Einigen unter euch, die mich kennen mag auffallen, dass viele der Ereignisse in dieser Geschichte durchaus sehr realistisch sind und so oder leicht abgewandelt tatsächlich passiert sind. Viele von euch waren sogar dabei ? wenn nicht sogar jeder einmal hier drin vorkommt. An alle, die sich vernachlässigt fühlen, weil ich sie vergessen hab. SORRY! ES TUT MIR SOOOO LEID! Ebenfalls auffallen dürfte euch, das andere Ereignisse, Orte, Handlungen und Personen zu 100% meiner Fantasie entsprungen und damit völlig irreal sind. Die damit verbundenen Personen könnten sich eventuell gekränkt oder gar beleidigt fühlen, doch es ist zu spät, das Ganze ist bereits gedruckt und gebunden. Danke für eure Aufmerksamkeit und danke an alle, die ihren Charakter und ihr Aussehen diesem Buch geliehen haben. Liebe Grüße an die Welt dort draußen hinter meinem PC, Marie alias Mary
„Ruhe jetzt, ich habe eine Auseinandersetzung mit meiner Fantasie!“, erwiderte ich unwirsch und strich mir ein paar lose Strähnen aus dem Gesicht. Straßenköter-Blonde Strähnen… Ich hatte keine wirkliche Meinung zu dieser Farbe. Ich hasste, mochte sie aber auch nicht. Wir pflegten ein recht neutrales Verhältnis zueinander kann man sagen. Meine beste Freundin Yuki sah mich erstaunt an. Sie hatte schöne Haare! Glatt und schokoladenfarben. Genau mein Ding, allerdings würden die sich auf meinem Kopf wohl eher nicht so gut machen. Wir sind, wie ich gerade feststellen muss, so ziemlich das Gegenteil voneinander. Sie hat von Natur aus eine dunklere Hautfarbe als ich, ihre Augen haben so einen seltsamen braun, grünen Mischton und ihre Haare – na die kennt ihr ja. Zudem sieht sie aus wie ein Zahnstocher. Ja, nicht wie eine Spagetti, sondern wie ein Zahnstocher. Nicht, weil sie spitze Enden hätte oder so, nein, weil sie einfach klein und dünn ist. Ich denke sie kratzt nicht gerade am Magersuchts-Gewicht, aber gut, das ist ihr Ding, nicht meins. So, das war der schöne Teil, kommen wir zu mir: Die Haarfarbe kennt ihr ja schon, dazu diese Locken, die eigentlich eher Wellen sind und tagtäglich machen was sie wollen. Ich bin blass, nahezu leichenblass. Liegt vermutlich daran, dass ich lieber in meinem Zimmer hocke, als draußen herumzuspringen – aber braun werde ich auch bei sengender Hitze nie. Schicksal. Nicht, dass mich das wirklich stören würde. Stören tun mich dagegen diese dunklen Ringe unter meinen Augen… kein Make-Up der Welt kann etwas dagegen tun, sie sind einfach da. Nicht, weil ich unter Schlaf-, sondern weil ich unter Vitaminmangel leide. Obst, Gemüse? Bäh! Nun ja, da wir das geklärt haben… es gibt allerdings auch was, das ich mag an mir. Meine Augen. Nicht, dass ich es ständig gesagt bekommen würde, aber ein, zweimal ist es schon passiert. „Du hast schöne blaue Augen!“. „Ähm, ja, danke“. Soweit die Konversation. Ich hasse es Komplimente zu bekommen. Nicht, dass ich damit überhäuft werden würde, aber wenn es mal passiert, dann fühl ich mich unwohl. Sehr unwohl. Zugegeben, ich erinnere mich gerade nicht an ein solches Ereignis, aber ich bin mir sicher es war schrecklich.
- „Fertig?“
- „Hn?“
Ich hatte wohl gepennt. Ganz offensichtlich. Yuki seufzte und drehte das Radio lauter. Nickelback… aktuell wohl eine unserer Lieblingsbands. Ansonsten ging unser Musikgeschmack wohl eher auseinander – zumindest meistens. Parallelen existierten dann im Bereich Musical – das war’s auch schon. Aber wir waren Freunde und hatten einige Gemeinsamkeiten. Wir waren uns einig, dass Johnny Depp genial, dass beim Kerl aus King-Kong eine Nasenoperation überfällig und dass Schokolade lebensnotwendig ist. Wortlos lehnte ich mich an den hölzernen Pfahl hinter mir. Wir befanden uns auf altem Fabrikgelände, etwa eine Viertelstunde von Zuhause entfernt. Wir wohnten nicht weit voneinander entfernt, lediglich ein paar Meter. Doch wir trafen uns trotzdem meistens hier, oder gingen gemeinsam her. Eine Viertelstunde. Eine Viertelstunde weit weg von Eltern, Geschwistern und Stress. Es war keine Lösung, sich hierher zu flüchten, das wussten wir beide, doch es gab einem zumindest das Gefühl für ein paar Stunden glücklich zu sein.
Das Fabrikgelände, auf dem wir uns befanden, war groß und verlassen. Niemand kam hierher und wenn doch, dann gingen sie schnell wieder. Wir hatten das Obergeschoss zweier nah beieinander liegender Häuser für uns beansprucht. Im Erdgeschoss lagen noch alte Maschinenteile herum, doch dazu später mehr. Hier oben war es gerade zu dieser Jahreszeit, es war Sommer, sehr heiß. Die Wärme staute sich unterm Dach, doch der gigantische Fabrikventilator, den wir mit Mühe, Not und einem Flaschenzug hier hinauf gehoben hatten, kühlte angenehm. Den Boden hatten wir lediglich gesäubert und dann jeden Teppich darauf gelegt, den wir hatten finden können. Wir hatten den Dachboden meiner Großeltern und die Keller unserer Familien geplündert. Es hatte wochenlang gedauert und war mittlerweile ein Jahr her, dass wir den Großteil unserer Sommerferien damit verbracht hatten die Dachgeschosse wieder herzurichten. Unter der Schräge über mir konnte man eine Leiter hinauf klettern und man gelangte auf einen Vorsprung, von dem aus man das Dachfenster öffnen und auf das flache Fabrikdach klettern konnte. Nicht selten lagen wir dort, sonnten uns und genossen die warmen Sonnenstrahlen. Direkt unterm Dach hingen zwei sporadische, selbstgebastelte Händematten. In ihnen lagen Kuscheltiere, die wir als Dreizehn- und Vierzehnjährige eigentlich gar nicht mehr besitzen durften, doch die wir mit Kindheitserinnerungen verbanden, die wir nicht verlieren wollten, und Decken, sodass wir auch in Winternächten von zuhause fort bleiben konnten, ohne zu erfrieren. Wir hatten alles, sogar Strom. Wie sonst würde der Ventilator funktionieren? Ein großer, alter Schreibtisch stand am Ende des Raumes, davor zwei alte Drehstühle. Links meiner, rechts Yukis. Doch ich sprach ja von zwei Dachgeschossen… Über zwei breite, miteinander verbundene, Bretter konnte man durch eine großes Loch in der Wand (hier war mal ein Fenster, bevor ich es angestupst und es zu Boden gefallen war…) in unser „Badezimmer“ klettern. Es erwartete einen tatsächlich ein Badezimmer. Voll eingerichtet und, nachdem wir es geputzt hatten, auch sauber. Fließendes Wasser und Strom, woher das kommt fragt ihr euch? Das fragen wir uns allerdings auch… Allerdings sind wir schon etwas weiter als ihr!
„Kommst du mit runter?“, fragte ich gähnend, denn auch der Ventilator konnte die 30°C im Schatten nicht kühlen und so eine Hitze machte mich arg müde. „Jo, wir wollten noch den alten Kühlschrank rauf holen“, erinnerte mich Yuki und ich nickte. Durch ein Loch im Boden ragte einer der großen Holzpfeiler. Mit viel Arbeit hatten wir Holzstücke links und rechts daran befestigt, sodass wir hinunter klettern konnten, denn das Treppenhaus war im Laufe der Jahre eingestürzt, sodass es nicht zu benutzen war. Hinter der flinken Yuki kletterte ich die Sprossen hinab. Was wir sahen verwunderte uns kein Stück, immerhin kannten wir es schon, doch als wir das erste Mal hier gewesen waren, war es gruseliger gewesen…
…“Woah scheiße, schau dir das an Yuki!“, schrie die damals gerade Dreizehn gewordene Mary und öffnete nahezu zaghaft die Tür zu einem gigantischen Fabrikgebäude. „He, nein! Nicht da rein! Mary, da arbeiten bestimmt noch Leute drin!“. Mary prustete und schüttelte den Kopf. Ein wenig ängstlicher als sie eilte Yuki ihr hinterher. Sofort ergriff sie ihre Hand und bemerkte, dass sie zitterte. Ja, sie hatten beide Angst und schrien zeitgleich auf, als es von der Decke auf sie hinab rieselte (aaaah Staubkörner!). Minutenlang kauerten sie sich auf den kühlen Boden und zogen ihre Wintermäntel enger um sich. Es war Februar und kalt. Sehr kalt. Zwar schneite es nicht, denn das tat es ohnehin fast nie, es regnete höchstens und das Wetter war furchtbar, doch ihr Atem schlug dennoch weiße Wölkchen in der Luft. Nach ein paar endlosen Minuten rappelten beide sich wieder auf und sahen sich um. Alle zwei staunten, als sie sich umsahen. Die Fabrik sah aus, als hätten vor fünf Minuten noch Arbeiter an den Maschinen gestanden und gearbeitet. Wären da nicht die Spinnweben und deutliche Zeichen des Verfalls gewesen. Mary schluckte ängstlich und trat weiter in die große Halle hinein. Sie kamen an einem Fließband vorbei. Es war stehen geblieben, doch es war deutlich zu erkennen, dass hier offenbar Maschinenteile produziert wurden. „Wie langweilig“, meinte Yuki schmollend, als sie ein großes Metallstück in die Hand nahm, es nachdenklich betrachtete und zwischen ihren Händen drehte, um herauszufinden, wie rum man es anschauen musste. Mary war inzwischen bei abgestandenem Kaffe angekommen, der in zwei Tassen auf einem großen Schreibtisch vor sich hin schimmelte. „Würg, das ist ja eklig“, meinte sie und verzog das Gesicht. Von Natur aus hatte sie eine Abneigung gegen Kaffe, doch das hier war absolut widerlich. Yuki war inzwischen bei ihr angekommen und sah Mary dabei zu, wie sie auf einem der zwei Schreibtischstühle saß und die Akten aus den Schubladen holte, um sie genauer zu betrachten. Sie waren über eine zerfallene Wand gestiegen, offenbar war das hier mal ein abgetrennter Raum gewesen… Auf dem Schreibtisch stand auch ein Computer, doch als Mary den Knopf drückt, um ihn einzuschalten, explodierte irgendwas in seinem Inneren. „Spätestens jetzt isses kaputt, du Genie!“, motzte Yuki mit verschränkten Armen. Mary kratzte sich verlegen am Kopf und durchsuchte die Akten nach etwas Interessantem, während Yuki gedankenversunken sprach. „Es sieht so aus, als wären die Angestellten hier Hals über Kopf verschwunden… haben ihre Arbeit abgebrochen und alles stehen und liegen gelassen“, meinte sie und warf einen angewiderten Blick auf die Kaffeetassen. Seltsam, für gewöhnlich neigte sie zum überreagieren und hätte die Tassen eigentlich augenblicklich vom Tisch geschmissen. Mary hörte, wie sich Yuki entfernte und sah sich fragend um. Doch sie schlenderte lediglich zwischen den alten Maschinen hin und her, sah sich dies und jenes an und kletterte sogar einen der Pfosten hoch. Seufzend stand Mary von ihrem bequemen Stuhl auf und lief ihr hinterher. Als sie dort ankam, wo Yuki verschwunden war, sah sie zweifelnd nach oben. Eine aufgeregte, quirlige Person winkte ihr aus dem Loch in der Decke entgegen, durch das sie offenbar gekletterte war. „Ich komm da nie hoch!“, jammerte Mary bereits, als Yuki ein Seil hinunter ließ. „Da!“, rief sie lediglich und verschwand. Mary rollte mit den Augen und packte das Seil. Sie stützte die Füße am Pfeiler ab und arbeitete sich so nach oben. Offenbar hatte Yuki das Seil irgendwo festgebunden… „Na los, komm hoch!“, rief Yuki ihr von irgendwo noch weiter oben zu. Alles andere als begeistert ging Mary durch den Zentimeterdicken Staub auf eine deutlich sichtbare Leiter unter einer Dachschräge zu und kletterte hinauf. Oben angekommen stand sie auf einem Vorsprung und sah durch ein offenes Dachfenster nach oben. Ein wenig angenervt strich sie sich die blonden Strähnen aus dem Gesicht und kletterte letztendlich zu Yuki aufs Dach hinauf. Klirrende Kälte empfing sie – und eine verträumt in den Himmel starrende Yuki. Als sich Mary neben sie auf das flache Dach setzte, schreckte Yuki aus ihren Gedanken auf und sah ihre beste Freundin voller Vorfreude an. „Weißt du was?“, fragte sie mit geheimnisvoller Stimme. Mary schüttelte den Kopf. „Ich hab eine Idee…“.
