Sie und Er : Die Mappe
„Hast du vielleicht meine Mappe, beziehungsweise den Ordner, in dem ich meine eingehende Post lege, gesehen?“
„Wie sieht sie/er denn aus?“
„Viereckig. Din-A-4-Format. Er befand sich zuerst auf deinem Computertisch und wurde dann in den Aktenschrank verbannt, in dem jetzt meine Socken liegen.“
Sie lächelt anzüglich.
„Im Aktenschrank sind vier Fächer. In zweien liegen - übergangsweise – deine Socken. In den anderen beiden habe ich den Karton mit deinen geheimnisvollen Medikamente einsortiert. Hauptsächlich Vitaminpillen...“
„Meine Medikamente sind nicht geheimnisvoll. Und weil wir jetzt zusammen leben, brauche ich stündlich neue. Dazu kommt eine Wochenration Valium, mit der ich früher ein Jahr auskam.“
„Du bist mitunter nicht sehr nervenstark“, erwidert sie trocken.
„Kunststück. Die meiste Zeit suche ich ja die Dinge, die du mir verlegst. So sind mir von ein paar Milliarden Nervenzellen nur eine Handvoll geblieben.“
„Dir fehlt mitunter die Übersicht, Schatz. Deine 56 Umzugkartons hast du schon dreimal durchsucht nach furchtbar wichtigen Dingen, die sich dann doch in deinem Aktenkoffer befanden. Und so ist es halt auch mit den Socken. “
„Meine Socken sind jetzt im Aktenkoffer?“, frage ich entsetzt.
„Das war ein Vergleich“, sagt sie böse. „Ich denke, du suchst deine Socken?“
„Nein ! Ich suche meine Mappe, in der ich immer meine Post lege!“, antworte ich genervt. „Welche Farbe hat sie denn?“
„Ich weiß es nicht. Der künstlerische Eindruck erscheint mir auch nicht so wichtig. Mir geht es um den Inhalt.“
„Oh, der Herr verteilt wiedermal seine Spitzen.“ Sie scheint pikiert.
„Ich suche nur meine gottverdammte Mappe!“
„Du musst nicht fluchen. Hast du schon in deinem Büro nachgesehen? Ist ja schließlich der einzige Raum, der schon fertig ist“, fügt sie spitz hinzu.
„Ich suche dort seit zwei Stunden. Und die Küche ist übrigens auch schon fertig.“
„Irgendwo muss ich ja kochen.“
„Du hast wirklich einen begnadeten Wortschatz…“
„Was meinst du damit?“, fragt sie ungehalten, und ich gehe besser nicht darauf ein.
„Hast du sie nun gesehen?“
„Nein. Wollten wir nicht heute das Schlafzimmer dämmen?“
„Sobald ich die Mappe gefunden habe.“
„Vielleicht ist es ja ein Ringordner und du suchst derweil nach einer Mappe...?“
„Es ist ein Utensil, in dem man etwas hinein legen kann. Und man findet es nur, wenn man danach sucht und nicht, indem man es über seine Definition herbeireden will.“
Sie stellt sich drohend vor mir auf und stemmt die Arme in die Hüfte.
„Also schön“, schnaubt sie, „Wo soll ich suchen?“
„In der Küche.“
„Du hast sie in der Küche liegen lassen ?“
„Nein. Aber dann kann ich hier in Ruhe darüber nachdenken, wo sie ist und muss nicht deine Fragen beantworten.“
„Aber DU bist es doch, der mich die ganze Zeit fragt, wo diese dumme Mappe ist!“
„Rein theoretisch hätte es ja sein können, dass du mir eine Frage mit Ja oder Nein beantwortest, anstatt mal wieder eine deiner ausschweifenden Diskussionen zu beginnen.“
Sie stapft mit dem Fuß auf, rennt in die Küche, öffnet den Wasserhahn, schließt den Wasserhahn und kommt zurück.
