als er noch ein junger Herr gewesen war, nie sonderliches Glück bei den Damen gehabt. Was wohl größtenteils daran lag, dass er schon als junger Mann ein äußerst grotesk aussehendes, verhärmtes Menschlein gewesen war. Charme hatte er auch nie gehabt, mit Frauen hatte er immer geredet wie mit kleinen Kindern und sich dadurch stets die Chance verbaut, von seinem unvorteilhaften Äußeren abzulenken. Stattdessen hatte er sich unbewusst die größte Mühe gegeben, im Gesamten als nicht vermehrungswert zu erscheinen. Erfolgreich muss man sagen, hatte er doch niemals ein Kind gezeugt. Sex hatte es zwar gegeben, aber er konnte es an einer einzelnen Hand abzählen. Das hätte er sogar noch gekonnt, wenn ihm Daumen und Zeigefinger gefehlt hätten. Aber Sex war ihm ohnehin nie wichtig gewesen. In seinem Leben zählten Ordnung, Ruhe und die Gewissheit, dass jeder Tag noch ein wenig ordentlicher und ruhiger werden würde.
Veränderungen machten ihm Angst. Frauen machten ihm Angst. Die Vorstellung von einer Frau, die in sein Leben treten würde, versetzte ihn gar in so etwas wie Panik. Nein, mit Frauen wollte der alte Herr seit einem halben Jahrhundert schon nichts mehr zu tun haben. Sie waren unberechenbar, fordernd und brachten alles durcheinander. Und damit passten sie definitiv nicht in seine Welt.
Der alte Herr dachte lange darüber nach, woher er dieses seltsame, undefinierbare Gefühl kannte. Fast hätte er Dr. Sittig, seinen Hausarzt, angerufen, doch irgendwas hielt ihn davon ab. Er versuchte, dieser neuen (alten) Empfindung auf seine eigene Art Herr zu werden, indem er ein Glas Pflaumenschnaps zu sich nahm. Eigentlich tat er dies nur am späten Abend, kurz bevor er ins Bett ging, doch besondere Umstände erfordern besondere Maßnahmen, heißt es zumindest. Ihm wurde bereits nach dem ersten Gläschen schummerig, doch das Gefühl in seinem Kopf, seinem Magen und weiter darunter, blieb.
Entgegen seiner Angewohnheiten, schaltete er bereits um kurz vor fünf den Fernseher ein. So früh hatte er das seit Jahren nicht mehr getan. Es lief nichts, was ihn auch nur ansatzweise interessierte. Keine Dokus, keine Krimis. Nur billig produzierte Reportagen, Werbung und amerikanische Serien, die der alte Herr zutiefst verabscheute. Also schaltete er den Apparat wieder aus und ging zurück zum Fenster. Es machte ihn fast wahnsinnig so unruhig zu sein, zumal er sich den Grund dafür nicht erklären konnte. Waren es vielleicht die Orangen gewesen, die er gestern gegessen hatte? Die Fruchtsäure vertrug er nämlich nicht allzu gut. Aber nein, das Gefühl schien nicht aus seinem Magen zu kommen. Es schien von überall gleichzeitig auf ihn einzuprasseln, als wäre er in einer emotionalen Sportdusche gefangen
Der alte Herr nahm sein Kissen, platzierte es auf der Fensterbank und starrte durch das geöffnete Fenster hinab auf die Leute, die durch die Fußgängerzone flanierten. Vom dritten Stock aus hatte er eine gute Übersicht auf all die Figuren die dort herumwuselten. Normalerweise konnte er ihnen stundenlang beim herumwuseln zusehen und dabei den Straßenmusikern zuhören, ohne das ihm langweilig wurde. Schräg gegenüber spielte regelmäßig eine kleine Zigeuner-Combo, die wirklich gute Musik machte. Doch heute ertrug er das alles nicht, es machte ihn noch nervöser, als er ohnehin schon war. Und weil er es anschließend auch am Küchentisch nicht mehr aushielt und fast schon glaubte das Gefühl, das er verspürte, wäre der beginnende Wahnsinn, ging er nach draußen. Hätte er geahnt, was ihm fehlte, wäre er in der Küche sitzen geblieben.
Es war ihm in all den Jahren überhaupt nicht aufgefallen, wie sehr die Zeiten sich geändert hatten. Er hatte die Frauen ja auch nie wirklich beachtet. Nun aber fiel ihm auf, dass sie in aller Öffentlichkeit herum liefen, wie es in seiner Jugend nur die leichten Mädchen getan hatten. Und das schien ihnen nicht einmal etwas auszumachen. Ganze Horden fröhlicher Mädchen mit braun gebrannten Beinen in hautengen Shorts liefen an ihm vorbei. Frauen mit unglaublichen Ausschnitten, die in der Zeit, als der alte Herr noch jung gewesen war, Tumulte und wüste Beschimpfungen verursacht hätten.
