Das Vermächtnis des toten Magiers (1)
Völlige Dunkelheit hüllte ihn ein. Dunkelheit und absolute Stille. Trägheit hielt seinen Körper umklammert, wie die unnachgiebigen Zwingen eines übergroßen Schraubstocks.
Er spürte, dass er auf dem Rücken lag. Starr und steif. Völlig bewegungslos. Die Hände vor sich auf dem Bauch gefaltet.
„Wie ein Toter ...“, sagte er stumm zu sich im Selbstgespräch. „Ich liege hier wie ein Toter in einem Sarg.“
Außerstande, trotz aller Bemühungen, sich zu bewegen, starrte und lauschte er in die tiefe Schwärze hinein, die ihn umgab.
Gähnende, dumpfe Leere auch in seinem Kopf:
Wo bin ich hier? Wie komme ich hierher?
Fragen, auf die er keine Antwort wußte, und die ihm niemand beantwortete.
Dann durchzuckte ihn förmlich das Entsetzen Er konnte sich nicht einmal an seinen eigenen Namen erinnern. Nicht an sich, nicht an seine Person, an nichts, was er mit sich hätte in Verbindung bringen können. Und doch lag er hier. Mit offenbar intaktem Bewusstsein. Und in dem hätte es eigentlich Erinnerungen geben müssen. Egal an was. Aber so sehr er sich auch anstrengte, nichts. Alles, was ihn selbst betraf, war wie ausgelöscht.
Er wußte nicht, wer er war, wie alt er war ... konnte sich nicht an sein Elternhaus erinnern ... oder besaß er vielleicht schon ein eigenes Haus ..? War womöglich verheiratet ..? Kinder ..? Und wieso eigentlich „Er“?!
Wieso nahm er aufgrund seiner Erkenntnis, nichts über sich zu wissen, trotzdem an, ein Mann zu sein? Aber selbst diese Frage konnte er sich nicht beantworten. Er urteilte vom Gefühl her, fand sein Denkschema einfach irgendwie „männlich“.
Doch alles half nichts, er konnte grübeln wie er wollte, das Ergebnis war immer wieder gleich: es gab nichts, das ihn auch nur einen winzigen Schritt in seinen Überlegungen weitergeholfen hätte.
An der Stelle, wo er in seinem Gedächtnis über sich selbst Auskunft finden wollte, gähnte ihm ein pechschwarzes Loch grenzenlosem Nichts entgegen...
Wie aus unendlicher Ferne und wie aus einem riesigen Wattemeer heraus, glaubte er plötzlich eine Melodie zu hören.
Angestrengt lauschend, konzentrierte er sich darauf.
Die Melodie kam ihm bekannt vor. Irgendwie schwermütig, herzergreifend ... und dann wußte er es: Ja, dieses Lied kannte er. Und diese Erkenntnis traf ihn wie ein Schock, schlimmer noch als zuvor, als er feststellte, dass die Erinnerung an sein Ich nicht mehr vorhanden war.
Im gleichen Augenblick erinnerte er sich daran, wo und zu welchem Anlass er dieses Lied zuletzt gehört hatte: während einer Beerdigung!
Jahre waren seither vergangen, aber noch immer spürte er die Wirkung dieses „Ave Maria“, diese herzergreifende Weise, die ihm tief unter die Haut gegangen war...
Da durchlief ein sanftes Schaukeln sein unbekanntes Lager, so als würde man es behutsam davontragen.
Seine Gedanken überschlugen sich, brachten seine frischgewonnenen Erkenntnisse auf einen Nenner und der sprang ihn mit blankem Entsetzen an!
„Um Himmelswillen!“ keuchte es in ihm auf. „Ich liege tatsächlich in einem Sarg. Ich werde für tot gehalten ... Ich ... ich bin auf meiner eigenen Beerdigung!“
Lauthals wollte er aufschreien, wollte... mußte auf sich aufmerksam machen ... das mußte doch möglich sein, hinausbrüllen, dass er nicht tot ist, dass er noch lebte..!
Aber nicht der leiseste Ton kam über seine Lippen, die sich zudem nicht einmal um einen einzigen, winzigen Millimeter öffnen ließen. Panik kroch mit eisiger Kälte in ihm hoch, griff gnadenlos nach seinem Herzen...
Ihr könnt mich doch nicht einfach unter die Erde bringen ... ich lebe doch noch! Hört ihr, ICH LEBE!