„In der Küche ist sie nicht.“
„Vielleicht doch ? Vielleicht im Eisfach, wo ich neulich meine Zahnpasta gefunden habe. Oder vielleicht zwischen den vielen Töpfen und Pfannen, die du zum Zubereiten der Fertiggerichte brauchst und wo sich auch mein Akkuschrauber wieder fand.“
„Aha.“ Ihre Augen funkeln böse. „Du versuchst, deine Beleidigungen mit Witz zu kaschieren, damit ich sie dir wenigstens als Zynismus verzeihe. Und den Akkuschrauber hast du selber liegen lassen, nachdem du vergeblich versucht hast, das Gardinenbrett anzubringen. Seither schaut uns die ganze Nachbarschaft in die Küche.“
Ich setze mich gereizt auf einen Stapel Versandhauskataloge, der seit Tagen als Hocker herhalten muss.
„Ich will mich nicht streiten. Ich möchte einfach nur meine Mappe wieder finden.“
„Was ist denn so furchtbar wichtig an dem Ding?“, fragt sie abfällig.
„Mein Führerschein ist da drin.“
„Du legst deinen Führerschein in die Postmappe? Wolltest du ihn zurück schicken?“
Sie lacht, als wäre ihr ein Brüller gelungen.
„Es ist ein Chaos hier“, antworte ich resigniert. „Man findet nichts wieder und ist ständig nur am suchen.“
„Es ist ja nur vorübergehend“, sagt sie beschwichtigend. „Man muss nun mal alles hin – und herräumen, solange wir renovieren. Das wird schon noch. Soll ich uns was zum Essen machen?“
„Mir ist jetzt nicht nach Ravioli.“
„Du bist manchmal unausstehlich“, schimpft sie wütend. „Stellst du dir auf dieser Basis ein Zusammenleben vor ?“
„Entschuldige“, entgegne ich müde, „ich bin halt so gereizt, weil ich diese Scheiß Mappe nicht finde.“
Ich erhebe mich und ein Baumarkt-Prospekt bleibt an meinem Hintern kleben.
Sie lacht, und ich weiß nicht warum.
Ich ziehe sie an mich und sage schuldbewusst: „Ich fahre kurz weg und besorge uns etwas leckeres zum essen, hm? Dann bist du heute auch ein wenig entlastet.“
Sie drückt meine Hände solange zurück, wie es dauert, um meinen Satz auf Spott zu analysieren. Ihre Augen schauen mich lange ernst an, dann gibt sie nach.
„Lass mich fahren“, sagt sie versöhnlich, „Du hast doch gar keinen Führerschein.“
Ich verdrehe die Augen, aber sie greift schon zu ihrer Handtasche, die über dem Türgriff hängt.
„Du willst so fahren?“ Ich deute auf ihre riesige farbverschmierte Latzhose mit Trägern, die ihr immer wieder von den schmalen Schultern gleiten.
„Ja, warum denn nicht ? Viele Frauen tragen so eine Hose.“
Sie schaut mich verständnislos an.
„Hauptsächlich Schwangere, weil sie mit ihrem Bauch den Platz ausfüllen können. Aber sie tragen dazu kein Papier-Schiffchen auf dem Kopf.“
Sie verzieht den Mund und schwenkt aufreizend mit den Händen ihre Handtasche vor dem Bauch hin und her. Ein Bein hat sie leicht vorgeschoben und zur Angriffsstellung formiert.
Ihre Stirn legt sich in Falten, ihre Haltung ist lässig, und sie versperrt den Fluchtweg.
„Nun sag schon“, beginnt sie drohend, „ich bin dir zu dünn?“
„Aber nein. Die Hose ist nur etwas groß. Das ist nicht böse gemeint, es sieht nur, äh… lustig...aus.“
„Lustig ? Aha. Naja, wenn ich mich zum Clown mache, nur weil ich nicht fett bin, dann kann ich natürlich nicht fahren.“
Sie reißt das Schiffchen vom Kopf und wirft es mir vor die Füße.