Die letzten fünfzig Jahre hatte er sie nicht beachtet, wenn sein Blick zufälligerweise mal auf ein nacktes Frauenbein oder einen zur Schau gestellten Bauchnabel gefallen war, hatte er sich beschämt und verächtlich abgewandt und sonst nicht weiter darüber nachgedacht. Nun aber zog diese nackte Haut seine Blicke an, wie ein Schlammloch eine Rotte Wildschweine. Und langsam wurde dem alten Herren warm. Ein unglaubliches Gefühl, war ihm doch in den letzten drei, vier Jahren, seitdem er ein wirklich alter Knacker (im wahrsten Sinne, er knackte an allen Ecken) war, immer kalt gewesen. Sogar im Hochsommer.
Als ihm auffiel, dass er diese Frauen angaffte, schämte sich der alte Herr. Er versuchte den Kopf unten und den Blick auf dem Boden zu halten, doch er schaffte es nicht. Da fiel ihm auf, dass er nicht nur Verachtung für diese leicht bekleideten Dirnen empfand. Da war auch noch etwas anderes. Und plötzlich war ihm klar, woher dieses rastlose Gefühl kam, dass er schon den ganzen Tag verspürte. Das rohe Fleisch in seiner Hose zuckte. Als er das erkannte, war das ein Gefühl, als hätte der Papst erfahren, dass er nie getauft wurde.
Der alte Herr wollte nur noch nach Hause.
Dort angekommen schloss er die Tür doppelt ab. So schockierend die Erkenntnis auch gewesen war, er war froh, dass er nun immerhin wusste, woher seine innere Unruhe kam. Es war weder das Herz, noch das Gehirn, nur das runzelige Ding zwischen seinen Beinen, was unerhörterweise aus seinem Dornröschenschlaf erwacht war. Er versuchte sich zu erinnern, was man früher in solchen Fällen empfohlen hatte und tatsächlich fiel ihm da etwas ein, was er vor unendlichen Zeiten einmal aufgeschnappt hatte. Im Badezimmer entledigte er sich all seiner Kleider und legte sie ordentlich auf einen Stapel. Aus dem Augenwinkel konnte er seinen Körper im Spiegel sehen. Grau, schlaff, von Venen durchzogen, eine menschliche Ruine. Er steckte den Stöpsel in die Badewanne und ließ eiskaltes Wasser hinein laufen. Wenn das nichts half, würde er vielleicht Dr. Sittig konsultieren. Aber er hoffte, das nicht tun zu müssen, es war ihm alles so unglaublich peinlich. Er kletterte umständlich und steif in die Badewanne und wäre dabei fast noch ausgerutscht. Dann ließ er sich langsam in das kalte Wasser sinken.
Der alte Herr hatte nicht bedacht, was eiskaltes Wasser in Verbindung mit empfindungsarmer Haut und einem schwachen Herzen, in nur wenigen Minuten anrichten kann. Als er es bemerkte, war er schon zu schwach um sich wieder aus der Wanne zu ziehen. Bei dem Versuch rutschte er auf den Bauch und in dieser Position ertrank er schließlich.
Damit war das Leid des alten Herren leider noch nicht vorbei. Zumindest nicht, wenn er in irgendeiner Form noch mitbekommen hatte, was weiter mit seinen sterblichen Überresten geschah. Es dauerte eine ganze Zeit, bis die Polizei seine Wohnungstür öffnete und man seinen Körper fand. Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass der Arzt, der seinen Tod feststellen sollte, eine junge Ärztin war. Eine attraktive noch dazu. Hätte der alte Herr das geahnt, hätte er sich wohl lieber freiwillig verbrannt oder in tausend Stücke gesprengt.
Als man seine Leiche aus der Badewanne befreite, hatte er eine beachtliche postmortale Erektion. Manch einer würde meinen, das hätte daran gelegen, dass er auf dem Bauch gelegen hatte und sich so das Blut im Penis stauen konnte. Aber die Erklärung, dass sich die Geilheit von 50 Jahren, zumindest nach dem Tod seines verklemmten Gehirns, noch einen Weg nach draußen bahnen konnte, werden die meisten wohl interessanter finden. Man kann für den alten Herren nur hoffen, dass ihn im Jenseits kein Paradies mit Dutzenden nackten Jungfrauen erwartete.
zellhaufen Re: interessant - Echt, findest du? Vielen Dank Miss Nera :-) |
zellhaufen Re: ein wenig sehr - Na dann ist doch alles okay. Der alte Herr in dieser Geschichte, war übrigens schon mit Mitte 20 ein alter Herr... Also kommt es nicht unbedingt aufs Alter an. Ich bin immerhin auch schon fast 10.000... ähh... Tage alt. Danke für´s Lesen LG Z |