Beschreibung
Holger verkauft Versicherungen und repariert Gebrauchtwagen - aber nicht mehr heute. Für heute ist Feierabend. Noch n Bier?
„Noch 'n Bier?“ „Wie spät isses denn überhaupt?“ Holger blickte zum Handgelenk, an dem seine protzige Armbanduhr wie immer durch Abwesenheit glänzte. „Muß fünf durch sein. Vorhin wars halb, und das ist schon was her.“ „Na dann steh ich ja zu recht hier.“ Günthers präzise Zeiteinschätzung reichte Holger aus, um für heute seine Arbeit einzustellen. Er lehnte an dem halbverfallenen Feuerwehrwagen, das alte Ölfass verbrannte treu und brav die lästigen Abfälle, die sich in der letzten Zeit angesammelt hatten. Das Feuer im Auge zu behalten und dabei noch das eine oder andere Bierchen zu öffnen, das sollte Holgers Beschäftigung für die nächsten Stunden sein.
Viel hatte sich aber auch den Tag über nicht ereignet. Waclaw hatte fast den ganzen Tag die Hebebühne in Beschlag genommen, um dringende Reparaturen am Auto seines Schwagers durchzuführen. Deswegen war auch der kaputte Astra noch da. Eigentlich hatte Holger heute den Motorwechsel in Angriff nehmen wollen, damit die Nervensäge, der dieser wertlose Müllhaufen gehörte, nicht mehr stündlich zum Telefon greifen und nach dem Stand der Reparatur fragen musste. Schon mittags hatte Holger ihm ausführlich erklärt, daß das heute nichts mehr werden würde. Der Rücken. Zwecklos. Wieder tönte das schrille Klingeln über den gesamten Platz. Holger schaute kurz zu seinem dreckigen, etwas antiquierten Mobiltelefon. „Ach, scheiss drauf“, beschloß er dann, das Gespräch nicht mehr anzunehmen. Es schrillte noch neunmal, dann gab das Telefon Ruhe. Holger nickte zufrieden, hob die Bierflasche und prostete Günther zu, der bewegungslos auf der verblichenen Motorhaube des alten Passat saß. „Feierabend!“ Minutenlang schwiegen er und Günther sich an, bis vorne am Tor ein Motorengeräusch zu hören war. „Auspuff“, diagnostizierte Günther auf fünfzig Meter Entfernung das Problem des gerade eintreffenden Fahrzeugs. Holger reagierte kaum, nickte nur leicht. Ungerührt, aber keineswegs uninteressiert wartete er ab, bis die Fahrerin des Letzthand-Fiesta das Gelände betrat und auf ihn und Günther zusteuerte. Die abschätzenden Blicke und die zweideutigen Kommentare, die Holger und Günther ihr entgegenwarfen, waren für die attraktive junge Frau offenbar kein Grund, ihr Auto hier nicht zur Reparatur zu geben. Dafür zahlte man eben wenig und bekam keine zusätzlichen, sinnlosen Serviceleistungen aufgeschwatzt wie in einer „richtigen“ Werkstatt.
Eigentlich war Holgers Betrieb auch gar keine Werkstatt. „H. Köhler Gebra chtwagen u. Ve sicher ngen“ kündete das alte zerbrochene Schild am Tor lückenhaft von den hier zu erwartenden Angeboten. Gebrauchtwagen war dabei ein durchaus dehnbarer Begriff. Der geneigte Jahreswagenkäufer bezeichnete Holgers Fahrzeugangebot wohl eher als Schrott, als Müll, als wertlosen, bitteschön umweltgerecht zu entsorgenden Abfall. Diverse Exporthändler sahen das anders. Sie kauften meist im Dutzend Holgers Verbrauchtwagen. Und Fahranfänger waren immer froh, hier fahrbereite Kleinwagen zu finden, bei denen es nicht so schlimm war, wenn sie mal hier und da eine Macke in den strapazierten Lack fuhren. So wie Sarahs Fiesta. Der burgundrote Kleinwagen hatte sicher schon bessere Zeiten gesehen, dafür war er billig und fuhr. Meistens. Und wenn mal was war, stellte sie Holger den Wagen auf den Hof, gab den Schlüssel ab und konnte ihn meist am nächsten Tag wieder abholen. „Auspuff ist ab“, ergänzte sie jetzt Günthers Feststellung und überreichte Holger ihren gesamten Schlüsselbund, inklusive Diddlmaus. „Morgen?“ erkundigte sie sich pro forma nach dem Zeitpunkt der Fertigstellung. Holger zuckte mit den Schultern. „Der Astra muß noch fertigwerden“, erklärte er ihr seine Terminplanung für den kommenden Tag, während er den Fiestaschlüssel von seinen Artgenossen trennte und Sarah ihre Wohnungsschlüssel zurückgab. Mit einem Lächeln verließ sie das Gelände. Sie wußte, wenn sie morgen wiederkäme, dann wäre der Auspuff geschweißt, der Fiesta wieder flüsterleise und der Astra würde noch immer am selben Platz stehen wie jetzt.
Holger schlufte zu der Holzhütte, die die Funktion seines Büros übernommen hatte, legte den Fiestaschlüssel auf den mit Gerümpel übersäten Schreibtisch und nahm zwei neue Bierflaschen aus dem alten Kühlschrank. Auf dem Rückweg machte er Halt bei Waclav, der inzwischen auch seine Arbeit beendet hatte und gerade den Volvo mit polnischer Zulassung aus der kleinen Halle führ. „Morgen müssen wir den Astra machen“. „Ach“, winkte Waclav ab und bekundete mit dieser Handbewegung seine große Sympathie für den Besitzer des schrottreifen Opel. „Ich dachte, du wolltest Golf für TÜV machen?“ „Ach ja, der Golf. Hab ich ja extra nen Termin für. Muß der Scheissastra eben weiter warten“, beschloss Holger, öffnete die Flaschen und reichte eine Waclav. Wortlos leerten sie die 0,5 Liter-Gebinde Gerstensaft. Dann fuhr Waclav nach Hause und Holger durchsuchte seine Taschen nach dem Fiestaschlüssel.
Gegen neun war das Ölfass leergebrannt und Holgers fünfte oder sechste Flasche geleert. Im Büro fand er den Schlüssel zu Sarahs Kleinwagen, parkte diesen vor der Hebebühne und verschloß dann das große Tor mit einer schweren Stahlkette. "So, morgen erst den Fiestaauspuff schweissen, dann mit dem Golf zum TÜV. Den Astra kann Waclav übermorgen machen. Oder nächste Woche.
Für heute ist Feierabend."