„Die meisten Männer wünschen sich eine hübsche schlanke Frau“, schluchzt sie, „nur ich bekomme einen Terroristen, der auf dicke Weiber steht.“
„Aber das stimmt doch gar nicht“, beruhige ich sie. „Du siehst wirklich toll aus in meiner Latzhose. Sie ist nur so voller Farbflecke – und du legst doch immer soviel Wert auf akkurates Aussehen, mein Schatz.“
„Lenk nicht ab“, entgegnet sie giftig. „ Ich habe gut bemerkt, dass du Frauen anstarrst, die einen dicken Busen haben. Deshalb kaufst du dir ja auch diese Männerzeitschriften, in dem die wichtigen Sportereignisse stehen.“
„Das ist typisch Frau! Meistens argumentieren sie damit, dass der Mann sie zu dick findet und sich nur aus diesem Grunde Zeitschriften kauft, um sich magersüchtige Models an zu schauen. Was sollen wir Männer denn lesen? Herzschmerz-Magazine mit Bastelseiten und Kräuterhoroskop ? Du bist weder zu dünn noch zu dick, nur die Hose ist dir zwei Nummern zu groß. Mein Gott, warum muss man unentwegt sagen, wie toll ihr ausseht, und wenn es der schlimmste Schlabberlook ist !“
„Falls es dir entgangen ist: Ich laufe so rum, weil wir eigentlich arbeiten wollten, und ich habe keine Lust, mich eigens zu stylen, um eine Pizza zu holen, damit mein Partner sich nicht für mich schämen muss.“
„Wieso Pizza ? Du weißt, dass ich Pizzen nicht gerne mag.“
„Dann eben nicht. Dann musst du selber fahren. Und übrigens heißt es „Pizzas“.
„ICH wollte ja fahren. Und lass uns nicht streiten, ob es so furchtbar intelligent ist, an jedem Wort ein „s“ anzufügen, um die Mehrzahl zu erhalten.“
„Du Sprachgenie findest doch deinen Führerschein nicht.“
„Dann nehme ich eben dein Auto.“
Der Kalauer sollte das Thema beenden, brachte mir aber nur einen vorwurfsvollen Blick ein. Bevor sie antworten kann, nehme ich ihr den Autoschlüssel ab, küsse sie auf die Wange und weg bin ich.
Auf dem Beifahrersitz ihres Wagens finde ich meine Mappe mit der Post und den Führerschein.
Ich eile zurück zum Haus und läute. Ich hab den Haustürschlüssel vergessen. Nach dem dritten Läuten öffnet sie, das Papier-Schiffchen wieder auf dem Kopf.
„Das ging aber schnell.“
Ich reiche ihr die Mappe. „Rate mal, wo ich die gefunden habe?“
„Was ist das?“
„Das ist eine Mappe, ein Schnellhefter. Blau. Mit meiner Post drin. Sie lag in deinem Auto.“
„Wirklich ? Du musst sie dort vergessen haben. Möchtest du reinkommen?“
„Nein. Ich möchte dich nur bitten, die Mappe auf meinem Schreibtisch zu legen, nachdem du alles gelesen hast.“
„Du behauptest, ich würde deine Briefe lesen?“, fragt sie empört.
„Ich weiß sonst nicht, warum du sie in deinen Wagen entführst.“
Sie schlägt die Tür zu, und ich mache mich wieder auf dem Weg.
Nach ein paar Schritten öffnet sich hinter mir wieder die Haustür und sie ruft streng meinen Namen.
Ich schlendere gemütlich mit den Händen in den Taschen zurück und pfeife ein Lied.
„Hier, du Unhold“, ruft sie mir entgegen, „Siehst du das? Das ist meine eigene Mappe mit meinen Unterlagen. Sie sieht exakt so aus wie deine. Ich habe die beiden verwechselt, das tut mir leid. Aber : ICH LESE NICHT DEINE POST !“
Sie knallt mir die Mappe auf die Brust und dann die Tür hinter sich zu. Verdutzt betrachte ich die Mappe. Sie sieht tatsächlich genauso aus wie meine.
Im Auto schaue ich mir die „Unterlagen“ an: Hochwichtige Termine für den Frisör, fürs Nagelstudio, Massagen und Wellness, Zeitungsberichte über Face-Lifting und Botox.
Dazu Kalorientabellen und geheimnisvolle Schönheitsformeln, die rot unterstrichen sind.
Ganz oben ein handgeschriebener Zettel : Bussi, du Ekel !
Mein Führerschein ist nicht dabei.
Gunda Hallo ... - ... Wolfgang, ich musste heftigst grinsen. Die eine oder andere Passage kam mir inhaltlich vage bekannt vor ... An ein, zwei Stellen bist du versehentlich in der Grammatik ein bisschen ausgerutscht, aber insgesamt mitreißend geschrieben. GEfällt mir. Herzlich Willkommen hier bei MyStorys und viel Spaß LG Gunda |