Normalerweise war Mary die mit den bescheuerten Ideen, doch an diesem Tag sprach Yuki aus, was sie bereits erträumt hatte, als sie ins Dachgeschoss geklettert war. Doch momentan hatte niemand der beiden besonders viel Zeit. „Lass uns auf die Ferien warten!“, schlug Mary vor und nickte in Richtung der verschwindenden Sonne. Beide strahlten sich an. Zwei völlig verschiedene Mädchen, die den Traum von einem sicheren, abgeschiedenen Ort erfüllen wollten…
„Weißt du noch? In den Osterferien kamen wir nicht dazu, wir waren beide im Urlaub!“, rief ich Yuki lachend zu und Yuki erwiderte wütend. „Ja, meine Eltern mussten mich ja unbedingt mit Kate auf diese bescheuerte Ferienfreizeit schicken! Es war zum kotzen!“. Ich lächelte, denn insgeheim wusste ich, dass es ihr gefallen hatte. Doch ich sagte nichts, in solchen Augenblicken ließ man sie besser in Ruhe. Stattdessen folgte ich ihr schweigend. Nachdem vor etwas mehr als einem Jahr unser Plan zu keimen begann, sind wir öfters hergekommen. An Wochenenden oder nach der Schule… von meiner Schule aus waren es fünf Minuten bis hierher, von Yukis Schule zwar viel weiter, doch fuhr sie jeden Morgen mit dem Zug und vom Bahnhof aus brauchte sie lediglich ein paar Minuten länger als ich, bis sie dort war. Allerdings hatte sie auch länger Schule als ich… Wir hatten bereits zu dieser Zeit einiges hergerichtet. Hatten aufgeräumt, geputzt und manchmal sogar unsere Hausaufgaben in dem Dreck hier gemacht. Und jetzt sah es da oben geradezu wohnlich aus. Gemütlich, bequem. Ja. Zu dieser Zeit hat Yuki auch mal aus Spaß eine der Maschinen angestellt und mit offenem Mund dabei zugesehen, wie sich das Ding in Bewegung gesetzt hatte. Wir wussten zwar nicht, woher der Strom kam und wer ihn bezahlte, doch er war da und das fanden wir toll. Natürlich. Einzig und allein eine Heizung und warmes Wasser gab es nicht. Nur kaltes Wasser, also musste man auch kalt duschen. Nicht besonders toll, aber durchaus erträglich. Ich stieß beinahe mit der Nasenspitze an Yuki, denn diese war abrupt stehen geblieben und hatte die Hände in die Hüften gestemmt. Ich sah über sie hinweg und inspizierte den Kühlschrank, der vor uns stand. „Na denn los!“, meinte ich aufmunternd und grinste ihr zu.
So weit von der schönen Seite meines Lebens, mit meiner besten Freundin und jeder Menge Zeit. Aber mein Leben wäre diese Geschichte nicht wert, wenn nicht auch andere Seiten existieren würden. Also, lieber Leser, viel Spaß bei dieser melancholisch bis fröhlichen Geschichte. Viel Spaß bei meinem Leben.
Ich war verdammt blass. Ja, beinahe leichenblass! Wie immer, nur noch etwas extremer. Ich hätte ohne Probleme bei „Buffy“ als Vampir durchgehen können – und das ohne mich schminken zu müssen. Das blonde, heute mal richtig lockige Haar (feuchtes Wetter) hatte ich irgendwie zu einem Pferdeschwanz zusammen gebunden, damit mir die Haare nicht ständig vor der Nase hingen. Die Vierzehnjährige im Spiegel hatte die Lippen fest aufeinander gepresst, sodass sie allmählich weiß wurden. Leere blaue Augen blickten mich an und ich starrte ebenso leer zurück, ehe ich mich von meinem Spiegelbild abwendete. Seufzend legte ich eine Hand an die schmerzende Schläfe und schüttelte den Kopf… als könnte ich damit die Kopfschmerzen loswerden. Es war ein langweiliger, öder Tag gewesen. Also ein Tag wie jeder andere in meinem Leben. Einem Leben, das ich hasste. Abgrundtief. Und dieser Abgrund war verdammt tief! Ich konnte nicht umhin die Badezimmertür hinter mir zu zuschlagen, so laut wie es nur ging. Ausnahmsweise Mal nicht, um meine Wut allen anderen Familienmitgliedern zu zeigen, sondern um meinem Spiegelbild zu verbieten mir jemals wieder zu begegnen… Als ob das funktionieren würde.
Ich war gerade heim gekommen, es war Mittwoch und meine Eltern waren nicht zuhause. Wie jeden Mittwoch hieß es für mich „Langeweile schieben“, denn das ist vermutlich der einzige Tag in der Woche, in der ich nichts zu tun habe. Gar nichts. Mit einem Gesicht, das selbst mit dem meines Physiklehrers hätte konkurrieren können packte ich meine Schultasche und stapfte die Treppe hinauf. Nach genau sechzehn Stufen (oh wie oft hab ich die als kleines Kind gezählt, nur um mich zu vergewissern, dass ich mich beim letzten Mal nicht verzählt habe…) und zehn weiteren Schritten stieß ich meine Zimmertür auf und pfefferte als Allererstes meine Tasche neben den Schreibtisch. Mit dem Fuß betätigte ich den Knopf meines PCs, der mit einem mehr oder weniger leisen Surren hochfuhr. Mit dem anderen Fuß kickte ich den Schreibtischstuhl zurück und ließ mich letztendlich darauf fallen. Das Gesicht in den Händen vergraben wartete ich darauf, dass das herzallerliebste Willkommensklingeln von Windows mich aus meinen Gedanken holen würde. Jeder Arzt hätte mir dringend geraten nicht auf irgendwelche Bildschirme zu schauen, wenn es mir, inklusive meinem Kopf, dermaßen beschissen geht – doch auf die hör ich grundsätzlich nicht. Ich meine, die verbieten einem ja selbst Nutella, denn da ist ja viel zu viel Fett drin, das man zwei cm dick auf eine Scheibe Toast schmiert. Außerdem sagen sie mir immer wieder, dass ich mehr Obst und Gemüse essen soll, damit die dunklen Ringe unter meinen Augen verschwinden, dass ich mehr an die frische Luft gehen soll, damit ich nicht mehr aussehe wie eine Untote… Ja und? Noch vor dem Windowsgruß klingelte es an der Haustür. Entnervt trat ich meine Schultasche aus dem Weg (verdammt noch mal, welcher Vollpfosten hatte die denn dahin gelegt?!) und eilte die Treppe hinab. Das kanarienvogelgelbe Auto in unserer Einfahrt verriet schon alles. Der Mann vor der Haustür hatte einen gehetzten Gesichtsausdruck, sah ungeduldig zu mir hinüber und trat von einem Bein aufs andere. Freundlich lächelnd öffnete ich den Tür, begrüßte den gelb-schwarz gekleideten Mann mit der Hornbrille und nahm drei Kilo Kataloge entgegen und trug den Stapel in die Küche, nachdem ich den Postboten mit einem freundlichen: „Schönen Tag noch“, verabschiedet hatte. Ich hatte mich gerade umgedreht, da verdrehte ich die Augen und betrachtete den Putz an der Decke und mein Lächeln verschwand. Ein weiterer Grund, weshalb ich mein Leben hasse. Ich konnte dankend darauf verzichten, dass jeder mich fragt, was denn mit mir los sei, wenn ich leichenblass mit dunklen Ringen unter den Augen und Trauermiene im Türrahmen stehe. Also setzte ich jedes Mal dieses Lächeln auf. Dieses kalte, rein geschäftliche Lächeln, das man aufsetzt, wenn es einem mies geht. Mein Lieblingslächeln.
Mit den Katalogen und einigen Briefen unterm Arm spazierte ich in die Küche und knallte den Quelle Katalog als erstes auf das Eichenholz des Esstisches. Genervt schnaubend pfefferte ich einen Katalog von Galeria Kaufhof neben eine PC-Zeitschrift meines Vaters und betrachtete dann die übrig gebliebenen Briefe, die ich nacheinander auf den Tisch warf. Eine Rechnung, noch eine Rechnung, eine verspätete, längst überfällige Postkarte und ein falsch zugestellter Brief für die Nachbarn. Na herrlich. Den würde ich wohl nachher rüberbringen müssen… Wenn ich das richtig erkannt hatte, dann war es eine Mahnung und die Nachbarn würden sich mit Sicherheit bedanken, dass ich ihnen den (mit Sicherheit unglaublich willkommenen) Brief zustellen würde. Wütend knallte ich den Hinterkopf gegen die Stuhllehne des Stuhls, auf dem ich mittlerweile saß und sah zum Himmel hinauf (mehr zur Decke, aber ihr wisst, was ich meine). „Gott, was hab ich falsch gemacht in meinem verdammten Leben?“; fragte ich und erinnerte mich selbst daran, dass ich eigentlich gar nicht an Gott glaubte.
Hab ich eigentlich erzählt, dass es etwas Positives an diesem Tag gibt? Nein? Heute war Zeugnisausgabe. Und für jeden von euch bedeutet der Schnitt 2,0 vermutlich eine Tanzeinlage… Also ist es etwas positives, hm? Wenigstens geben mir die Buchstaben auf einem weißen Blatt Papier das Gefühl, dass ich wenigstens irgendetwas im Griff habe. Wenn auch nicht mein Leben…
Keine zehn Minuten später klingelte ich bei den Nachbarn, Hausnummer 73. Meine beste Freundin wohnte in dem Haus, Yuki – der einzige Grund vemutlich, warum ICH den gottverdammten Brief hierher brachte. In letzter Zeit hatte der Postbote das Ganze irgendwie nicht mehr so ganz im Griff. Aller Offensichtlichkeit nach kam auch der allmählich ins Alzheimer-Alter… Plötzlich öffnete ein kleines, blondes und vermutlich übergewichtiges Mädchen die Haustür, doch kaum hatte ich sie wahrgenommen sprang ein schwarzes Pelzknäuel mich an und warf mich dabei beinahe zu Boden. „Johnny!“, kreischte ich erschrocken und versuchte den schlabbernden Labrador-Retriever von mir weg zu kriegen. Der Mischlingsrüde war ein Mysterium für sich. Er gehorchte ausschließlich seinem Frauchen, ignorierte die Befehle jedes anderen und hatte ebenso nur Respekt vor dieser einzigen Person. Alle anderen… wurden so lange abgesabbert, bis sie dermaßen durchnässt waren, dass sie problemlos das Mädchen aus Scary Movie 3 spielen könnten. Hilflos versuche ich den Brief in Sicherheit zu bringen – zum Glück nahm das süße kleine, blonde Mädchen mir den Umschlag ab und zerrte den Hund zurück ins Haus. „Böser Johnny!“, sagte sie tadelnd und wackelte mit dem Finger vor seiner Nase herum. Ein erneutes Mal an diesem Tag ein Grund für mich die Augen gen Himmel zu richten und mir zu wünsche, ich wäre tot. „Also dann, äh… tschau Kate, sag deiner Schwester sie soll mal anrufen“, sagte ich und kratzte mich am Kopf. Das unfreundliche kleine Wesen nickte nur, sagte „jo“ und knallte mir die Tür vor der Nase zu. War die ganze Welt plötzlich gegen mich? „Ja kleines Dummerchen“, sagte meine innere Stimme und innerlich brüllte ich sie an: „KLAPPE, so was nennt man eine rhetorische Frage!“. Den Blick zu Boden gerichtet – einfach weil ich es immer tat – ging ich die zwanzig Meter zurück zu unserem Haus und stupste die immer noch offen stehende Haustüre auf. Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass es exakt 14.56 (+50 Sekunden) Uhr war. Eine Stunde noch, bis meine drei Jahre jüngere Schwester zuhause sein würde und noch genau zehn Sekunden, bis meine Mutter hinein kommen würde. Doch das wusste ich um erst exakt um 14.57 Uhr… na gut, das interessiert euch vielleicht weniger, jedenfalls war ich um 14.57 bereits wieder in mein Zimmer vor meinen PC geflitzt und war dabei zu beschließen, dass ich ICQ dringend aus dem Autostart nehmen sollte. Vier blinkende Balken in der Statusleiste und nur einer davon sprach mich wirklich an, als ich den Namen darauf las. Während meine Mum den Schlüssel im Schloss umdrehte stürzte ich mich auf die Tastatur, ignorierte drei der vier Fenster und wendete mich dem orange-gelb blinkendem „Christian“ zu…
Mittwoch, 28. Juli 2009
Liebes Tagebuch – ja, ich weiß, dass ich seit MONATEN nicht mehr auf deine Seiten gekleckst hab. Jetzt sei aber still du hör zu – argh Moment, ich muss erstmal Abendessen, meine Mum ruft… klasse. Nicht weglaufen!
„Jaha, ich komme!“, schrie ich die Treppe hinab und klappte seufzend das Buch zusammen, das ich wenige Minuten zuvor auf meinen Schoß gelegt hatte. Im nächsten Moment trabte ich auch bereits die Treppe hinunter um mich zum „gemütlichen“ Abendessen mit meiner Familie zu begeben.
Elf Minuten hab ich gebraucht… elf! Na dann, hier bin ich wieder. Dich wird sicherlich wahnsinnig interessieren, dass ich eben ne Stunde lang mit dem zukünftigen Vater meiner Kinder gesprochen hab. Nein? Och man. Was red ich hier eigentlich mit einem Blatt Papier? Wie tief muss man sinken?! Ernsthaft, ich bin reif für die Klapse. Ich hab mich den ganzen Tag gelangweilt und noch nicht einmal Hausaufgaben gemacht. Stattdessen hab ich rumgelungert und gewartet, dass Christian online kommt. In der Schule trau ich mich ja nicht mit ihm zu reden… Morgen mehr, bin grad schreibfaul.
Wenn du wissen möchtest, wie der ganze Mist weiter geht, dann musst du schon weiter lesen, denn ich schreibe nie besonders aufschlussreich und detailliert in meine Tagebücher… und ich unterschreibe meine dämlichen Einträge nicht auch noch alle. Es ist doch irgendwie logisch, dass nur ich, ich allein in mein Tagebuch rein schreibe, oder? Welcher Penner liest die süffisanten Bemerkungen zu Lehrern, die wunderschönen Gedanken an Jungs und die verachtenden Kommentare zu Eltern denn außer uns zweien? Keiner. Jedenfalls nicht freiwillig.
