Kurzgeschichte
Riss in der Mattscheibe

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"Riss in der Mattscheibe"
Veröffentlicht am 11. August 2009, 12 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Riss in der Mattscheibe

Riss in der Mattscheibe

Riss in der Mattscheibe 

Viele Menschen finden irgendwann in ihrem Leben etwas, das sie fesselt und so schnell nicht mehr los lässt. Das kann etwas ganz Banales sein. Modellschiffe zum Beispiel, Autos im Allgemeinen vielleicht oder diese kleinen putzigen Hummelfiguren, die bei nicht wenigen Menschen Angstzustände und Ekelgefühle hervorrufen. Manche Menschen driften ab und landen mit ihren Neigungen auf Pfaden, die zwar noch nicht so ausgetreten, doch dafür dunkel und gefährlich sind. Sodomie, Inzest, Nekrophilie. Gerade wenn es um Sex geht, werden diese Pfade immer dunkler und gefährlicher. Und dann gibt es natürlich auch noch Gewaltverbrecher. Menschen die einmal gemordet haben und dabei festgestellt haben, dass Mord genau ihr Ding ist. Oder Menschen, die sich ihren Kick beim Stehlen oder Einbrechen holen. Bei einer Vergewaltigung vielleicht. Wenn man genauer darüber nachdenkt, was so alles in diesem Füllhorn ungeahnter Möglichkeiten herumschwimmt, kommt einem Patrick Friedrichs Obsession regelrecht langweilig und spießig vor. 

Hey Pal!
war vor etwa fünf Jahren gestartet und hatte trotz mäßiger Quoten eine stabile, treue Fangemeinde gefunden. Die Serie war eine krude Mischung aus Friends und Reich und Schön, Kritiker rollten mit den Augen wenn sie ihren Namen hörten und kaum jemand wagte öffentlich zuzugeben, dass er sie regelmäßig sah.  Unserem Patrick konnte dies ziemlich egal sein. Er hatte keine Freunde vor denen er sich dafür schämen musste, dass er der mit Abstand größte Fan war, der je seinen Arsch in einen Fernsehsessel platziert hatte. Die einzigen Freunde die er noch hatte waren Stella, Ted, Rupert, Mia und all die anderen Mitglieder von Hey Pal!
 
Patrick konnte sich selbst nicht erklären was ihn so an dieser Show faszinierte. Aber kann ein fanatischer Sammler genau erklären, warum es unbedingt Kühlschrankmagneten oder Bierdeckel sein müssen? Kann ein junges Mädchen anderen wirklich verständlich machen, warum sie gerade auf diese und nicht auf jene Boyband steht? Ein verheirateter Geschäftsmann, warum er sich auf fingierten Geschäftsreisen regelmäßig an kleinen asiatischen Jungs vergeht? Nein! Und vielleicht ist das der Grund warum unsere Obsessionen so faszinieren. Sie sind so greifbar wie Tiefseefische. Sobald wir sie an die Oberfläche ziehen, zerplatzen sie. 

Sein Handy klingelte, Patrick hob ab. Er wusste, dass sie es war. 
 „Stella?“ 
 „Wer ist Stella?“ Es war die Stimme seiner Mutter, die ihn das fragte. Sie klang überrascht und amüsiert. 
 „Ach niemand, ich bin gerade erst aufgewacht.“ Patrick log, er hatte nicht geschlafen, sondern nur seinen Tagträumen hinterher gehechelt, wie ein dreibeiniger Hund seinem Herrchen. Seine Mutter bohrte weiter, sie wollte unbedingt wissen, wer Stella war. Sie war ein neugieriges Ding. 
 „Wirklich niemand, Mama. Ich hab bloß geträumt.“ Er gähnte, um zu unterstreichen, dass er geschlafen hatte. 
 „Von einer Stella? Kennst du denn jemanden mit diesem Namen?“ 
 „Ja“, log Patrick erneut. „eine alte Arbeitskollegin.“
 „Ist sie denn nett? Magst du sie?“ 
 „Kann sein. Hör mal Mama, ich muss mich fertigmachen, ich ruf dich heute Abend zurück. OK?“ Seine Mutter wollte noch was sagen, ließ es dann doch und verabschiedete sich mit einem Telefonkuss von ihm. Patrick wusste, dass die Neugierde nun den ganzen Tag an ihr nagen würde. Er legte auf und beschloss, dass es vielleicht doch keine schlechte Idee wäre, ein bisschen zu schlafen. In seinem Kopf dümpelte immer noch der Traum von letzter Nacht vor sich hin und wollte weitergeträumt werden. In der Hoffnung dort weitermachen zu können, wo er aufgehört hatte, schlief er ein und wachte erst zwei Stunden später wieder auf. Mit einem widerlichen Geschmack im Mund und einem gedämpften Gefühl im Kopf. Geträumt hatte er diesmal nicht. Zumindest nicht bewusst. 

