Beschreibung
Vor weg möchte ich sagen, dass ich kein religiöser Mensch bin.
Die Idee zu der Geschichte kam mir, als ich darüber nachdachte, warum manche Menschen so verbittert sind. Auch sie haben ihre Geschichte.
Einst hatte Mary ein perfektes Leben, eine glückliche Familie und einen Job als Kolumneschreiberin bei einer bekannten Zeitung. Sie hatte viele Freunde, die Menschen mochten ihre Anwesenheit. Ihr Leben sollte sich für immer verändern, als sie infolge einer seltenen Krankheit ihr Augenlicht verlor. Sie wurde von Tag zu Tag unzufriedener. Keiner mochte sie mehr in der Nähe haben. Ihr damaliger Mann hatte sie verlassen, das letzte, was er zu ihr sagte, war, sie wäre ihm zu anstrengend geworden. Nur ein einziger Mensch hielt die ganze Zeit zu ihr. Vivienne. Sie hatte über all die Jahre die Nörgeleien der Mutter ertragen, liebte sie aufgrund ihrer Erinnerungen an die Kindheit. Regelmäßig kam sie zu Besuch, las ihr Bücher vor und ging mit ihr spazieren.
Eines Tages, klingelte nach langer Zeit in Marys Villa wieder das Telefon.
Im Hintergrund hörte man jauchzende Menschen. “Hallo, hier ist Vivienne. Wie geht es dir, Mama?”
“Wie soll es mir gehen, Kind? Ich lebe ja schließlich noch! Wo treibst du dich schon wieder rum?”
“Ich bin mit Michelle im Schwimmbad.”
“Du scheinst ja jede Menge Spaß zu haben!”, entgegnete Mary mit schroffem Ton.
Die Tochter hielt kurz inne, holte tief Luft, schenkte den Sticheleien keine Aufmerksamkeit.
”Ich wollte dich nur anrufen, weil ich nächste Woche ein Fotoshooting in Mailand habe. Ich freue mich schon total drauf, Italien soll so wunderschön sein. Ich würde gern noch ein paar Tage Urlaub dranhängen und ich möchte, dass du mitkommst!”
Obwohl Mary sich oft einsam fühlte, ging sie kaum raus.
“Vivienne, ich hab noch so viel zu tun. Mit deiner verrückten rothaarigen Freundin hättest du sicher viel mehr Spaß als mit mir. Ich würde dir ganz sicher nur den Urlaub verderben.”
“Du sitzt doch ständig nur zu Hause rum. Was hast du denn so Wichtiges zu tun? Bitte! Komm doch mit!”
Mary spürte einen inneren Wiederstand “Nein” zu sagen. Sie würde sowieso nur in ihrer Villa rumsitzen und mit ihrem Papagei Frederick eine Unterhaltung von Mensch zu Vogel führen. Vielleicht würde sie auch den neuen Schaukelstuhl mit Massagefunktion ausprobieren. Wie aufregend!
“Gut, ich komme mit” brummte sie in den Hörer.
“Super, ich geb dir noch bescheid, wann es genau losgeht! Das wird toll! Bis dann. Bye”, sie legte auf.
Fünf Tage später ging es nach Italien. Die ersten zwei Tage hatte Vivienne ihr Fotoshooting und kaum Zeit für ihre Mutter. Mary verbrachte also die Tage allein im Hotel und tyrannisierte das Personal. Leute schikanieren konnte sie schließlich am besten.
Am Abend kam Vivienne müde und abgekämpft von ihrem Fotoshooting zurück.
“Mama, die Managerin vom Hotel hat mich gerade angesprochen, weil du ihnen einfach keine Ruhe lässt. Du bist doch hier nicht der einzige Gast. Warum tust du immer solche Sachen?“
Mary konnte ihre Empörung nicht verbergen. “Was für eine Frechheit! Dieses mittelklassige Hotel! Ich rufe jetzt da unten an!”
“Bitte nicht! Ist doch egal! Wir fliegen morgen nach Neapel. Ich hab uns dort schon zwei Nächte im Hotel buchen lassen.” Vivienne nahm die Dinge wie immer gelassen.
“Fliegen? Warum willst du mir das zumuten? Wir können doch auch hier in ein besseres Hotel gehen.”
“Das wird toll, glaub mir. Neapel ist wirklich schön. Wenn wir schon mal in Italien sind, dann möchte ich gerne dort hin. Da gibt es ein historisches Bild, was ich mir ansehen möchte. Okay?“
Marys Mundwinkeln zeigten nach unten, es schien als habe sie doppelt so viele Falten als sonst. „Habe ich eine andere Wahl?“
Nach einem Bad, las Vivienne der Mutter den Feuilleton aus der Tageszeitung vor. Danach gingen beide zu Bett. Bei Vivienne dauerte es nicht lange bis sie einschlief. Mary aber bekam kein Auge zu. Sie regte sich immer wieder und wieder über die Managerin des Hotels auf.
Am nächsten Morgen machten sich die Frauen auf den Weg nach Neapel. Nach eineinhalb Stunden Flug kamen sie schließlich an und brachten ihre Sachen ins Hotel. Auf drängen der Tochter, machten sich die Beiden zu Fuß auf den Weg durch die Stadt. Mary taten schon vom Laufen die Beine weh, sie lief immer langsamer. Nach weiteren Minuten Marsch blieb Vivienne endlich stehen und stupste ihre Mutter an.