Nachdem ich das Tagebuch mitten auf meinen Zimmerboden gelegt hatte betrachtete ich zunächst das Chaos auf dem Parkett. Ich hatte grundsätzlich immer einen Platz auf den Boden für saubere Klamotten, einen für schmutzige, einen für Schulsachen und einen für Haargummis. Seufzend rollte ich mich in meine Decke ein und gähnte herzhaft. Wer tut das um Mitternacht nicht? Während ich an dem Loch in meinem Schlafanzugärmel spielte starrte ich die Decke an und wartete darauf, endlich einzuschlafen.
Es war wie jedes Jahr. Ich freute mich stets wie ein Elch darauf und wenn es dann da war, wurde es viel zu schnell langweilig. Ich rede von den Sommerferien, ja. Die Welt ist doch grausam. Ich finde sechs Wochen Ferien am Stück viel zu lang! Und wenn ich mir vorstelle, dass die in anderen Ländern sogar noch länger Ferien haben, wird mir schlecht. Schlecht geworden ist vermutlich auch der Kassiererin, als ich sie um sechs Tafeln Schokolade bat. Zwei Zartbitter, zwei Vollmilch und zwei weiße Schokoladetafeln. Ich kann ja mal die Gedanken der schwer übergewichtigen Frau mit der schiefen Hochsteckfrisur, die ich wie jedes Mal viel zu gerne gerade rücken würde, aussprechen: „Eine Tafel Schokolade ist Traurigkeit, zwei sind Depressivität, drei sind die folgende Fressattacke… aber sechs?“. Ich hatte herzlich wenig Lust auf diesen Gedankengang, der mit einem geschockten Blick zum Ausdruck gebracht wurde, einzugehen. Ich bemerkt selbstverständlich auch, wie sie unter meinem T-Shirt nach vermeidlichen Fettpolstern suchte… mehr oder weniger vergeblich versteht sich… Erst als die Omi mit ihrem Enkelkind hinter mir drängelte, deren Einkaufswagen mit lauter „kleinen Geschenken“ vollgepackt war (frei nach dem Motto: „Wenn du mit einkaufen kommst, darfst du dir auch was KLEINES aussuchen), ließ mich die Kassiererin bezahlen und ich wurde mit sechs Tafeln Schokolade, drei Flaschen Pepsi und zwei Tüten Chips aus dem Laden entlassen.
„Das hat aber gedauert, du“, meinte Yuki kopfschüttelnd und ich nickte seufzend. „Hast du den Rockstar?“, fragte ich und linste in die schwere Tasche, die sie trug. „Jap, klar“, meinte sie grinsend und während sie so dämlich vor sich hin grinste, stellte ich sie mir bereits mit 500ml purem Koffein im Blut vor. Eine mehr als gruselige Vorstellung, die sich später noch bewahrheiten sollte. Doch es war gerade erst Mittag und so blieb und noch jede Menge Zeit – vielmehr mir – alles vorzubereiten.
Meiner Meinung nach war der Berg viel zu steil.
„Ähm, Mary?“
Viel, viel, viel zu steil!
„Mary?“
Vielleicht war meine Kondition aber auch einfach total im Eimer.
„MARY?“
Vermutlich die wahrscheinlichere Variante…
„MARYYYYYYYYYYYYY!“
„Ja, wasn los?“, erwiderte ich schnaufend.
„Beate, Tina und Ursula verabschieden sich gerade“, meinte Yuki trocken und wich auf dem schmalen Wanderpfad einen Schritt nach links aus, um drei rollenden Pepsiflaschen aus dem Weg zu gehen, die fröhlich den Berg hinunterkullerten, den ich sie so mühevoll hinauf getragen hatte. Sekundenlang starrte ich ihnen hinterher, sah die zerrissene Plastiktüte in meiner Hand an, die auf erstaunliche Weise viel leichter war als vorher, ehe ich Yuki verzweifelt ansah, die pfeifend den Weg weiter hinauf ging. „Wir sehen uns obeeeen!“, rief sie mir zu und genervt stapfte ich den Weg wieder hinab. Den drei 1,5 Liter Damen hinterher.
Letzten Endes schafften wir es erfolgreich sowohl Beate, als auch Ursula und Tina erfolgreich in mein Zimmer hinauf zu bringen, ohne dass meine Mutter fragte, wofür um alles in der Welt wir 4,5 Liter Koffein brauchten. Mal ganz abgesehen davon, dass in dem Zeug mörderisch viele Kalorien waren. Bei Yuki machte das nichts, bei der löste das Koffein einen derart hohen Bewegungsdrang aus, dass die unangenehme Nebenwirkung der Pepsi, nämlich das Fett ansetzen, bei ihr ausblieb.
So, nun folgt ein etwas komplizierter Part, für alle diejenigen, die ICQ nicht kennen. Für alle anderen: Ich bekam eine Nachricht, also könnt ihr euch das Geräusch vorstellen. Für die anderen… ICQ macht ein extrem nerviges Geräusch, sobald du eine sogenannte Sofortnachricht von einem anderen ICQ-Nutzer bekommst. Stell dir einfach das nervigste Geräusch vor, das du dir in deiner Fantasie ausdenken kannst und verdopple dieses, dann hast du den ICQ-Nachrichtensignalton. Jedenfalls ertönte genau das Geräusch in dem Moment, in dem ich Yuki zur Haustür gebracht und wieder in mein Zimmer gestapft kam. Schnell wieder der Blitz saß ich auf meinem Schreibtischstuhl und fuchtelte wie wild mit der Maus, damit der Bildschirmschoner verschwand. „Hi“. Woah, voll toll. Er hat mich begrüßt! Mich begrüßt! Einfach so! Jippieh! Ohne, dass ich ihn angeschrieben hab. Ich bin begeistert. Zudem, und das freut mich besonders, kann ich davon ausgehen, dass er nicht irgendwelche Hausaufgaben von mir haben möchte oder so, denn es sind ja Ferien! Also schreib ich, nachdem ich mich dreieinhalb Minuten lang gefreut habe, endlich zurück. „Hi“, tippe ich fix.
- „Wie geht’s?“
- „Gut, dir?“ – zugegeben, mir geht es nicht gut, mir geht es fantastisch!
- „Jo, auch, was machste?“, ich beaufsichtige Beate, Tina und Ursula, damit sie nicht weglaufen. He, das kann ich doch nicht schreiben! Wie uncool ist das denn?
- „Nix besonderes, du?“
- „Zocken“. Okay, wieso überrascht mich das jetzt nicht? Ich meine, ich zocke auch gerne. Ja. Ab und zu. Aber Christian (genannt Chrizoo oder Chrizly) ist Dauerzocker. 24h sind für ihn keine Hürde, da bin ich mir sicher. Und wenn er nicht zockt, dann muss er arbeiten. Von seinen Eltern aus. Insofern ich das richtig verstanden habe. Aber wer hat denn was gegen Kohle verdienen? Hallo?
Übrigens, hier ein paar Hintergrundinformationen: Er ist 16, aufgrund von Faulheit, nicht von Dummheit, sitzen geblieben und jetzt in meiner Klasse. Wenn irgendein schlauer Rechenfuchs da draußen mitgerechnet haben sollte, ist da immer noch ein Jahr Alterunterschied. Richtig! Ich hab die zweite Klasse übersprungen. War kein Kunstwerk. Ich bin nach wie vor faul und lerne kaum und bin trotzdem gut in der Schule. Was will frau mehr?
- „Hallo, noch da?“ – ja klar, aber was soll ich schreiben? Wenn du irgendwas Intellektuelles erwartest, dann bist du hier an der falschen Adresse. Nicht grundsätzlich, aber im Moment schon.
- „Ähm, ja“.
- „Kay, ich bin dann mal weiter zocken, kommst du auch?“.
- „Ne, meine Freundinnen kommen gleich, sorry“.
- „Aha, okay dann bb“ – Okay, noch ein paar Hintergrundinformationen. Ich hasse es, wenn jemand unfreundlich wird, ohne dass er oder sie einen Grund hat. Das Wort „aha“ zeugt von purem Desinteresse. Und wenn ihn nichts interessiert, was ich mache, dann soll er es doch einfach dabei belassen still schweigend zu zocken und mit seinen Kumpels zu chatten – nicht mit mir. Allerdings ist genau das der Grund, wieso ich denke, dass er genau das gleiche von mir denkt, wie ich von ihm. Von wegen Schmetterlinge im Bauch und so.
Pünktlich um halb fünf klingelte es an der Tür. In der Zwischenzeit hatte ich die beiden Sessel in meinem Zimmer von ihren blauen Überzügen befreit und ausgeklappt, sodass nun zwei Bettchen bereit standen. Beide bezogen und das eine mit Delfinbettwäsche, das andere mit der klassischen „Ich hab dich lieb“-Bettwäsche (die ist lila und das steht tatsächlich drauf – was denn, ich steh auf so was!) und mein eigenes, stinknormales, langweiliges Bett in dem ich jede Nacht zu schlafen pflege mit weißer Blümchenbettwäsche ausgestattet. Ich weiß auch nicht, was mich da geritten hat… Außerdem hatte ich selbstverständlich den Tisch hinter den Betten mit gekühlter Pepsi und Rockstar bestückt, sowie die zwei Chipstüten auf drei Schüsseln verteilt. Ich schätze mal viele von euch fragen sich jetzt, wieso ausgerechnet drei Schüsseln, sechs Tafeln Schokolade (die noch im Kühlschrank schlummerten, denn sie sollten ja nicht schmelzen, Schokolade war da sehr empfindlich) und drei Betten?
Ich rannte hinunter zur Tür, schlüpfte in meine Sandalen, brüllte meiner Mutter zu wir wären am Bahnhof, es könnte dauern und war gleich darauf durch den Türspalt verschwunden. Handy und Schlüssel in der Tasche, es konnte losgehen. Yuki und ich stapften den gleichen Weg zurück, den wir heute Mittag mit Beate, Tina und Ursula genommen hatten – den ich also heute zum vierten Mal lief und nachher noch mal laufen würde.
„Und eben haben die sich wieder angeschrien, nur weil mein Vater die Kaffeetasse hat stehen lassen“, meinte Yuki bedrückt und ich schüttelte verständnislos den Kopf. „Die haben sie doch nicht mehr alle… aber die vertragen sich bald wieder, bestimmt. „Das glaub ich kaum“, meinte Yuki leise und somit war das Gespräch beendet. Ich war noch nie gut im Trösten gewesen, zumindest glaubte ich das und es gab niemanden, der mir einmal das Gegenteil gesagt hatte. Und wie ihr wisst kann ich mit Komplimenten ohnehin nicht umgehen, also was solls? Fortan schweigend gingen wir nebeneinander her an der nahezu menschenleeren Hauptstraße entlang. Wieso eine Hauptstraße leer war? Nun, an unserer Hauptstraße liegen drei Bahnübergänge, in letzter Zeit wird ständig einer dieser Bahnübergänge „renoviert“, was im Klartext bedeutet, dass die Hauptstraße dauernd gesperrt wird und alle einen Umweg fahren müssen. Uns beiden passte das ganz gut, denn so konnten wir einfach über den Mittelstreifen spazieren, ohne dass etwas passierte.
„Der Zug kommt um 16.59 oder?“, fragte ich Yuki und holte mein Handy raus, um auf die Uhr zu schauen, denn der Versuch die Bahnhofsuhr von Gleis Zwei zu lesen – auf die Entfernung vom gut 100 Metern Luftlinie – war fehlgeschlagen. „Jap, kommt er“, bestätigte Yuki, nun etwas besser gelaunt als vorher. Wir trabten bequem in Richtung Gleis Zwei, durch die Unterführung und die Treppe wieder hinauf. Generell tendierten wir eher dazu zu früh loszugehen, weshalb wir auch heute gut zehn Minuten zu früh am Bahnhof ankamen. Natürlich war die einzige Bank weit und breit besetzt und so mussten wir, der sengenden Hitze ausgesetzt, stehend auf die Ankunft des Zuges warten. Gelangweilt trat ich an den Rand des Gleises und sah auf die Schienen hinab. „Glaubst du, wenn man sich zwischen die Schienen legt, überlebt man einen vorbeifahrenden Zug?“, fragte ich Yuki, doch diese rollte lediglich desinteressiert mit den Augen. „Nein Mary, das probieren wir jetzt nicht aus!“, sagte sie mit übertrieben ernster Stimme und wir kicherten drauf los. Auf diese Art und Weise – also mit völlig sinnlosen Gesprächen und Diskussionen über „was wäre wenn“ vertrieben wir uns die Zeit, bis endlich die monotone, typisch verzerrte Stimme aus dem Lautsprecher ertönte und verkündete, dass…
…der Zug fünf Minuten Verspätung haben würde. „Och nö, auf die Bahn ist Verlass, die kommt immer zu spät“, meinte Yuki stöhnend ließ sich einfach auf dem heißen Steinboden nieder. Ganz abgesehen davon, dass uns die Leute komisch anstarrten, war die Aussicht eine andere. Also setzte ich mich neben Yuki und amüsierte mich prächtig darüber, dass uns alle mit ihren Fischaugen anglotzten und dabei derart ungeniert über uns redeten, dass es für die lästernden schon mehr als peinlich war. „Erstaunlich, wie oberflächlich Menschen sein können“, dachte ich kopfschüttelnd und seufzte. Ich lehnte mich zurück, stützte mich auf meinen Unterarmen auf und ließ mir die Sonne auf die blasse Haut strahlen. Erstaunlicherweise bekam ich nie Sonnenbrand… Den letzten hab ich mir glaub ich im Griechenlandurlaub vor ein paar Jahren zugezogen… Lang ist es her. In diesen Ferien fahren wir nicht weg, weder Yuki noch ich – und das passt uns beiden sehr gut in den Kram. Letztes Jahr war es genauso gewesen, doch da hatten wir etwas ganz andere im Kopf gehabt als Ferien zu machen. Wir haben damals zwei Dachgeschosse wieder hergerichtet, wenn ich mich richtig erinnere.