Hey Pal
! hatte Sommerpause, die neuen Folgen (jeden Montag um 18:30 Uhr!) würden erst im Herbst laufen. Aber jeden Abend um 19:00 Uhr kamen zwei Folgen Hey Pal! im Pay-TV. Wiederholungen natürlich, aber er sah sie sich trotzdem an. Nur um sie sehen zu können, hatte er vor einem halben Jahr die Bezahlsender abonniert.  Die Folgen kannte er natürlich schon in- und auswendig (schließlich hatte er sie alle auf Video und DVD). Er kannte nicht nur die Dialoge auswendig, nein er konnte sogar sagen, welche Farben die Tapeten oder die Möbel in den einzelnen Szenen hatten. Er konnte die Kleidung der Figuren beschreiben, ihre Frisuren und so weiter und so weiter. Auf jeden Außenstehenden hätten solche Kenntnisse schnell gruselig gewirkt. Aber es gab keine Außenstehenden. Es gab nur Patrick, seinen Sessel und seinen Fernseher. 
 In dieser Folge ging es darum, das Ted Stella mit Mariana, der kubanischen Putzfrau betrogen hatte und nun alles tat um Stella zurückzugewinnen. Er organisierte ein ganzes Orchester, um ihr im Park, in dem sie sich einst kennengelernt hatten, ein selbstkomponiertes Liebeslied vorzutragen.
 Patrick bewegte die Lippen zu jedem Wort mit. Ted schaffte es glücklicherweise nicht Stella umzustimmen. Als sie am Ende der Episode weinte, musste auch Patrick weinen. Fast wollte er über die Mattscheibe streicheln, als Stellas trauriges Gesicht in Großaufnahme zu sehen war.  

Schlaf… Schlaf war Patricks Kritik am Leben. Immer wenn ihm langweilig war oder irgendwas nicht passte, legte er sich schlafen. Das hatte er sich wohl in seiner Teenagerzeit angewöhnt. In den letzten Monaten schlief er sehr viel. Nicht nur, weil er nicht mehr arbeiten gehen musste, sondern auch, weil sein Schlaf meist unterhaltsamer war als sein Wachzustand.  Stella. Stella! Stella!! Anfangs hatte er an ihr nichts, aber auch gar nichts gefunden. Doch mittlerweile hatten er und sie zusammen so viel durchgemacht, dass Patrick zumindest sich selbst seine Liebe zu ihr eingestehen konnte. Sie war bei ihm, wenn er die Augen schloss und sie war immer noch da, wenn er sie wieder öffnete. Fünf Jahre lang hatte sich Stella Maxwell Stück für Stück in sein Herz geschlichen, bis sie es ganz annektiert hatte. Unzählige Male hatte er sich mit ihr mittlerweile getroffen. Am Strand, im Restaurant, auf dem Jahrmarkt. Jeden Abend hatte er sie an einen anderen Platz ausgeführt. Und diesen Abend? Er wartet auf den Schlaf, auf sie, auf sein anderes Leben… 

