Kurzgeschichte
Der Strich - eine kurze (Lebens)geschichte

Der Strich

Es war einmal ein Schuljunge, der nahm einen Bleistift und zeichnete einen Strich auf seinen Tisch. Die Mine des Bleistiftes war nicht aus Blei, sondern aus Grafit, aber das machte dem Strich nichts aus.

Der Strich war ungeheuer stolz, denn er war in einer Mathestunde gezogen worden.

Viele Monate blieb der Strich ein Strich und war zufrieden damit, klein und unscheinbar zu sein und trotzdem zum Gefüge des Tisches zu gehören.

Aber manchmal beneidete er auch die Gesichter auf seinem Tisch, die die anderen Jungen so lustig fanden. Diese Jungen sahen ihn gar nicht. Insgeheim war er sogar neidisch auf die eckigen Kreuze, denen noch mehr Aufmerksamkeit zu Teil wurde, wenn auch niemand über sie lachte. Er wollte keins dieser Kreuze sein, aber er beneidete sie.

Eines Tages, während einer Kunststunde, tropfte Wasser auf den Strich. Der Strich merkte, dass er blasser wurde und sich nicht beieinander halten konnte. Da überkam ihn eine nie gekannte Angst.

Zum Glück kam ein Ärmel vorbei und wischte das Wasser weg, was den Strich allerdings auch ziemlich er- und verwischte. Wie froh war der Strich, als er in der nächsten Mathestunde nachgezeichnet wurde und wie viel glücklicher noch, als der Junge diesmal sogar ein Gesicht um ihn zeichnete. Er glaubte der glücklichste Strich der Welt zu sein und da er im neuen Gesicht der Mund, nahm er sich vor, der beste Mund der Welt zu sein.

Den Rest des Schuljahres brachte er Schüler und Lehre zum Schmunzeln und Lachen.

Als das Ende des Schuljahres kam, mussten die Schüler ihre Tische säubern.

Und so verschwanden Strich und Gesicht.

Aber es hat sie gegeben, wie es noch viele geben wird.