Ich musste grinsen und bekam, in Gedanken versunken wie ich war, die Ankunft des Zuges kaum mit. Erst als Yuki mich anstupste sprang ich erschrocken auf und ging den Anreisenden aus dem Weg. Aufgeregt hielt ich nach meiner zweiten besten Freunden Ausschau.
Achtung, Hintergrundinformationen: Ich hatte drei beste Freundinnen und keine der drei hatte ein Problem damit, dass ich die andern zwei genauso als beste Freundinnen bezeichnete, wie sie selber. Yuki kennt ihr ja schon, die zweite lernt ihr jetzt kennen und die dritte… nun ich glaube die muss noch etwas warten, ich hoffe sie entschuldigt, doch ihr Kapitel wird ebenfalls noch kommen.
Nun, ich hielt also Ausschau und musste nicht allzu lange suchen, bis ich die über 1,70 große Person mit den blonden Haaren entdeckte. In der Masse ging sie zwar kurz unter, doch tauchte sie augenblicklich wieder auf und kam auf uns zu gerannt. Yuki neben mir raste natürlich sofort los und ich musste grinsen. Irgendwie war ich froh, dass die zwei sich so gut verstanden. Ein klein wenig weniger aufgeregt als Yuki fiel ich Fee ebenfalls in die Arme. Wir kannten uns seit… naja eigentlich schon immer und obwohl sie fast zwei Köpfe größer war als ich, war ich die Ältere von uns beiden. Sie hatte zwei Wochen nach mir Geburtstag und demnach war Yuki die Jüngste im Bunde. Nicht, dass das einen Unterschied machte, ich wollte euch nur nicht im Unklaren lassen!
Natürlich kannte Fee unser Versteck, das wir vor anderthalb Jahren errichtet hatten, doch es hatte ein paar Monate gedauert, bis Yuki und ich uns überwunden hatten, es ihr zu erzählen. Zudem kam Fee nur alle zwei Wochen her. Ihre Eltern lebten getrennt und sie lebte bei ihrer Mutter und bei ihrem Stiefvater in Duisburg. Mit anderen Worten, sie lebte am anderen Ende der Welt. Auf dem Weg zum Fabrikgelände (der einzige Grund, weshalb ich meiner Mutter sagte, es könne dauern) sprachen wir über die typischen, belanglosen Dinge, bis wir auf das altbekannte, für gewöhnlich recht nervige, Thema „Jungs“ kamen. „Hä? Wie heißt der Kerl? Und seit wann bist du mit dem zusammen? Hab noch nie was von dem aus deinem Mund gehört… he, Moment… Doch nicht etwa DER Siam, oder?“, fragte ich entsetzt und starrte Fee an, die mir soeben etwas von ihrem neuen Lover erzählte. Zwar war sie jünger als ich – zugegeben, zwei Wochen waren nicht die Welt – aber dafür hatte sie für jeden Tag den sie jünger war als ich auch einen Freund mehr gehabt, zumindest konnte man es sich ungefähr so vorstellen. „Äh, der müsste auf deine Schule gehen, glaub ich“, meinte sie zögerlich. Ich stöhnte entsetzt und schlug die Hände vors Gesicht. „Schwarze Locken, Pickel im Gesicht und 11. Klasse?“, fragte ich. Mittlerweile waren wir an dem eisenbeschlagenen Tor der Fabrik angekommen. Wir schoben es mit Leichtigkeit auf und befanden uns auf einem gigantischen, trost- und verwahrlosten Gelände. Frustriert kickte ich einen Kieselstein vor mir her, während Fee nachhakte. „Ja… Was ist denn mit dem?“. Ich steckte die Hände in die Hosentaschen meiner Bluejeans und seufzte. „Naja, ich bilde mir ja für gewöhnlich selber ein Bild, aber bei uns in der Schule kursieren halt so Gerüchte, dass der schon x Freundinnen gehabt hat und jede mit ihm Schluss gemacht hat, weil er nur auf Sex aus war. Und bei jeder kommt der wohl wieder angekrochen“, meint ich und grummelte missmutig vor mich hin. Hatte nur ich das Gefühl, oder geriet meine älteste Freundin immer an die Falschen? Ich rieb mir die Schläfen und fixierte dann eines der endlos vielen Gebäude mit den still gelegten Maschinen und den längst nicht mehr qualmenden aber nach wie vor verrußten Schornsteinen. Die Gebäude sahen alle gleich aus, doch mittlerweile hatte ich mir gemerkt, in welches ich hinein gehen musste, nachdem ich mich zu Beginn dauernd verlaufen hatte. Yuki ebenso. Unser Orientierungssinn war vollkommen im Eimer… oh, da habe ich eine lustige Geschichte, die ich euch erzählen kann!
Zeltwochenende vor zwei Jahren. Ein großer Zeltplatz, der unter Wasser steht und deshalb auch kein Zelten. Stattdessen übernachten wir in der nahe gelegenen Jugendherberge und lassen es uns gut gehen. Nun, jedenfalls machten sich Mary und Yuki eines Abends auf den Weg und erkunden ein wenig die Gegend. Sie laufen durch den lichten Wald, der zwischen Zeltplatz und Herberge liegt. Sie sind einmal um die Herberge herum gelaufen, stehen hinter zwei, drei Bäumen vor dem Eingang und sehen sich beide völlig orientierungslos um. „Hä? Wo sind wir?“. Heute kann keiner der beiden mehr sagen, wer damals gefragt hat, doch in den Köpfen der beiden ratterte es gewaltig. Sie hatten wirklich keine Ahnung, wo sie waren, doch nach ein paar Minuten angestrengter Suche (hust) fanden sie dann den Eingang der Herberge. So ein Glück…
Ein perfektes Beispiel für unseren fehlenden Orientierungssinn. Mittlerweile war Yuki vorgeklettert und hatte es sich bereits auf dem Dachboden bequem gemacht. Ich kletterte ihr hinterher, nur Fee brauchte ein wenig länger. Immerhin war sie nicht allzu oft hier. Ich schaltete sofort den Fabrikventilator an, denn es war erdrückend heiß im Raum. Fee setzte sich an den Schreibtisch und packte ihr Laptop aus. Yuki und ich hatten unsere nicht mitgenommen, wozu auch? „Also, du bist dir ganz sicher, dass da der hier ist?“, fragte Fee und deutete auf ein Bild auf ihrem Bildschirm, auf dem ich Siam eindeutig wieder erkannte. Pickelfresse, dümmliches Grinsen… nun, wenn sie nicht auf mich hören wollte, war sie es selbst Schuld. „Ah“, meinte ich trocken und hob die Brauen. „Wenn du meinst“, meinte ich und wendete mich ab. Irgendwie ging unser Geschmack was Jungs anging ganz schön auseinander. Ansonsten verstanden wir uns prächtig. Missmutig klappte Fee ihr Laptop zu und ließ es auf dem Schreibtisch stehen. Ich erinnerte mich daran, wie lange Yuki und ich gebraucht hatten, um das Ding a) hier hoch zu schleifen und b) die Ringe, die die Kaffeetassen hinterlassen hatten wegzuschrubben. Ich lächelte milde und schreckte aus meinen Gedanken auf, als Fee staunend meinte: „Cool, der Kühlschrank steht aber noch nicht lange hier, oder?“. Yuki schüttelte den Kopf und stand von ihrem Sitzplatz auf dem Boden auf. Am ganzen Gespräch hatte sie nicht so recht teilgenommen, war wohl nicht so ganz ihre Welt. Wieder musste ich lächeln und eilte ihr sofort hinterher aufs Dach hinauf. „Wir müssen um elf daheim sein. Meine Schwester schläft bei meinen Großeltern und meine Eltern sind auf diesem komischen Klassentreffen“, meinte ich. „Die sind gegen elf Uhr zurück“, endete ich und streckte mich gähnend, als ich auf dem Dach ankam. „Hey, machst du etwa schon schlapp?“, fragte Yuki vollkommen fassungslos. Ich grinste. „Ich hab doch Beate, Yuki“.
Wir redeten über dies und jenes, Fee gab mir Beziehungstipps und ich hörte nur halbherzig zu. „Du musst ihn einfach ansprechen, trau dich!“, riet sie mir. „Fee“, setzte ich an – zum dritten oder vierten Mal in den letzten paar Minuten. „Fee, weißt du welche Ausmaße das Fettnäpfchen hat in das ich trete, wenn er mich maximal als Austreibung von Langeweile ansieht?“, fragte ich und Yuki legte mir mitfühlend den Arm um die Schulter, da man mir deutlich ansah, wie sehr mich diese Ratschläge aufregten. Fee wollte gerade wieder ansetzen, als Yuki abwehrend die Hände hob. „Ich glaub es reicht, lasst uns lieber zurück gehen, ansonsten kollabiert das hier noch“, meinte sie todernst und ich musste grinsen. Fee seufzte angestrengt und sah mit blauen Augen in die untergehende Sonne. Offenbar war da wirklich jemand verliebt… Yuki und ich kletterten bereits hinunter in die Dachkammer und gingen davon aus, dass Fee uns folgen würde. Früher oder später. „Machst du das Radio aus?“, fragte ich und nickte in die Richtung, aus der ein unregelmäßiges Rauschen drang, während ich nach wie vor damit beschäftigt war ein wenig ungelenk die Leiter hinunter zu klettern. „Fee?“, brüllte ich nach oben zur Dachluke hinauf. „Kommst du?“. Da wir beide, Yuki und ich, ganz genau wussten, dass Fee noch fauler war als ich (die blieb morgens im Bett liegen, wenn wir um sie herum aufräumten), gingen wir einfach schon los. Als wir am Tor ankamen holte sie uns ein und nestelte an ihrer Tasche herum. „Oh man Fee!“, beschwerte sich Yuki. „Du bist so ein Lahmarsch!“. Ich kicherte vor mich hin, doch Fee war vertieft in ihr Handy. „Oh – wie – süüüüüß“, entwich es ihr. Yuki stöhnte und ich fragte: „Was ist denn jetzt schon wieder?“. Meine älteste Freundin fuchtelte mir mit dem Handy vor der Nase rum und ich sah wortwörtlich Buchstaben vor meinen Augen tanzen. Irgendwann entriss ich ihr das Ding, denn wenn sie so weiter machte, würde ich den Rest der Nacht von tanzenden Buchstaben auf kleinen Bildschirmen träumen. „Hey Fee, ich liebe dich auch :-* Siam“. Ich warf ihr das Handy zu und sie fing es auf, als sei es eine heiße Kartoffel, die sie nicht fallen lassen, aber auch nicht festhalten konnte. Während sie über beide Ohren strahlte und uns auffordernd ansah, damit wir ihr sagen konnten wie neidisch wir auf sie waren und wie wir uns für sie freuten, stöhnten wir beide auf. „Och Fee!“.
Natürlich freute ich mich für sie, doch nach allem was ich über den Vater ihrer zukünftigen Kinder so gehört hatte, passten die beiden einfach nicht zusammen. Und das bereitete ihr Sorgen. Sie hatte ihr das einmal gesagt, doch sie würde es nicht noch mal wiederholen. Das war ihr Leben und sie war selber Schuld, wenn sie nicht auf sie hören wollte. Ich hoffte nur inständig, dass sie sich da nicht in irgendwas verrannte, aus dem sie später nicht mehr hinaus kam. Nicht, dass ich damit irgendwelche Erfahrungen hatte – also auf dem Gebiet Jungs – aber ich hatte eine Vorstellung. Nun gut, im Grunde reichte auch das nicht. Eigentlich wollte ich sie nur davor bewahren etwas ganz, ganz Dummes zu tun…
„Da seid ihr ja endlich!“, meinte Yuki, die über die noch warme Straße gelaufen war und vor der Haustür wartete. Die Hände in die Hüften gestemmt und uns vorwurfsvoll anschauend. Fee und ich, die Faulpelze schlechthin, schlenderten eher die Straße hinunter und kamen ein paar Minuten (wenn es sich überhaupt um Minuten handelte) nach ihr an. Gähnend holte ich den Schlüssel aus der Hosentasche und schloss die Tür auf. Die kleine Yuki, ja ja, die war schon immer eher die Hyperaktive gewesen. Ab und an war das auch mal ein bisschen anstrengend…
Wir hatten unsere Schuhe gerade im Flur abgestellt und waren die Treppe hinauf in meinem recht geräumigen Zimmer verschwunden, als ich hörte, wie sich ein Schlüssel in der Tür umdrehte. Fee und Yuki hatten es sich bereits auf den Betten bequem gemacht und die Filme rausgeholt, doch ich schlenderte gelassen in den Flur im ersten Stock. „Na, wie geht’s euch?“, rief meine Mutter hinauf. „Gut, gut“, erwiderte ich schlicht. „Und, wie viele Filme habt ihr schon gesehen, hm?“, fragte mein Vater, der sich soeben die Schuhe im Flur auszog. Ihr kennt das sicherlich. Diese typischen Geräusche, die ihr immer und überall wiedererkennt. Bei mir sind solche Geräusche zum Beispiel das Schuhe ausziehen, das Umdrehen des Schlüssels im Schloss, oder wenn jemand die Treppe hinauf kommt. So kannst du abends bis tief in die Nacht hinein lesen und machst das Licht rechtzeitig aus, wenn ein nerviger Elternteil die Treppe hinauf poltert. Während dieses Gedankengangs war ich bereits wieder in mein Zimmer zurück geschlurft. Ein wenig irritiert bemerkte ich, dass Fee mit ihrem Laptop auf den Beinen an der Wand lehnte und auf meinem Bett saß. Achselzuckend realisierte ich diese Tatsache und schaltete mit dem Fuß die Stromleiste hinter meinem Fernseher an. „So, was darfs sein?“, fragte ich und drehte mich um. Erschrocken sah ich sofort in Yukis Gesicht, die einen Hundeblick aufgesetzt hatte und eine DVD hochhielt, auf dem in großen Lettern stand: „Fluch der Karibik“. Ich blinzelte sie an, verdrehte die Augen, legte den Film aber augenblicklich ein. „Juhu, Beate, komm zu mir!“, jauchzte Yuki, schmiss sich aufs Bett und grabschte förmlich nach der Pepsi-Flasche (ich frage mich nach wie vor, wie sie die auseinander halten kann, auch wenn noch niemand draus getrunken hat…). „Fee, gib mal Beate her!“, verlangte sie und Fee reagierte… wenn auch eine Spur zu langsam…
Natürlich sprachen Yuki und ich den Film auswendig mit, tranken Rockstar und Cola und mit jedem Schluck wurde sie ein weniger durchgedrehter. Ich war das gewohnt. Mehr als gewohnt, immerhin schlief sie nicht selten hier, doch Fees Anwesenheit schien den Koffeineffekt nur noch zu verstärken. „Du kommst mir irgendwie bekannt vor, hab ich dich schon mal bedroht?“, fragte ich und sprach somit mit, was auf dem Bildschirm gesprochen wurde. „Mein Prinzip ist es, die Bekanntschaft mit Piraten zu meiden“, erwiderte Yuki und breitete weit die Arme auf „Ahh, dann wäre es eine SCHANDE deine Prinzipien über den Haufen zu werfen“, sagte ich abwinkend und verschwand auf Toilette. Lachend versteht sich. Mittlerweile war es Mitternacht, oder sogar danach, ich wusste es nicht genau.
