Sonnenaufgang am Ararat
Wir fahren zu zweit mit unserem Mietauto von Kars kommend Richtung Dogubayazit. Wer in diese Gegend der Osttürkei nahe der russischen Grenze kommt, besucht in der Regel den Ishak Pasa Palast und hofft, den Ararat, der in vielen Legenden eine große Rolle spielt, in seiner vollen Höhe von 5.165 Metern zu sehen. Aber leider ist er oft durch Wolken verdeckt. Auch auf Abbildungen, die ich in Reiseführern und Bildbänden bisher gesehen habe, war der Ararat im oberen Drittel meistens von Wolken umhüllt.
Umso mehr staunen wir, als wir bereits 90 km vor Dogubayazit deutlich die schneebedeckte Spitze des Ararat wolkenfrei sehen. Je näher wir kommen, desto deutlicher wird der Berg sichtbar, obwohl es dunstig ist. Die untergehende Sonne färbt den Vulkanberg von einem Orange bis zum dunklen Rot. Ein herrlicher Anblick.
Noch vor Anbruch der Dunkelheit erreichen wir den Ort und finden das nette, kleine ,Hotel Gül, in dem wir übernachten wollen. Da ich Frühaufsteher bin und eine Schwäche für Sonnenaufgänge habe, nehme ich mir vor, den Ararat am nächsten Morgen bei Sonnenaufgang zu fotografieren. Morgens ist der Berg meistens am klarsten zu sehen.
Mein Wecker klingelt um vier Uhr, noch bevor der Muezzin aus blechern klingenden Lautsprechern zum Morgengebet ruft.
Kurz vor fünf Uhr möchte ich das Hotel verlassen und erlebe gleich eine Überraschung. Die Eingangstür ist noch verschlossen. Weit und breit ist niemand vom Hotelpersonal zu sehen.
Ich taste mich im Halbdunkeln durch eine Tür und erblicke den Portier angezogen auf einer einfachen Klappliege schlafend. Sanft wecke ich ihn, so leid mir das auch tut. Er sperrt die Hoteltür auf.
Bevor ich gehe, bitte ich noch um meinen Reisepass, den ich am Abend zuvor habe abgeben müssen. Er liegt aber im Safe, und den Schlüssel hat der Portier nicht.
„Später“, meint er, „bekommen Sie ihn.“
Auf meine Frage, wie ich mich denn ausweisen solle, falls eine Polizei- oder Militärstreife mich aufhalte, meint er lächelnd: „Kein Problem.“
Ich gehe also ohne Ausweis aus dem Hotel. Ein komisches Gefühl habe ich schon im Bauch, so mitten im Kurdengebiet, denn nachts sollte man diese Gebiete wie man es überall lesen kann unbedingt meiden. Ich denke an so manche gut gemeinte Warnung und die ermahnenden Zeigefinger von Freunden daheim, an die vielen Zeitungsberichte aus Kurdengebieten in letzter Zeit und an die Leute, die zwar noch nie „im wilden Kurdistan“ gewesen waren, aber trotzdem ihr Karl-May-Wissen loswerden wollten. Auch denke ich daran, dass ich meiner Familie versprochen habe, vorsichtig zu sein.
Trotzdem setze ich mich in mein Mietauto und fahre allein los. An der Hauptstraße biege ich rechts ab und fahre stadtauswärts. Noch kein Licht brennt im Ort. Völlige Dunkelheit, nicht einmal eine beleuchtete Straßenlaterne. Absolute Stille um diese Zeit.
Ich fahre etwa fünf Minuten, bis ich ein nettes Plätzchen ohne störenden Vordergrund mit schönem Blick auf den Ararat finde. Das Auto parke ich am Straßenrand. Es wird wohl noch einige Minuten dauern, bis die Sonne aufgeht. Ich drehe am Knopf des Autoradios und nach langem Suchen und Rauschen empfange ich schwach einen russischen Sender. Kommentare und Volksmusik wechseln sich ab.