So laut es auch in seinen Gedanken schrie, in der kleinen dunklen Kammer, in der er nach wie vor reglos auf dem Rücken lag, war es stiller als in einem leeren Krematorium...
Ein gräßlicher Vergleich! schoß es ihm im selben Moment durch den Kopf. Wieder und wieder versuchte er, sich bemerkbar zu machen. Doch so, wie die Stimme ihm den Dienst versagte, so teilnahmslos blieben auch seine Glieder. Es war unmöglich, sich zu bewegen, so dass er durch kräftiges Schlagen gegen die Umwandung seines makaberen Gefängnisses vielleicht hätte auf sich aufmerksam machen können ...
Die Schaukelbewegungen nahmen zu.
Gedanklich versuchte er sich vorzustellen, wie sie ihn in seinem Sarg, auf einem offenen Wagen liegend, über die Wege des Friedhofs zogen ... minutenlang ... langsam aber sicher ihrem Ziel immer näher kommend.
Dann, ein kurzer Ruck, die Schaukelbewegungen fanden jäh ein Ende.
Er registrierte noch, dass es ihn samt Sarg irgendwie in die Höhe hob ... wie ein kaum merkliches Schweben ... Stillstand ... und dann ...: „Oh Gott nnneeeiiinnn...!“ hallte es noch in seinen Gedanken nach, als er spürte, dass man ihn nun in das ausgehobene Grab hinabsenkte.
Wieder spürte er die eiskalte Hand an seinem Herzen ... ehe ihn das Schicksal in eine nicht mehr denken müssende Ohnmacht fallen ließ..
* * * * *
Eine erschütterte, teils schluchzende und auch haltlos weinende Trauergemeinschaft blieb am Rand des Grabes zurück, als sich der Eichensarg ins Erdreich senkte.
Sechs kräftige Männer ließen an starken Gurten den blumengeschmückten Sarg tiefer und tiefer gleiten. Zogen dann, als der Sargboden den tiefsten Punkt des ausgehobenen Erdreiches erreicht hatte, die Gurte wieder in die Höhe. Danach traten sie diskret ein paar Schritte in den Hintergrund.
Für jede und jeden der anwesenden Trauergäste hatte der Priester, der die Totenmesse gelesen hatte, tröstende Worte.
Blumen und Gebinde folgten dem Sarg ins Erdreich.
Stumm nahm jeder auf seine Weise Abschied von dem Verstorbenen. An diesem Tag gab eine trauernde Mutter ihren Sohn in die Obhut des Allmächtigen ... nahm den bereit gehaltenen kleinen Spaten in die Hand und ließ kraftlos einige Erdstückchen ins Grab rutschen ...
Freunde verabschiedeten auf gleiche Weise einen aus ihrer Reihe zum letzten Mal.
Und als auch die letzten der Trauernden den Platz verlassen hatten, griffen die Totengräber zu ihren Schaufeln und schon bald deckte dunkles Erdreich den eingelassenen Sarg zu ...
* * * * *
Ein unbekanntes Geräusch ließ ihn aufschrecken. Es erinnerte irgendwie an starker Regen, der auf eine hölzerne Platte prasselt. Doch mit einem Schlag wurde ihm klar, was das Geräusch tatsächlich zu bedeuten hatte: Er hörte die ins Grab geschaufelte Erde auf den Sargdeckel niederprasseln!
Die panische Angst, jetzt lebendig begraben zu werden, ließ seinen Körper zittern und beben und doch regte sich nicht ein einziger Muskel an ihm.
Nicht einmal die Augäpfel bewegten sich, von denen er glaubte, sie wie irrsinnig zu rollen ...
Verzweifelt und nach Leibeskräften strengte er sich an, doch noch einen Ton über die Lippen zu bekommen. Nichts.
Aber man konnte ihn doch hier nicht so einfach ...
Ich bin nicht tot, ich bin nicht tot! brüllte er. Aber auch sein panikerfülltes Brüllen fand ebenso nur stumm in seinen Gedanken statt. Nach außen blieb es still. Grabesstille ...
Ungehört verhallte da auch sein stummes, inneres, verzweifeltes Rufen.
* * * * *
In monotoner Abfolge schaufelten die Friedhofsgärtner das Grab zu, bis es randvoll mit Erde angefüllt und abgedeckt war. Dann gingen sie daran, den frischen Erdhügel mit den Kranz- und Blumenspenden zu bedecken
Das Vermächtnis des toten Magiers (2)
folgt in kürze