Als ich zurück ins Zimmer kam, brauchte ich etwas, um die Situation zu verstehen. Also, wenn eine Person Tränen in den Augen hatte, die Wimperntusche verschmiert und ein Schluchz-ähnliches Geräusch zu vernehmen war, dann musste selbst ein Vollidiot daraus herleiten war, das irgendjemand sich im Zustand „todtraurig“ bis „am Rande des Abgrunds“ befand. Nur ich, ich brauchte wie immer etwas länger…
- „Gott, Fee! Alles okay mit dir?“, fragte ich, nachdem ich endlich begriffen hatte, dass sie heulte.
Yuki hatte Taschentücher geholt und reichte ihr nun das x2-Extrapack. Welche göttliche Fügung da wohl hinter steckte.
- „Scheiße verdammte“, meinte Fee nur und schüttelte den Kopf.
- „Was ist denn los, erzähl schon“, drängte ich sie und legte ihr den Arm um die
Schulter. So oder so ähnlich hatte ich das mal in irgendeiner schnulzigen Liebeskomödie gesehen…
- „Mein Bruder ist so ein Arsch und Siam auch!“, schluchzte sie. Keiner von uns beiden fragte nach, aber sie sprach dennoch weiter. „Mein Bruder ist so ein Idiot… der ist seit zwei Jahren mit Ina zusammen, das weißt du doch, oder?“, fragte sie und ich nickte. Selbstverständlich wusste ich das. Bevor die beiden zusammen kamen hatte der Vater der beiden immer versucht mich mit Fees großem Bruder zu verkuppeln… „Ist doch toll, wenn die beste Freundin später mal den eigenen Bruder heiratet, oder?“. Selbstverständlich war das alles nur ein Scherz, aber mich hat es tierisch genervt und er meinte mich dauernd damit aufziehen zu müssen… schrecklich. Doch zurück zum Thema. Die beiden gingen auf meine Schule, wobei Fees Bruder erst seit letztem Schuljahr dorthin ging. Vorher hatte auch er in Duisburg bei Fee, ihrer Mutter und ihrem Stiefvater gelebt.
„Der war total blöd zu ihr und Ina will sich jetzt umbringen, weil er sich von ihr trennt… und Siam…“, sie schluchzte und ich verstand allmählich die Welt (und vor allem den Zusammenhang) nicht mehr. „Hat ne Neue“. Ich schluckte meinen Stolz hinunter, hätte ihr nur zu gerne gesagt (wäre sie nicht meine Freundin gewesen), dass ich es ihr ja gesagt hab, doch ich reichte ihr lediglich ein weiteres Taschentuch. Sie vergrub das Gesicht in Händen und Taschentuch und schluchzte hinein. Zudem hatte ihr Stiefvater, das wusste ich, einen Schlaganfall gehabt, der ihr verdammt nahe gegangen war. Ich konnte förmlich dabei zusehen, wie eine Welt um sie herum zusammenbrach und ich mit meinem Zuhören und Schweigen nur Bruchstücke davon aufsammeln und wieder zusammenbauen konnte. Kleine Bruchstücke. Sodass nachher vielleicht gerade so das Fundament ihrer Welt noch stand. Mehr nicht… „Sie will sich umbringen! Umbringen!“, schluchzte sie. Ina und sie waren befreundet. Wie eng wusste ich nicht, aber sie kannten sich und ich wusste, wie emotional meine Freundin sein konnte, wenn sie wollte. „Ich glaube nicht, dass sie das macht“, meinte ich abwehrend und meine Stimme klang, zu meiner eigenen Überraschung, belegt und nahezu heiser. Ich räusperte mich, während Fee energisch den Kopf schüttelte. „Doch, tut sie. Glaub mir, ich würds ja auch tun!“. Das schockte mich erst, doch dann erinnerte ich mich selbst an etwas, das ich lieber vergessen wollte…
Mary lag auf ihrem Bett, eine Hand voll Schlaftabletten vor ihrem Kopf, die sie aus tränennassen Augen anstarrte. Ihr Computer surrte vor sich hin. Auf dem Desktop eine Datei: „Ausdrucken und verteilen“. Sie hatte stundenlang Abschiedsbriefe geschrieben. Für Fee, für Yuki und sogar für ihren Klassenlehrer. Und nun lag sie da und wollte es zu Ende bringen. „Du wolltest so viel erreichen“, murmelte sie zu sich selbst. Der Beginn eines langen Selbstgesprächs.
- „Schauspielerin werden“, sagte sie halblaut.
- „Du hast nicht das nötige Talent dazu! Und deine Eltern kein Geld für die Ausbildung!“, wies ihre innere Stimme sie zurecht.
- „…oder sogar Musicaldarstellerin, wie Yuki es werden will“, fügte sie kleinlaut hinzu.
- „Singen kannst du kein bisschen, deine Stimme klingt schrecklich und tanzen kannst du auch nicht, kein Stück. Du bist so gelenkig wie ein Klumpen Lehm!“
- „Einen Freund finden“, murmelte Mary weiter.
- „Du? So hässlich wie du bist?“. Die Stimme in ihrem Kopf war von Wort zu Wort lauter geworden und nun hielt das Mädchen sich den Kopf zwischen beiden Händen fest. Ihr war schwindelig und sie fühlte sich grauenvoll.
Und dann schluckte sie. Eine Tablette nach der anderen.
- „Ich weiß nicht, ich dachte immer, ich wäre mir selbst zu wertvoll, um meinen eigenen Körper zu verletzen, aber… ich verstehs irgendwie“, meinte ich leiser als zuvor und noch immer von meinem kurzen Flashback irritiert. Das war gelogen, oder zumindest verschwieg sie ihr Tatsachen, die Yuki wusste. Sie hatte ihr von dem Suizid-Versuch erzählt. Wieso sie Fee nichts davon sagte war in diesem Moment wohl klar
- „Ich hab mich schon mal geritzt…“, gestand Fee leise murmelnd und sah mich nahezu schuldbewusst an. Offenbar bereute sie es. Mein einziger Gedanke war eigentlich: „Wenn du wüsstest“, doch ich schwieg dennoch. „Hat nicht geholfen“, fügte sie hinzu und ich musste milde lächeln.
- „Wir könnten uns auch einfach alle drei umbringen!“, schlug ich scherzhaft vor und sah grinsend zu Yuki – doch die war während des gesamten Gespräches irgendwie sehr, sehr still geworden. Und jetzt verschwand sie im Bad. Dazu sei gesagt, dass Yuki keine Minute auf der Toilette brauchte… keine Ahnung wieso, sie war eben immer schnell fertig. Und trotzdem war sie verhältnismäßig lang im Bad, während Fee die Hälfte der Taschentücher voll gerotzt und zusammengeknüllt auf mein Bett geworfen hatte. Das Bett, in dem ich später schlafen wollte… innerlich rümpfte ich die Nase, äußerlich legte ich den Kopf an ihre Schulter und versuchte sie zu trösten.
„Die braucht aber lang“, meinte Fee nach einer Weile und ich nickte. Hastig stand ich auf und drückte die Klinke der Badezimmertür hinunter. Sie schloss nie ab. Nie. Ich klopfte zaghaft gegen die Tür: “Yuki! Mach auf!”, sagte ich mit verhaltener Stimme, doch ich bekam nur ein: „Nein“ als Antwort. „Alles okay bei dir?“, fragte ich und hörte deutlich, dass sie schluchzte. „Ja, alles okay, geh weg!“. Fee tippte nach wie vor auf ihrem Laptop herum und da es mittlerweile ein Uhr nachts war, hatte ich nicht vor herumzubrüllen oder die Tür einzuschlagen, wobei ich mich gedanklich bereits mit einer Kettensäge in der Hand vor der Badezimmertür stehen und Kleinholz herstellen sah.
Doch dann hörte ich ein Klicken. Erleichtert öffnete ich die Tür und sah eine tränenüberströmte Yuki auf dem Klodeckel sitzen. „Was ist denn los?“, fragte ich verzweifelt und mitfühlend zugleich und fühlte mich allmählich mit der Gesamtsituation überfordert. „Ich weiß nicht, das ist alles zu viel“, schluchzte Yuki und ich versuchte in ihre dunklen Augen zu sehen, doch ihr Pony war mir im Weg. Wie sie da saß, zusammengekauert und kein Stück die selbstbewusste Yuki, die ich kannte… das tat weh. „Ihr redet von Selbstmord… u- und meine Eltern wollen sich trennen… und… dann hab ich doch g- gar keinen mehr!“, schniefte sie in ein Stück Toilettenpapier hinein. „Yuki! Als ob ich dich allein lassen würde!“, sagte ich und nahm sie in den Arm. Wie ein Klammeräffchen (was für ein mieser Vergleich) klammerte sie sich an mir fest und ich versuchte sie irgendwie zu beruhigen.
Zugegeben, diese Übernachtung hatte ich mir anders vorgestellt…
Es ist die verkürzte Version, zugegeben. So wie diese ganze Geschichte ein wenig abgeändert ist, damit sie für den Leser, oder die Leserin, nicht allzu langweilig wird. Welche Ereignisse erfunden sind und welche nicht, das kann man manchmal herauslesen – an vielen Stellen allerdings nicht. Und so auch diesmal. Ich möchte euch die 10.000 Verlaufseinträge des Chats zwischen Christian und mir vorenthalten, ihr habt es nicht verdient das alles mitzulesen, diesen hirnrissigen Blödsinn. Über den geplanten Vater meiner zukünftigen Kinder wisst ihr ja so gut wie überhaupt nichts! Also, er ist sechzehn, hat braune, etwas längere Haare (ich steh nicht auf Millimeterfrisuren) und geht in meine Klasse. Warum auch immer einige behaupten, seine Augen wären gelb – hm ich weiß nicht, sie sind braun oder grün… irgendeine Mischfarbe glaub ich. Hab sie mir nie genauer angeschaut. Leider. Nachdem Yuki und Fee am nächsten Morgen nach Hause fuhren oder gingen, war ich allein. Wir hatten aufgeräumt und alle konnten über die Ereignisse der letzten Nacht lachen. Zugegeben, manchmal ein wenig gequält, aber manchmal sollte man sich zum lachen zwingen – und nicht alles in sich hinein fressen.
Also, wie gesagt. Ich war allein. Also beschloss ich meinen Computer einzuschalten und zukünftigen Kindern ein Gesicht zu geben. Eins mit braunen Haaren und diesem süßen Lächeln. Ihr wisst schon, wie man sich kleine Kinder eben am süßesten vorstellt.
Ich lebte nach wie vor in einer heilen Welt. Frei nach dem Motto: „Lebe deinen Traum und träume nicht dein Leben“. Zugegeben, manchmal neige ich dazu in Letzteres über zu gehen, doch ich denke das ist erlaubt. Wer hält sich schon strikt an ein Lebensmotto? Für mich gab es einfach nur die realistische, unumstößliche Tatsache, dass Träume sich erfüllten, wenn man ganz fest daran glaubte und arbeitete. Doch ich musste ja noch so viel lernen, denn das war nicht immer so. Was beispielsweise, wenn die Gegenpartei nicht mitspielen wollte?