Plötzlich blenden mich im Rückspiegel zwei Lichter, die sich langsam nähern. Ein Polizeiauto? Ich schalte vorsichtshalber das Radio aus.
Das Auto hält neben mir. Ein Soldat steigt aus und spricht mich auf türkisch an. Ich verstehe kein Wort und antworte: „Merhaba, Alman, Hotel Gül“ (Hallo, bin Deutscher, Hotel Gül). Dann deute ich auf meinen Fotoapparat und auf den Ararat. Diese Antwort genügt ihm. Sein Beifahrer bleibt im Auto sitzen.
Der Soldat versucht, ein Gespräch mit mir auf türkisch und ein wenig englisch zu führen. Zum Schluss kapiere ich, dass ich an dieser Stelle nicht parken darf, da sich rechts neben der Straße ein Militärgebiet befindet. So fahre ich notgedrungen einige Kilometer weiter und halte an einer Stelle, die nicht mehr so schön ist wie die erste. Die verfallenen Hütten und Zäune im Vordergrund stören mich.
Das Militärauto, das hinter mir fuhr, hält zehn Meter entfernt. Der Soldat kommt wieder zu mir. Da ich etwas Vertrauen aufbauen will, lasse ich ihn durch den Sucher meiner Kamera sehen. Das gleiche wiederholen wir mit einem Tele- und einem Weitwinkelobjektiv. Es macht dem Soldaten sichtlich Spaß, und ich habe das Gefühl, er möchte mehr mit mir sprechen, aber an der Verständigung hapert es doch zu sehr.
Mittlerweile ist auch schon die Sonne aufgegangen. Allerdings nicht so, wie ich das gerne gewollt hätte. Sie kriecht langsam über eine hügelige Gebirgskette und färbt diese in gelbe Farbtöne. Der Ararat bleibt noch grau und ist wieder, wie am Abend zuvor, dunstig, aber wolkenfrei. Nur allmählich färbt sich seine schneebedeckte Spitze rosa. In den unteren Regionen bleibt er grau. Immerhin warte ich gute zwanzig Minuten, warte auf ein Wunder, knipse aber nicht mal ein Foto, da es wirklich nichts bringen würde, und steige enttäuscht in mein Auto.
Bevor ich abfahre, winken mir die beiden Soldaten zu. Ich fahre an ihnen vorbei. Sie rufen mir „Güle Güle“ (Gute Fahrt) zu. Jetzt sehe ich auch das riesige Militärgebiet, vor dem ich nicht halten durfte und das man natürlich nicht fotografieren darf. Mindestens dreißig Panzer sind in Richtung Russland gerichtet.
Als ich ins Hotel komme, sitzen bereits drei Männer an der Rezeption und schlürfen ihren Tee. Im ersten Stock liegt mein Zimmer. Manche Türen stehen offen und ich sehe, wie iranische Fernfahrer noch in ihren Betten liegen und schlafen. Ich öffne leise meine Zimmertür und wecke durch das Knarren der Tür meine Frau. Sie fragt mich gleich, ob der Sonnenaufgang schön gewesen sei. Da sie mir um diese Zeit ohnehin nicht zuhört, antworte ich nur: „Das erzähle ich dir später, schlafe erst noch ein Stündchen!“
Diese Zeit nutze ich, um die heutige Tour im Reiseführer nachzulesen.
Während unserer mehrwöchigen Reise durch die Türkei hielten wir uns eine Woche in Kurdengebieten auf. Vor der Reise hatte ich einige Bedenken. Man hörte und las zuviel Negatives. Wir hatten aber nie Probleme mit Kurden. Ich würde jederzeit wieder zu diesen freundlichen Menschen in ihre herrliche und grandiose Landschaft fahren.
© by Hermann Bauer
Diese Geschichte ist aus dem Buch „Ein hungriger Bär tanzt nicht",
erschienen im Geest-Verlag. ISBN 3-937844-78-3
Illustration: Franziska Kuo.