Nicht jeder Geist erscheint pünktlich
Egal, von welcher Seite her man es betrachtet: Die Sache mit den Spiritisten, den Geisterbeschwörern oder wie man sie auch immer bezeichnen möchte, ein Hauch der Faszination, eine leichte Gänsehaut überkommt einem doch, wenn das Medium zum Beispiel in Trance fällt, alle Naturgesetze dabei über den Haufen wirft, um sich mit dem Jenseits in Verbindung zu setzen.
Gewiss, auch oder: besonders auf diesem Gebiet treiben Scharlatane zu Hauf ihr Unwesen.
Im Gegensatz zu Madame Vanessa.
Madame Vanessa, die dieses Metier aus dem Effeff beherrschte. Beherrschte, im wahrsten Sinne des Wortes. Denn kein Geist war quasi vor ihr sicher. Wen immer sie auch von diesen Spukgestalten ins hiesige Dasein rufen wollte, den holte sie auch herbei.
Egal, ob es sich dabei um einen prominenten Verstorbenen handelte oder um einen ziemlich unbekannten ehemaligen Mitmenschen: Wenn Madame Vanessa die Seelengeister herbeizitierte, kamen sie auch. Alle. Ausnahmslos. Und machten sich auf irgendeine Weise bemerkbar. Sei es durch Klopfen auf die runde Tischplatte zum Beispiel, oder durch eine kühle Luftbewegung, die urplötzlich durch den kleinen Raum zog, in dem Madame Vanessa im Kreis ihrer Helfer und Anhänger zelebrierte, oder wie auch immer. Und nicht selten kam es vor, dass eine neblige Gestalt urplötzlich mitten im Raum erschien, um sich mitzuteilen.
Natürlich blieb Madame Vanessas phänomenale Gabe nicht lange ein Geheimnis. Von weit her strömten die Menschen förmlich zu ihr hin, um Kontakt mit lieben Verstorbenen aufzunehmen.
Und Madame Vanessa verbuchte einen Erscheinungs-Erfolg nach dem anderen. Immer.
Immer? Nein, nicht so ganz ...
Von ihrem nahezu unheimlich zu nennenden Können hörte auch Charly Witherspoon, ein Mann aus dem Norden des Landes und seit gut einem Jahr Witwer. Auch er, der zwar nicht gerade seiner allzu lebenslustigen Gattin überschwenglich nachtrauerte, weil sie ihm zu Lebzeiten mehr Hörner aufgesetzt hatte, als es eine texanische Rinder-Großherde je zu zusammenbringen könnte, wollte dennoch etwas über ihren jenseitigen Verbleib in Erfahrung bringen. Also machte auch er sich eines schönes Tages auf den Weg, um Madame Vanessa einen Besuch abzustatten.
Die Meisterin des Übersinnlichen blickte Charly Witherspoon lange und konzentriert in die Augen. Dann schien sie bereits über sein Innerstes genauestens im Bilde zu sein:
„Sie wollen also mit Ihrer verstorbenen Gattin in Kontakt treten?“ schlußfolgerte sie scharfsinnig.
„Wenns möglich ist, ja“, beeilte der Mann sich, ihren Gedankengang zu bestätigen.
Dafür hatte Madame Vanessa lediglich ein schwaches, aber vertrauliches Lächeln übrig.
Schon traf die große Okkultistin ihre Vorbereitungen: wies den Mann an, sich entspannt ihr gegenüber Platz zu nehmen und mittels Handkontakt zum links und rechts von ihm sitzenden Tischnachbarn, die im Übrigen aus gleichen Anlässen sich heute bei Madame Vanessa eingefunden hatten, den „Kreis der Konzentration“ zu schließen.
Ihren Anweisungen folgend, schob Charly Witherspoon seinen Stuhl zurecht, fasste seine Tischnachbarn links und rechts bei der Hand, und harrte der Dinge, die da kommen sollten.
Auch Madame Vanessa rückte sich zurecht, schloss danach die feinwimprigen Augenlider und schon bald zeigte sich mitten auf ihrer Stirn eine ausgeprägte Konzentrationsfalte.
Hastiger und flacher wurde ihr Atem ... immer schwächer hörbar ... und dann befand sich das höchstbegabte Medium in Trance:
„Ich rufe dich, Geist der Gladys Witherspoon, und ich befehle dir e r s c h e i n e !“
Befehlsgewohnt und irgendwie schaurig-dumpf kam es über die Lippen der Beschwörerin.
Eindringlich wiederholte sie ihren fordernden Befehl zum Erscheinen ... und ein weiteres Mal ...
Indes ohne Erfolg!
Nach weiteren Fehlversuchen kam allmählich leichte Unruhe in den Kreis der Wartenden. Aber so sehr Madame Vanessa sich auch mühte, ihren befehlenden Worten noch mehr Nachdruck zu verleihen nichts! Nichts tat sich. Kein Poltern, kein Klopfen, kein Windhauch, absolut nichts. Von einer Geistererscheinung ganz zu schweigen!
Nach langen, bangen Minuten öffnete Madame Vanessa schweißgebadet und völlig ermattet wieder ihre flatternden Augenlider:
„Das ... das begreife ich selbst nicht“, hauchte sie schwach, „ein solcher Mißerfolg war mir noch nie beschieden...“
Kraftlos und resignierend, ja direkt verzweifelt, ließ sie ihre Schultern hängen und sann darüber nach, warum sie wohl den Geist der Verstorbenen nicht hatte rufen und zu sich befehlen können.
„Vielleicht liegt es an der Uhrzeit, Madame?“ brachte Charly Witherspoon ein wenig zaghaft seinen eigenen Gedankengang hierzu hervor.
„Aber nein, mein Lieber. Ich bitte Sie!“ Madame Vanessa schüttelte ihr Haupt. „Ein Geist hat nichts mehr mit der Zeit zu tun. Am allerwenigsten mit der Uhrzeit...“
„Ich meine ja nur“, beharrte Charly auf seine Überlegung, „es ist ja auch mal knapp acht Uhr am Abend.“
„Ja? Und?“ Madame Vanessa konnte darin keine Ursache des ausgebliebenen Erfolgs erkennen.
„Tja, wissen Sie, liebe Madame Vanessa...“ Ein wenig verlegen senkte Charly Witherspoon den Kopf: „Schon zu Lebzeiten kam meine Frau nie vor Morgengrauen nach Hause ...“