30. Juli 2009
Wie kann man jemanden so schrecklich gern haben? Grauenvoll. Ich meine, das war ein klares nein. Ich hab mir eingebildet, dass er mich oft ansieht und anlächelt, ich hab’s mir einfach eingebildet… hatte ja schon immer eine blühende Fantasie. Zunächst mal ist es ja wohl mal voll unpersönlich, dass ich ihn nicht von Angesicht zu Angesicht frage, ob er was von mir will oder nicht (für mich war doch klar, dass es „ja“ heißen würde, wieso traute ich mich dann nicht zu fragen? Unterbewusstsein sei dank!). Und dann hat er nein gesagt! Einfach so! *tränenklecks*
Ich meine, er kann doch nicht einfach „nein“ sagen!
Wütend klappte ich die mit Klarsichtfolie umhüllten Seiten des blauen Aktenordners zu. Wieso ich mein Tagebuch auf unlinierten Blättern in einem blauen Plastikaktenordner aufbewahrte? Weil ich das cool finde!
Man.
Nein, ernsthaft. Ich schieb öfter Andenken in die Folien rein. Eintrittskarten, Briefe, Karten und Zettelchen aus dem Unterricht. Also passt das ganz gut finde ich. Und nun beschloss ich nach diesen paar Worten in Selbstmitleid zu versinken. Für euch hört sich das vielleicht nicht katastrophal an, und im Nachhinein lächele ich ebenso darüber wie ihr, doch damals hat es verdammt weh getan abserviert zu werden. Wie gesagt, für mich hatte es immer das gegeben, was ich wollte. Das mag vielleicht so klingen, als wäre ich ein verwöhntes Einzelkind sein – doch ich bin kein Einzelkind… nur verwöhnt vermutlich. Aber Menschen konnte man nun mal nicht verlangen, das ging nicht, auch wenn ich es mir noch so sehr wünschte. Ich spielte auch nicht mit dem Gedanken mich zu verändern, nein, dafür war ich absolut nicht der Typ. Doch immerhin hatte er gesagt, wir würden trotzdem Freunde bleiben – und das waren wir schließlich. Ganz gute Freunde würde ich sagen. Und somit tat es nicht ganz so weh, als wenn er für immer verschwunden wäre… wenn ich nur gewusst hätte, wie das alles enden würde…
Ich wachte morgens auf und hatte noch meine Sachen vom Vortag an. Erschrocken sah ich auf mein Handy und sah die beiden bösen Buchstaben „Mo“ unten links in der Ecke stehen. Sofort sprang ich auf, raste ins Bad und… dann fiel mir ein, dass ja Ferien waren. Erschöpft legte ich meinen Kopf in die Hände und sah in den Spiegel. Erschrocken ließ ich die Hände von meinem geschwollenen Gesicht hinunter gleiten. Verwischte Wimperntusche, von der ich zunächst dachte, es wären die typischen, dunklen Ringe unter meinen Augen. Doch diese Ringe wären übertrieben gewesen. Viel zu übertrieben. Ich erinnerte mich jedoch an die Uhrzeit, laut meinem Handy und dem strahlenden Sonnenschein in meinem Zimmer (ich schlief zu 90% der Nächte mit offenen Rollos) war es bereits elf Uhr gewesen… und gegen Vormittag wollten mein Vater und ich eigentlich eine neue Gitarre für mich kaufen gehen… Seufzend schloss ich die Badezimmertür ab und stellte mich erstmal (viel zu lang natürlich) unter die heiße Dusche (Heiz-, Strom- und Wasserkosten? Pah!).
Seit ein paar Wochen spielte ich Gitarre… also… eigentlich hatte ich Gitarrenunterricht, seit ich sieben war. Aber erst seit ein paar Wochen spielte ich aktiv. Vorher hatte ich nie Lust gehabt zu üben, vermutlich einfach, weil ich es als reine Übung angesehen hatte daheim zu spielen. Natürlich hatte ich etwas gelernt in den letzten sieben Jahren, aber jetzt ging es eben voran. Die ersten Jahre hatte ich eine kleine, akustische Gitarre gehabt. Dann war ich für ein paar Jährchen auf E-Gitarre umgestiegen und hing nun nach wie vor dort. Jetzt wollte ich eine große, akustische Gitarre haben. Denn mein Musikstil (Lagerfeuermusik halt…) ließ sich schwer mit einer elektrischen Gitarre ausüben. Also auf in den Laden… dazu mussten wir erstmal eine Stunde fahren… na herrlich. Also Musik auf und rein mit der Dröhnung. Ich versuchte die Gedanken an Christian und das gestrige (selbstverständlich oberpeinliche) Gespräch zu verdrängen und ließ mich stattdessen auf ein wenig fröhlichere Musik ein, als meine Stimmung eigentlich zuließ. Zu trauriger Stimmung gehörte traurige Musik, denn fröhliche Musik zog einen für gewöhnlich nur noch weiter runter… man musste sich eben langsam nach oben arbeiten.
Wir gelangten also nach einer Stunde Fahrt und ein paar eher nebensächlichen Gesprächen an einem gigantischen Gitarrenladen an. Als wir ihn betraten kam ich mir sofort fehl am Platz vor. Es roch nach Holz und nach einer dieser Polituren, die in Möbelhäusern verwendet werden (ich kann Möbelhäuser nicht ausstehen, der Geruch da drin bereitet einem Kopfschmerzen!). Überall hingen Gitarren, allesamt schön anzusehen, aber das war nicht meine Welt. Ich war kein Rockstar, kein Musiker… nur ein armes, kleines Mädchen, das aus Spaß ein wenig Musik machen wollte. Doch ich wurde selbstverständlich vom Fach beraten. Ein leicht homosexuell wirkender Mann (was nicht bedeutet, dass ich etwas gegen diese Leute habe oder sie mir unsympathisch sind – der Typ war super nett und hilfsbereit) kam auf uns zu und fragte direkt nach unserem Anliegen. „Guten Tag, was darfs denn für sie sein?“, fragte er und sah abwechselnd mich und meinen Vater an. Da ich in Gegenwart von Fremden irgendwie erstmal völlig schweigsam reagierte, sprach mein Vater für das, was ich eigentlich haben wollte. „Wir suchen eine Gitarre“, sagte er und innerlich schlug ich mir die Hand vor den Kopf. „Ja, da sind sie hier richtig“, erklärte der Mann grinsend und ich rang mich zu einem zögerlichen Lächeln durch. „Haha, witzig“, dachte ich und hoffte, dass wir hier ganz schnell wieder raus kamen. „Gut, für einen von euch beiden?“. Ich nickte und deutete auf mich. „Ah, schön. Was denn für eine? Klassische oder Western Gitarre?“. Vor meinen Augen ploppten tausend Fragezeichen in die Luft und ich antwortete. „Klassische…?“. Den leicht fragenden Unterton überhörte er offenbar. Vermutlich war der Kerl es gewohnt nur Profis zu Gesicht zu bekommen… Profis und Leute, die etwas von ihrem Hobby verstanden. „Gut…“, sagte er und wollte gleich losgehen. „Äh, ich bin Linkshänder“, fügte ich hastig hinzu. „Okay, no way“, antwortete er und stemmte einfach die Hände in die Hüften, schüttelte den Kopf und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch, der mitten im Laden stand. Ich schluckte trocken. Toll und jetzt? Doch, Himmel sei dank, er fragte weiter und ließ mich nicht weiter in meinem Fettnäpfchen herum schwimmen. „Was spielst du denn? Mozart? Beethoven?“, fragte er und schien einen Hoffnungsschimmer zu hegen. Energisch schüttelte ich den Kopf. „Ne…“, sagte ich und fragte mich dennoch, was er hören wollte. Wieso war ich so gottverdammt unsicher? Alle hielten mich für stark und selbstbewusst – und jetzt kauerte ich mich in einer unbekannten Situation, die mir nicht in den Kram passte, in eine imaginäre Ecke. Klasse, Mary. „Oasis?“, fragte er dann plötzlich und meine Augen hellten sich augenblicklich auf. „Ja, genau!“, erwiderte ich und nickte. Augenblicklich stand der Herr auf und klatschte in die Hände. „Das spielt man doch nicht auf einer klassischen Gitarre. Lagerfeuer-Musik, richtig?“. Ich nickte als Antwort und hatte ein paar Minuten darauf eine Gitarre in der Hand. „Probier mal darauf zu spielen“, sagte er. Für mich war eine Gitarre eine Gitarre. Egal aus welchem Holz sie war oder wie sie aussah. Für den Verkäufer war jede Gitarre ein Einzelexemplar, etwas Wertvolles, Besonderes, Einzigartiges. Und dementsprechend behandelte er die Teile auch. Vorsichtig nahm ich mit dem Instrument Platz und schlug irgendeinen Akkord an. „So, dann spiel das mal weiter“, forderte der Verkäufer und meinte damit die improvisierte, schlichte Akkordfolge für Kleinkinder, die ich gespielt hatte. Je länger ich in diesem stickigen Geschäft steckte – desto unangenehmer wurde die Situation und desto schrecklicher fühlte ich mich. Kurz schlucken, weiterspielen. Der Mann (an die fünfzig, hautenges T-Shirt, Ausschnitt bis zum Bauchnabel, Bierbrauch, ausgelatschte Schuhe, Jeans… Jeans!) spielte mir das ganze auf der klassischen Gitarre vor und ich musste gestehen: „Ja… klingt hierauf besser“.
Aber… ernsthaft: Woher sollte ich das wissen?
Mein Vater hatte unterdessen schweigend zugehört und gab ein recht dekoratives schmückendes Beiwerk ab. Wir waren bestimmt ne Stunde in dem Laden. Für eine blöde Gitarre! Der Mann spielte mir etwas vor, schenkte mir ein Buch mit Tonleitern und Tabs… und schließlich standen wir endlich an der Kasse. Ich mit Gitarrentasche und Gitarre auf dem Rücken. Das Geld wurde von Paps Karte abgebucht und wir wendeten uns zum Gehen… als… *klong*. Der Gurt meiner Gitarrentasche surrte durch die Schnalle und die Tasche fiel zu Boden…. „ICH WILL HIER RAUS!“, brüllte ich innerlich und haute meinen Kopf in Gedanken auf das dreckige Parkett.
Dem Instrument war nichts passiert, es war mehr die pure Situation, die mich aufgeregt hatte. Aber ernsthaft, worüber genau hatte ich mich aufgeregt? Über eine Situation, die mir nicht in den Kram passte? Vermutlich…
Im Auto drehte ich die Musik auf und hüllte mich in andächtiges Schweigen. Die Gitarre war doppelt so teuer geworden wie geplant, eine Tatsache, die auch meinen zu zahlenden Preis verdoppelte. Ich musste die Hälfte dazu zahlen, in meinem Fall 200€. Machbar, bei einem Taschengeld von 25€ im Monat. Doch irgendwie verdarb mir das alles den Spaß an dem Halbgeschenk. Zumindest im Moment. Im Auto schrieb ich eine SMS an meine dritte und letzte Freundin. Zumindest an meine letzte „beste“ Freundin. Jen. Jenny, Jennifer… ich nannte sie Jen. Wer sie Jennifer nannte wurde mit einem strafenden Blick bedacht.
„Wann soll ich morgen vorbeikommen?“, schrieb ich schlicht und ergreifend. Wenige Minuten später erhielt ich die Antwort: „Fahr am besten mit dem Zug um 11.17, ich hol dich in Au ab!“. Lächelnd packte ich das Handy in meine Hosentasche und versuchte den Rest der Fahrt zu vergessen, was geschehen war. Was half es über verschüttete Milch zu klagen? Vielmehr versuchte ich mich angestrengt auf Morgen zu freuen… und Christian aus meinem Kopf zu verbannen, ihn zu vergessen. Aber wie bereits der französische Schriftsteller Jean de la Bruyère sagte: „Jemanden vergessen wollen heißt an ihn denken“. Wie wahr.
Oh ja, mit Zitaten kann ich dienen.
Ohne meinen MP3-Player verließ ich eigentlich nie das Haus. Es sei denn ich war unter Menschen, aber heute fuhr ich allein mit dem Zug und Alleinsein bedeutete, dass man mit seinen Gedanken auf der Reise war. Und das wollte ich heute auf jeden Fall verhindern. Fee und Yuki wussten ja bereits von dem Drama, das sich in meinem Herzen abspielte. Aber Jen musste ich es natürlich auch noch auf die Nase binden. Aber zunächst, während ich im Zug sitze, hier ein paar Informationen über die dritte Freundin im Bunde:
Jen ist fünf Monate älter als ich und somit meine älteste (im Sinne vom Alter, nicht von dem Zeitpunkt aus gesehen, seit dem wir uns kennen) Freundin. Zugleich kenn ich sie erst am kürzesten. In der sechsten Klasse kam sie auf unsere Schule und somit auch in meine Klasse. Dort hatten wir keinen richtigen Draht zueinander, ich hing mit den falschen Leuten rum und vertraute den Coolen, statt den Neuen in der Klasse. Dazu sie gesagt, dass Jen in einer Patchwork-Familie lebt… sehr komplizierte Verhältnisse, die ich nicht erklären muss und will. Doch sie kam mit ihrer Stiefschwester Lisa zu uns in die Klasse. Beide eher eine ruhige Ausgabe der Spezies Mensch und daher schob ich sie ihn Gedanken gleich beiseite. Ab der siebten oder achten Klasse jedoch wurden wir gute Freund – und sind es immer noch. Sie hat (meiner Meinung nach) rotbraune Haare und hat Diabetes. Dazu ist sie vielleicht ein wenig untersetzter als der durchschnittliche Mensch, aber ich finde gerade das macht sie niedlich. Übrigens ist sie kleiner als ich. Hehe. Stolz.