Im Treppenhaus roch es genauso, wie er es sich immer vorgestellt hatte. Nach dem Holz der Treppe, nach den Blumen auf der Fensterbank und ganz leicht nach Citrusreiniger. Er meinte auch ihr Parfüm riechen zu können, aber das tat er als Einbildung ab. Wie oft war er in Gedanken bereits diese Treppen hoch gegangen? Glücklicherweise hatte er das nie mitgezählt.  Im dritten Stock blieb er stehen. Maxwell stand auf einem nüchternen Schild über der Klingel. Er klingelte nicht, sondern er klopfte, auch wenn er wusste, dass die Tür nicht abgeschlossen war, denn das war sie nie. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er aus dem Inneren Schritte hören konnte. Und da stand sie plötzlich. Klein, zierlich, verletzlich. Eine seidene Schönheit mit tiefen, tiefen Augen, durch die man direkt auf ihre Seele sehen konnte, wenn man denn so lyrisch veranlagt war. Sie lächelte ihn an und bat ihn rein, was sie noch nie getan hatte. Er bekam weiche Knie. 
 Ob er einen Kaffee wolle, fragte sie, während sie durch den Flur gingen. Er antwortete nicht, stattdessen legte er seine Hand auf ihren Rücken, während sie vor ihm ging. Jetzt wollte er es tun, er wollte ihr sagen, was sie ihm bedeutete und ihr endlich seine grenzenlose Liebe gestehen. Sie drehte sich um und als er in ihre Augen sah, purzelten die Worte, die er sich zurechtgelegt hatte, wie Legosteine aus seinem Hirn, das auf einmal völlig leer zu sein schien. Diese Augen so nah zu sehen, machte Patrick total fertig. Er wollte zu sprechen beginnen, es zumindest versuchen, als er ein Geräusch aus einem der Zimmer hörte. Eine Tür öffnete sich und Ted stand plötzlich bei ihnen im Flur. Betretenes Schweigen, Patrick sah Stella an, ihr Blick hatte etwas Entschuldigendes. Ted schien zu grinsen. Jetzt hielt er es nicht mehr aus. 
 „Wie kannst du nur so dumm sein!?“ schrie er. „Er hat diese Putze gefickt und dein Herz gebrochen, verdammt noch mal!“ 
 Stella sah ihn an als hätte er den Verstand verloren. Warum mussten Frauen immer so dämlich sein, wenn es um die falschen Typen ging, fragte er sich. Ted sagte etwas, doch er hörte ihm überhaupt nicht zu. Er packte Stella mit beiden Händen an den Schultern. 
 „Du hast gesagt, dass du ihm niemals vergeben könntest! Du hast drei Wochen lang mit Selbsmordgedanken im Bett gelegen wegen diesem Wichser!“ 
 Stellas Blick wurde immer verwirrter. Sie sagte nichts und langsam wurde Patrick schwindelig.  Auf einmal sah er alles doppelt. Nicht wirklich doppelt eigentlich, denn er sah nicht dasselbe Bild zweimal, sondern viel mehr zwei Bilder, die sich zu überschneiden schienen. Zwei völlig unterschiedliche Bilder, die miteinander um die Vorherrschaft in seinem Kopf kämpften und sich gleichzeitig einander abstießen wie gleichpolige Magnete. Alles begann zu vibrieren. Stella verschwand einen Moment lang und wurde unscharf, wie ein verwackeltes Foto. Ted rief etwas, mit tief ansetzender Stimme, die plötzlich unnatürlich hoch wurde. Patricks ganze Welt war auf einmal ein verwischtes Etwas, das sich im Chaos zu sammeln versuchte.  Ein langgezogener Frauenschrei, der nicht von Stella kam, spülte sein Hirn auf einen Schlag frei und er konnte plötzlich Claudia, die Frau, die über ihm wohnte, erkennen. Bis auf ein paar Höflichkeitsfloskeln hatte Patrick nie mit ihr geredet und doch erkannte er sie sofort. Sie stand nun da, wo ein paar Sekunden zuvor noch Ted gestanden hatte. Und Stella vor ihm, war auch verschwunden. An ihrer Stelle hatte er nun Claudias 12-jährige Tochter an den Schultern gepackt. Das Mädchen sah ihn mit großen Mangaaugen an, völlig starr vor Schreck. Die nächsten fünf Jahre ihres jungen Lebens würde sie deshalb in Therapie verbringen. 
 In Gedanken hörte Patrick das Geräusch von angestoßenen Billardkugeln und Claudia und ihre Tochter verschwanden wieder so schnell, wie sie gekommen waren. Stella. Stella! Stella!! 

Hier könnte die Geschichte nun vorbei sein. Patricks Leben war es von diesem Moment an jedenfalls. Patrick war verschunden, entwischt, in das tiefe, dunkle Meer seines Unterbewusstseins eingetaucht und nie mehr nach oben gekommen. Ob er mit Stella noch einen Segelturn machte oder ob er ihr jemals seine Liebe gestehen konnte, man weiß es nicht. Was man aber weiß ist, was mit seiner sabbernden Hülle passierte. Man schickte sie selbstverständlich in eine passende Anstalt, wo man sie mit Medikamenten vollpumpte und vor dem Fernseher parkte. Es ist wohl unnötig zu erwähnen, welche Sendung die Schwestern jeden Montagabend einschalteten. Die nächsten fünfundzwanzig Jahre seines Lebens waren eine nicht enden wollende Folge Hey Pal!. Was wohl die Kritiker dazu gesagt hätten?
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