„Wir sind jetzt in der Gasse ´Via dei Tribunali´. Es kann nicht mehr weit bis zur Kirche sein“ verkündete sie freudig.
Die Gesichtszüge von Mary versteinerten sich. „Wie bitte? Kirche? Ich geh doch nicht in die Kirche!“
„Mama, es geht hier um Kunst, wir sind nicht zum Beten hergekommen. Sei bitte kein Spielverderber. Da vorne ist sie!“
Vivienne lief weiter, Mary folgte ihr widerwillig. Vor der Kirche stand ein Bettler, er fragte nach einem Almosen. Mary sprach perfekt italienisch und knurrte den Mann sofort an: „Wir haben kein Geld!“
Sie hörte das Geräusch klimpernder Münzen. Vivienne war einfach viel zu gut für diese Welt, dachte sie sich und presste wütend ihre Lippen zusammen.
Der Bettler strahlte übers ganze Gesicht: „Gott sei mit euch!“
Mit fuchtelndem Finger begann Mary zu schimpfen: „Gott war nie mit mir! Ich brauche ihn auch in Zukunft nicht!“
Ohne noch etwas zu sagen, ging der Bettler an ihnen vorbei und verschwand im Getümmel.
„Du sollst dein Geld nicht an solche Nichtsnutze verschwenden!“
Mit rollenden Augen schaute Vivienne zu ihrer Mutter rüber. „Du weißt doch gar nichts über ihn. Er sah aus, als könnte er es gebrauchen. Manchmal wünschte ich, dass du etwas netter zu Menschen wärst.“
Wortlos betraten sie die Kirche. Die Schritte der Frauen hallten durch den Raum. Als Vivienne nach ein paar Metern stehen blieb, wurde es still. Man konnte sogar den Atem der jungen Frau hören.
„Wow! Da ist das Altarbild, es ist wirklich wunderschön gemalt! Es ist voller Bewegung. Da ist eine Frau, sie nährt einen Greis, der seinen Kopf durch Gitterstäbe streckt, ...“
Die Worte in Marys Kopf fingen an zu hallen. „Ein Engel - Engel - Engel ...“
Sie sah ein Licht, unglaublich grell, es stach ihr in die Augen, bis sie davon vollkommen eingenommen wurde. Schwebend, als würde sie etwas Unbekanntes mitreißen, gab sie sich dem Gefühl hin. Gassengerüche formten sich zu Fragmenten, verschwommen, bis sich daraus langsam ein Bild zusammenfügte. Ein Bild voller Dramatik und Bewegung: Die sieben Werke der Barmherzigkeit. Bei dem Anblick dieser Vollkommenheit überkam Mary ein Unbehagen, die letzten Jahre ihres Lebens kannte sie keine Barmherzigkeit. Einzig und allein Gefühle wie Geiz, Zorn und Neid hatte sie empfunden. Als sie ihren Kopf vom Bild abwendete und sich zur Seite drehte, schaute sie in Viviennes Gesicht. ´Wie groß ist sie geworden ... Und wie wunderschön sie ist, wie ein Engel ... Meine Tochter ...´
Mit zitternden Händen berührte sie Viviennes Wangen.
Tränen standen ihr in den Augen, als sie flüsterte. „Ich kann sehen!“
Schwindelgefühle rissen sie aus dem Schwebezustand, die Farben verblassten, das grelle Licht verschwand langsam in der Dunkelheit. Ihre Knie wurden weich wie Daunen, etwas zog sie nach unten, bis sie schließlich zusammensackte.
Vivienne sah ihre Mutter am Boden, verzweifelt klopfte sie mit den Händen auf ihr Gesicht. Marys Kopf dröhnte.
Die Rufe ihrer Tochter wurden immer lauter. „Mama, komm schon! Bitte! Wach auf!“
Vivienne nahm ihre Mutter unter den Armen und setzte sie auf eine Bank. Von tiefer Traurigkeit benommen, schwankte Mary mit ihrem Oberkörper hin und her.
„Was war mit dir los? Geht’s dir wieder gut?“
Eine Träne floss über Marys Wange, langsam glitt sie auf dem Boden und zerschellte. „Ich dachte, ich könnte sehen!“, sagte sie kopfschüttelnd.
Ihre Tochter streichelte ihr über die Hand.
„Ich glaube eher, du warst bewusstlos und hast geträumt.“
Die Beiden saßen noch eine ganze Weile in dieser kleinen Kirche in Neapel. Als sie ins Hotel zurückkamen, legte sich Mary ins Bett und dachte die ganze Zeit darüber nach, ob dies ein göttliches Zeichen war.
Sie legte ihre Hand aufs Herz.
„Ich war dir die letzten Jahre keine gute Mutter mehr. Eine mürrische alte Frau bin ich geworden. Es tut mir leid.“
Vivienne setzte sich zu ihr auf die Bettkante. Mary richtete sich auf und nahm ihre Tochter fest in die Arme.
„Ich liebe Dich, mein Engel!“
„Ich liebe dich auch Mama!“