„Nächste Station: Au (Sieg)“. Ich schreckte aus meinen Gedanken auf und stand von meinem Sitz auf. Ich war ein Mensch, der ständig Angst hatte zu spät zu kommen, den Zug zu verpassen oder gar die nächste Haltestation zu verpennen, obwohl der Zug nun wirklich lange genug stehen blieb. Mit anderen Worten: Ich war unsicher, als alle anderen dachten. Sogar meinen Freundinnen gegenüber überspielte ich diese Unsicherheit für gewöhnlich, obwohl diese sehr wohl wussten, dass ich lieber zu früh als zu spät los ging. Allmählich Routine… Als der Zug anhielt stieg ich aus und sah mich auf dem Gleis um. Als ich Jen erblickte rannte ich auf sie zu und schloss sie in die Arme. Übrigens hatte ich die gestern erst gekaufte Gitarre mitgenommen. Wir beide pflegten nach wie vor ein eher distanziertes Verhältnis zueinander, aber allmählich bauten wir eine gewisse Freundschaft auf… wenn auch langsam. Langsam aber stetig. Zugegeben, wir waren etwas kühl zueinander und ich behandelte das arme Ding recht rau und unvorsichtig, aber was nimmt man nicht alles in Kauf um mit mir befreundet zu sein? Ähm ja, genug geprotzt…
Jennys Mutter fuhr uns nach Hause. Ihr fragt euch sicherlich, wieso ich mit dem Zug fahren musste und Jen trotzdem auf meine Schule ging? Wen von euch wird es überraschen, dass auch ihre Eltern getrennt voneinander leben… hm? Ich erwähnte doch vorhin die Patchwork-Familie! Habt ihr etwa nicht richtig mitgelesen? Vielleicht lag es ja an mir, dass alle Eltern meiner Freundinnen getrennt lebten – oder sich trennen wollten? Natürlich. Im Moment würde ich vermutlich so gut wie alles auf mich abschieben, einfach nur um mich schlecht zu machen!
Im Auto roch es nach Hund. Ich hatte nichts gegen Tiere. Johnny habt ihr ja schon kennengelernt. Auch zu ihm habe ich ein distanziertes Verhältnis, doch das beruht eher auf der Tatsache, dass ich lieber Dusche als mich von einem Hund sauber lecken zu lassen. Doch der Geruch von Hund… das war nicht meins. Gut, dass die Fahrt nicht allzu lang war. Jennys Mutter kannte ich noch nicht lange, deshalb konnte ich sie nicht gut einschätzen. Sie nahm oft Pflegekinder bei sich auf, weshalb Jenny dauernd etwas zu erzählen hatte, wenn sie alle zwei Wochen bei ihrer Mutter gewesen war. Ansonsten, so behauptet sie, sei ihr Leben langweilig und eintönig… Bei ihrer Mutter durfte sie an den Computer, dort teilte sie sich mit ihrer Schwester und ihrem Bruder einen PC, doch das war besser als bei ihr daheim, wo sie grundsätzlich die Werktage zubrachte, in denen sie für die Schule lernen und Hausaufgaben machen musste. Daheim hatten sie begrenzte Computer- und Internetzeiten eingerichtet bekommen. Zwar hatte ich Jenny bereits angeboten das Programm zu hacken oder so… aber sie hatte dankend (und lachend, was ich gar nicht verstehen kann) abgelehnt. Und nun, liebe Eltern von Jenny – vielmehr lieber Vater von Jenny und liebe Mutter von Lisa (Jens Stiefschwester, ihr erinnert euch?): Wir leben im 21. Jahrhundert, in der Schule gibt es Laptopklassen und Computerräume. Demnach auch sehr viele Präsentationen und Hausaufgaben, die am PC zu erledigen sind. Wo bleibt da die Freizeit am Computer?
Zugegeben: Vermutlich war genau das von den Erziehungsberechtigten beabsichtigt gewesen, als sie die Sperrzeiten eingerichtet hatten… aber für jemanden wie mich, der grundsätzlich neben seinen sechs Haupthobbys (Singen, Lesen, Schreiben, RPG’n, Gitarre und Theater spielen), die allesamt sehr zeitaufwendig waren, nur am PC saß, der verstand so was vermutlich nicht. Übrigens: RPG’n bedeutet in meinen Hobbys: Forenrollenspiele. Wer nicht weiß, was das ist, der soll es googeln.
Bei Jenny daheim angekommen verdrückten wir uns direkt in ihr Zimmer (wir mussten über Shiva, den Hund steigen… ein sehr großer Hund…), denn während der Fahrt wollte ich ganz sicher nicht über die Beziehungsprobleme einer Jugendlichen wie mir reden. Und ganz sicher nicht vor den Ohren ihrer Mutter, die dann gerne mitsprach. In Jennys Gegenwart hatte sie mal gesagt: „Im Fernsehen läuft ein toller Liebesfilm, wenn du die erste Liebe schon nicht selbst erlebst, kannst du sie dir ja wenigstens ansehen!“. Ja, sonst sind die Eltern meiner Freunde ganz gewöhnlich, aber so sind Eltern nun mal. Vermutlich werden Yuki, Fee, Jen und ich später ganz genau so sein. Nur werden wir Anti-Aging Cremes haben, mit denen wir einfach toller und hübscher sein werden als unsere Eltern. Und wenn wir alt sind wird es ein Produkt geben, das Haarausfall verhindert! So müssen die Väter unserer zukünftigen Kinder nicht die Haare von hinten nach vorne über die kahle Stelle auf ihrem Kopf kämmen… ihr wisst sicher was ich meine… Ach ja, zukünftige Kinder!
Ich hatte mich auf Jennys Bett gesetzt, sie auf ihren Schreibtischstuhl und hatte begonnen zu erzählen: „Ich hab ihn eben gefragt, ob er jetzt was von mir will oder nicht“, sagte ich sachlich. „Und er meinte: Nein, ich will im Moment keine Beziehung… und nachdem ich ihn ausgequetscht hab, hat er mir auch gesagt wieso“. Dann schwieg ich und Jen bedeutete mit weiter zu erzählen. Ich grinste verschlagen und spannte sie nicht länger auf die Folter. Ganz egal ob dieses Interesse geheuchelt war oder nicht – es gab mir wenigstens das Gefühl, wichtig zu sein. „Seine letzte Freundin hat sich wohl nach einem Jahr von ihm getrennt oder so und das hat ihn halt sehr verletzt… aber… naja dann hab ich gefragt: Was wäre denn, wenn sie nicht gewesen wäre“. Nun wirkte sie wirklich interessiert und ich sah sie hoffnungsvoll an. „Er nur so: Es soll ja das Größte für euch Mädchen sein, wenn ihr euch das fantasieren könnt“, ich lächelte milde. Jenny seufzte hörbar. „Was für ein Arsch, der soll sagen was er von dir denkt!“. Ich grinste und nickte. Ja, das sollte er wirklich. „Aber ich glaube schon, dass er dich eigentlich mag. Nur kann er halt noch nicht, weil er erst mal sein Herz wieder zusammenflicken muss“. Ich hob eine Augenbraue, hatte da jemand zu viele Liebesromanzen gesehen? „Jaaa…“, erwiderte ich langatmig und meine Augenbrauen wanderten beide noch weiter nach oben. Und weiter, und weiter… schließlich verließen sie mein Gesicht und stupsten die Zimmerdecke an… huch, nein, das geht zu weit. Meine Freundin kratzte sich verlegen am Kopf und sah mich schief grinsend an. „Aber sonst geht’s?“, fragte ich und ließ die Augenbrauen wieder sinken. „Ich meine, er braucht Zeit“, berichtigte Jen ihre kitschige Ausdrucksweise. Zufrieden nickte ich. Zumindest halb zufrieden. „Oh ja, du weißt ja wie geduldig ich bin“, meinte ich gequält und sah sie zweifelnd an. Sie setzte sich neben mich und klopfte mir auf die Schulter. „Du schaffst das schon“.
Plötzlich ging die Zimmertür auf und ein kleiner, blonder Junge, sowie ein braunhaariges Mädchen, das so groß war wie Jenny stürzten hinein. Jen teilte sich ein Zimmer mit ihren beiden Geschwistern, das war also völlig normal.
Nach einem Rundgang durch das frisch renovierte Haus, in dem zuvor ein Fliesenleger gewohnt hatte (im Badezimmer hatte er offenbar Resteverwertung gespielt), saßen wir im Wohnzimmer auf dem Boden und unterhielten uns.
- „Ich kenn deine Eltern ja nicht, aber ich glaub die sind echt locker“, meinte Caro, Jennys Schwester staunend, nachdem ich erzählt hatte, dass ich stundenlang vorm Computer sitzen durfte.
- „Sind sie, glaub mir!“, bestätigte Jenny.
- „Ich mag Kekse!“, sagte Juli. Sehr produktiver Beitrag zum Thema.
- „Na, wenn ihr meint“, sagte ich schlicht und sah sie zweifelnd an. Beide nickten zustimmend und auch Juli, der meiner Meinung nach nicht wirklich etwas verstand nickte eifrig.
- „Also ich kenn ja deinen Vater und deine Mutter. Dein Vater ist voll nett aber ich weiß nicht, deine Mutter ist bescheuert, die ist immer so komisch“, sagte ich lachend und alle anderen lachten hysterisch… merkwürdig, was war denn lo-
- „Wollt ihr was trinken?“, fragte Jennys Mutter, die soeben den Raum betreten hatte. Aus irgendeinem Grund wusste ich, dass sie gerade genau mitbekommen hatte, was ich zuvor sagte und deshalb schlug ich mir beide Hände vors Gesicht und wollte im Erdboden versinken. Ich saß mit dem Rücken zur Tür… wie hätte ich das wissen können? Jenny, Caro und Juli, der Kekse verlangte, bedachte ich mit einem Blick der sagte: „Könnt ihr mich nicht warnen?“, ehe ich mich umdrehte und gequält lächelte. „Sorry…?“, versuchte ich, doch Jennys Mutter lächelte nur und sagte: „Ach was, du entschuldigst dich einfach gleich richtig und sagt was du falsch gemacht hast und dann ist alles wieder okay“.
Ich schüttelte Jenny und Caro abwechselnd an den Schultern: „Argh. Ich – kann – nie – wieder – herkommen!“, meinte ich. Juli wollte ich nicht durchschütteln. Der krümelte. Entschuldigend sahen beide mich an, doch ich hätte lieber den Fußboden geschrubbt, als mich bei Jennys Mutter zu entschuldigen. Was sie verlangte klang wie eine Rede, die ich vorzubereiten hatte – bis zum Abendessen! Oh ja, sie hatte sogar eine Frist gesetzt! Und danach würde ich den Krokodilen zum Fraß vorgeworfen werden… „Halt nein, erst würde ich in eine bodenlose Schlucht geworfen werden, die mit Wasser gefüllt wird und dann…“ – Jenny unterbrach mich: „Eine bodenlose Schlucht kann man nicht mit Wasser füllen und was redest du überhaupt?“, fragte sie kichernd. Ich wurde augenblicklich rot. „Hab ich das laut gesagt?“, fragte ich und Caro und Jenny nickten zustimmend. „Keks?“, fragte Juli. Doch ich stöhnte nur verzweifelt.
Bis zum Abendessen überlegte ich mir genau, was ich sagen würde. Normalerweise galt ich, wenn ich mit Jenny beispielsweise eine Präsentation für die Schule vorbereitete, als das Formulierungstalent. Heute fehlte mir der Grundwortschatz meines Vokabulars. Alles war völlig ausgelöscht und ich fragte mich, wie ich Jennys Mutter je wieder unter die Augen treten sollte.
„Es tut mir Leid, dass ich das Wort „bescheuert“ benutzt habe, das rutscht einem schon mal so raus, wenn man unter Gleichaltrigen“…und Keksfressern… „ist“, endete ich. Dann fügte ich hastig hinzu: „Ich meinte eher: Anders“. Ich versuchte selbstbewusst zu lächeln und erstaunlicherweise klappte das ganz gut. Offenbar konnte ich doch ganz gut schauspielern, denn eigentlich fühlte ich mich besch… bescheiden. Nachdem das geklärt war und Jennys Mutter noch irgendetwas sagte, machte ich mich über das Essen her. Ich wollte nur noch weg und zwar unter die Erde, so weit wie möglich!
Nach dem Essen verdrückten wir uns sofort wieder in Jennys, Caros und das Zimmer des Krümelmonsters. Dort spielte ich noch etwas auf der Gitarre und trällerte ein wenig vor mich hin. Ich traute mich zu singen, ja, aber ob es gut klang oder nicht, das wusste ich nicht. Schlecht war es nicht, aber vermutlich auch nicht überwältigend. Ne Gesangskarriere starten würde ich damit nicht.
Die Zugfahrt nach Hause bestritt ich ohne MP3-Player. Ich hatte ihn irgendwo in meiner Gitarrentasche verstaut und nicht das Bedürfnis ihn raus zu holen. Stattdessen schickte ich meine Gedanken auf eine Reise, die ins Nichts führte. Mein Leben war ein einziger Fettnäpfchenwettlauf. Eine Panne nach der anderen und lauter Steine, die mir in den Weg gelegt wurden – die meisten von mir selber. Auch wenn ich nur zu gerne nach der Devise leben würde: „Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man etwas Schönes bauen!“ Es klappte nicht. Stattdessen machte ich einen Fehler nach dem anderen. Hielt es für selbstverständlich, dass mir die Liebe in den Schoß fiel, achtete nicht auf das, was ich sagte, hatte kein Bild mehr von dem was ich konnte und was nicht… und im Grunde genommen lebte ich nicht das Bild, das andere von mir hatten. Nach außen hin war ich die selbstbewusste, starke Mary, die vor Kreativität und Einfallsreichtum nur so sprühte. Doch momentan fühlte ich mich leer. Freundinnen, die getröstet werden wollten, und die das allemal verdient hatten, denn sie waren die besten Freunde der Welt, die ich eigentlich gar nicht verdient hatte. Und in Wirklichkeit konnte ich nicht trösten, ich versuche es nur, so wie ich alles versuche und schaffe vielleicht viel. Doch alles nur halb. Ich bringe nie etwas zu Ende. Es fällt mir schwer mit Dingen anzufangen…
Angestrengt versuchte ich das Wirrwarr in meinem Kopf zu ordnen und strukturiert zu denken. Wer war ich überhaupt? Was war ich? Was machte mich überhaupt aus?
Zuhause an meinem Computer setzte ich mich an die Tastatur. „Wer bin ich eigentlich? Ich versuche momentan zu leben, wie es Albert Einstein bereits sagte: „Die Vergangenheit interessiert mich nicht, viel mehr interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben!“. Doch das klappt nicht… Nicht wirklich. Ich denke ich bin wie so manch einer auf der Suche nach dem eigenen Ich. Aber was kann ich schon? Ich bin mies im Mitfühlen mit anderen, wahnsinnig ungeduldig und meistens viel zu laut. Außerdem sage ich jedem die Meinung, immer und überall, ob das nun angebracht ist oder nicht. Und ganz abgesehen davon, ob es den oder die Betroffene interessiert. Meine Toleranzgrenze ist im Gegensatz dazu verdammt niedrig und ich kann ganz schlecht einstecken… dazu nerve ich sicherlich alle mit meinen Gefühlsschwankungen – auch wenn ich es ja auf meine Hormone abschieben kann. Ich versuche alles durchzusetzen, was ich für richtig halte und lasse mich nur schwer von anderen Meinungen überzeugen. Außerdem bin ich stinkfaul, kommandiere sogar meine Freundinnen unbewusst herum und... was logisches Denken angeht bin ich total untalentiert. Ich kann mit Physik, Chemie und Mathe nicht anfangen, hirnlose Ballerspiele find ich aber genauso doof (wobei, zugegeben: Ein mittelgroßer Prozentsatz der Amokläufer spielen Ballerspiele, 100% essen Brot!). Ich kann Kletten nicht leiden, also Menschen, die einem ständig hinterherlaufen. Ich sehe es als selbstverständlich an, sich nicht unterdrücken zu lassen und nach dem eigenen, freien Willen zu leben. Ach ja, Menschen die Dauerzocker sind und Menschen die stundenlang vorm Spiegel stehen (gut: Eine Stunde: Okay. Zwei Stunden: Im Rahmen. Aber bei Eitelkeit hört meine Geduld wirklich auf!).
Und ich hasse Kaffee…“.
Ich seufzte und rieb mir die Schläfen. Das war anstrengender als ich dachte, aber es schaffte neben der Depressivität auch ein wenig Klarheit. Mein Leben war wirklich weit über den Rand des Abgrunds hinaus gelaufen. Ich schüttelte den Kopf und tippte weiter. Wozu? Schreiben half mir immer, mein Leben zu ordnen. Meistens waren es Gedichte oder Geschichten, aber keine Selbstbiografien. Heute machte ich eben eine Ausnahme.
„Eigentlich bin ich sehr unsicher und trotzdem selbstbewusst. Es kommt auf die Situation an. Zu 100% sicher bin ich mir nie, egal ob es um etwas geht, was ich gut kann oder nicht. Ich habe ständig Angst davor etwas falsch zu machen, obwohl ich kein Perfektionist bin“.
Fertig. Das war ich also. Ein Faulpelz, ein Nichtsnutz. Grandios.
Genervt schaltete ich meinen Computer aus und speicherte das Dokument irgendwo in den Tiefen meines PCs ab. Vermutlich würde es mir nie wieder über den Weg laufen. Bevor ich den PC jedoch herunterfuhr begegnete mir eine Datei auf meinem Desktop: „Bitte ausdrucken und verteilen“. Wütend beförderte ich die Datei in den Papierkorb und entleerte diesen gleich darauf. Ich wollte irgendwo gegen schlagen und bereute zutiefst, dass ich meinen Weihnachtswunsch nach einem Boxsack nicht durchgesetzt hatte.
Es war erst zehn Uhr und in den Ferien wagte ich es nicht vor zwölf ins Bett zu gehen. Dafür schlief ich auch bis in den Vormittag hinein, doch das kümmerte in meiner Familie eigentlich niemanden. Entgegen meiner eigentlichen Devise legte ich mich dennoch ins Bett, nachdem ich mir nicht die Zähne geputzt, aber einen Schlafanzug angezogen hatte. Auch auf eine Zahnspange hatte ich heute keine Lust, deshalb schlief auch die heute unter meinem Kopfkissen.
Ich döste ein und war dann nach scheinbar wenigen Sekunden wieder hellwach. Kerzengerade saß ich im Bett und sah mich erschrocken um. Die Dunkelheit um mich herum wirkte schwer und machte mich irgendwie träge. Doch ich spürte die Anwesenheit von irgendetwas. Und eine Art Drang. Drang irgendetwas klar zu stellen. Einen Augenblick später war ich der festen Überzeugung, das etwas in meinem Zimmer war. Nicht Materielles, mehr ein Wunsch, ja, nahezu ein Verlangen, das eine Form annahm, die nur ich spürte. In meinem Fall war das Ganze ein Geschöpf meiner Fantasie mit zwei Flügeln auf dem Rücken, die ich nicht sah, von denen ich aber dennoch der festen Überzeugung war, dass sie da waren. Doch in Wahrheit war mein Zimmer leer und alles was existierte war die Aura, die meine Fantasie erschuf, und mir sagte, dass jemand da war. Ein Engel. Mein Beschützer.
„Du bist wütend. Und allein. Du wünschst dir, die beste von allen sein zu können. Keine Lehrer, keine Eltern. Die Welt kann niemandem mehr weniger bedeuten als dir. Am liebsten würdest du alles alleine bestreiten – aber nachts, wenn du allein zu Haus bist. Dann weinst du“. Der Engel streckte seine Hand aus, obwohl ich sie nicht richtig sah. Es war mehr wie etwas, von dem man wusste, dass es da war, man es aber nicht erkennen konnte. Man spürte es nur, aber ich meinte es auch sehen zu können. Er reichte mir eine Hand, eine unbeschreibliche Hand. Sie hatte keine Form, so wie der Engel kein Gesicht hatte. Ich wusste nicht, ob er männlich oder weiblich war und ob Engel überhaupt ein Gesicht hatten. „Tiefer kann ich nicht mehr sinken“, gab ich zu, doch der Engel bedeutete mir zu schweigen. Ich weiß nicht wie er es tat, doch ich verstand die unsichtbare Geste und behielt meine depressiven Gedanken für mich. Stattdessen tat ich etwas anderes… Ich nahm seine Hand, zumindest glaubte ich das, und fühlte auf einmal, wie mich tausend Bilder übermannten. Bilder aus meinem Leben. Schreckliche Bilder, peinliche, wie auch traurige Momente. Doch der Engel sprach unbeeinruckt weiter. „Du lächelst, aber in Wirklichkeit geht’s dir mies“, ich meinte eine Art Lachen zu hören. „Ach ja, diesen Trick kenn ich nur zu gut!“. Dann schwieg der Engel und die Worte wirkten allmählich. Ich hörte auf zu weinen und die Bilder verschwanden, sodass ich wieder die Schwärze meines Zimmers um mich herum wahrnahm. „Du wirst dich nicht immer so schlecht fühlen, das verspreche ich dir. Es gibt so viele… so viele Dinge, die du tun möchtest. Gib nicht auf!“, flüsterte der Engel und ich blinzelte monoton, als könnte ich so die Nacht vertreiben. „Versuch nicht jetzt schon groß, stark und erwachsen zu werden. Gib dir einfach noch ein wenig Zeit!“. Doch ich wollte nicht warten. Energisch schüttelte ich den Kopf. „Das Leben besteht doch nur aus einer endlosen Warterei! Warten auf den Zug, auf das Ende der Schlange, auf die Post, auf die Nacht, aufs Frühstück, auf den Tag und letzten Endes wartest du nur noch auf den Tod!“. Darauf sagte der Engel nichts, doch ich spürte seine Anwesenheit noch immer. Meine Stimme hatte sich beinahe überschlagen bei diesen Worten, doch jetzt beruhigte ich mich wieder und sagte mit zittriger Stimme: „Ich bin ungeduldig, kein ruhiger Mensch, der warten kann. Was, wenn ich das Warten überspringen will?“, fragte ich leise. „Dann stirbst du“, sagte der Engel reserviert und ich nickte in die bedrückende Dunkelheit hinein. „Aber das willst du nicht wirklich“, fügte er hinzu und ich hörte aus seinen Worten heraus, dass er lächelte. Ich hörte abrupt auf zu nicken. „Du lebst vielleicht gerade einen schrecklichen Albtraum, obwohl du nicht schläfst, aber im Grunde genommen könntest du jederzeit aufwachen, indem du stirbst. Ja. Aber nein, das willst du nicht. Verlier nicht den Willen, du hast ein starkes Herz, aber du brauchst jemanden, der dich daran erinnert, dass du eine Kämpferin bist“. In diesem Moment hätte ich schwöre können, dass mir jemand sachte gegen die Stirn tippte… „Also, wie wäre es wenn du dich selbst daran erinnerst? Ansonsten schau ich demnächst mal öfter vorbei!“, versprach der Engel. Und dann verschwand er. Vielmehr verschwand das Gefühl. Dieses angenehme Kribbeln auf meiner Haut. Vielmehr das Gefühl, das man hat, wenn man hat, wenn jemand anders im Raum ist, man ihn aber nicht sehen kann.
Heute ist mir klar. Es war kein Engel, der da mit mir gesprochen hat…
Das war ich selber.
Man selbst weiß doch immer am besten, wie man sich fühlt. Das kann einem kein Arzt der Welt besser sagen als man selber, auch kein übernatürliches Wesen wie ein Engel kann dich selber durchschauen. Das kannst nur du selber!
Es war vier Uhr morgens als ich meinen PC anschaltete und erstaunlicherweise sofort das Dokument fand, das ich vor wenigen Stunden geschlossen hatte. Ich rieb mir die Müdigkeit aus den Augen und tippte weiter. „Aber ich habe auch positive Seiten. Ich bin verantwortungsvoll, bewahre auch in heiklen Situationen meist einen kühlen Kopf – zumindest wenn sie mir nicht weltfremd sind. Ich kann sagen, was ich denke und was mir gerade durch den Kopf geht. Zudem finde ich meist die richtigen Worte um mich auszudrücken. Von meinem Selbstbewusstsein bin ich meist überzeugt und ich weiß, was ich kann (auch wenn ich dazu neige mich selbst in schlechtes Licht zu rücken). Ich hab eine musikalische und sprachliche Ader, spiele gern jemand anderen und kann gut diskutieren (wenn auch nicht mit Eltern, da stelle ich spontan auf Verweigerung). Man kann mit mir reden, wenn man ein Problem (mit mir) hat und mir fällt nicht selten ein Zitat einer berühmten Person ein – damit schlage ich gerne um mich. Ich bin treu und mache mir selbst ein Bild von einer Person, anstatt mit dem Wissen anderer zu urteilen“.
Je länger ich schrieb desto öfter musste ich lächeln. Was angeberisch klang, das war nichts als die reine Wahrheit, wobei ich zugeben musste, dass ich in meinem Leben nicht selten auf dem schmalen Grad zwischen Selbstbewusstsein und Arroganz balancierte. Und beim Balancieren rutschte man ja bekanntlich auch mal ab. Unermüdlich – denn müder als ich ohnehin schon war konnte man gar nicht werden – tippte ich weiter.
„Oft fange ich im Unterricht plötzlich an zu singen… oder unter der Dusche, auf der Straße und im Wartezimmer. Ohne MP3-Player geh ich nie aus dem Haus! Außerdem brauch ich immer ein wenig Stress, denn ich mag einen voll geplanten Tag. Ich spiele gerne Gitarre, schreibe Gedichte, Geschichten und Forenrollenspiele. Weiterhin les ich gerne (Fantasy, Romane, Krimis). In der Schule sind meine Lieblingsfächer Deutsch, Musik, Französisch und Englisch. Die beherrsche ich auch einigermaßen“.
So, Mary. Und wer bist du jetzt eigentlich?
„Ich bin nicht das sensibelste Wesen auf Erden, aber bei trauriger Musik und traurigen Filmen kuschele ich gern mit meinem Kissen (wen anders hab ich ja nicht, wer sich erinnert: ich wurde kürzlich abserviert) und fang an zu heulen. Wenn ich Musik höre, Apfelschorle, Rockstar oder Cola trinke, dann geh ich auch mal ein
wenig ab... ein wenig mehr als andere, irgendwie reagier ich empfindlich auf Koffein... (Yuki möchte ich jetzt nicht unbedingt als Vergleich nennen, die reagiert überempfindlich). Ich bin ein von Natur aus lebensfroher Mensch. Ich bin weder optimistisch, noch pessimistisch, sondern ein vollkommener Realist, der die Dinge
so nimmt, wie sie kommen. Ich lache vielleicht ein wenig mehr als andere und bin ansonsten ein ewig lachender Mensch“.
Meistens. Es sei denn es geht mir beschissen. Doch auch im Moment lächelte ich erstaunlicherweise. Ich lächelte, zuversichtlich. Zuversichtlich, dass sich irgendetwas verändern würde!
Diesmal schaltete ich den Computer mit einem guten Gefühl aus. Dem Gefühl, dass ich etwas verändern konnte, wenn ich nur wollte. Und ich wollte. Ich wollte eine Veränderung, mehr als alles andere. Wenn das auch nur annähernd so leicht geworden wäre, wie ich dachte, dann wäre diese Geschichte nicht mal annähernd der Rede wert gewesen…